Nach fast zwei Jahren Pandemie ist gar nicht mehr klar, was eigentlich genau das Ziel vieler Corona-Maßnahmen sei, sagt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Impfen als einzige Lösung zu propagieren habe sich als „Sackgasse“ erwiesen. Und doch sind strenge Corona-Regeln gerade in linken...
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Fand ich eine interessante Perspektive.
- Vergleich mit Organspende und Blutspende, wozu eine Pflicht undenkbar gewesen wäre. Bei Organspende gab es ja sogar Geschrei, wenn man es nur auf "opt out" gedreht hätte. Note: Ich fände eine Pflicht zur Organspende fast logischer, weil da geht es um Tote.
- Kritik an der Kommunikation der Politik. Insbesondere das Wegreden der Spaltung, das Reduzieren der Gegner auf den extremen Rand und die "trickle truth" von "Risikogruppen schützen" zu "Impfpflicht für alle. Dafür kann man ja Gründe finden, muss es dann aber viel besser und selbstkritischer kommunizieren.
- Minderheitenschutz finde ich immer etwas schwammig. Da wäre mal abseits einer akuten Krise eine Debatte interessant, was das überhaupt heißt. Da sind wir als Gesellschaft ja nicht ehrlich, gerade beim Thema Ideologie. Scientology und Impfgegner werden für Gaga gehalten, große Religionen (die nicht ansatzweise etwas vernünftigeres glauben) aber nicht nur toleriert, sondern teils aktiv in ihrem Quatsch unterstützt.
- Schwierig natürlich in ihrem Artikel das anzweifeln der empirischen Evidenz. Natürlich kann man klar konstatieren, dass eine höhere impfquote gesellschaftlich nützlich wäre rein aus Perspektive der Pandemie. kA, warum sie das reinbringt oder was auch nur damit gemeint ist
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"Sie können nicht mehr ohne Vorkehrungen oder eine Impfung in einen Gerichtssaal, bestimmte Geschäfte, zum Sport oder ins Kino gehen. Das sind juristisch abgesicherte Spaltungen und die Ausgrenzung Nichtgeimpfter. Dass ausgerechnet der Bundeskanzler sagt, das Land sei nicht gespalten, scheint mir Ausdruck einer Realitätsverleugnung zu sein, die ich für hochproblematisch halte."
"Es geht nicht nur um den Impfstatus, sondern auch um die Frage, welche Impfung und wie viele nötig sind. In Deutschland oder Österreich, wo über die Impfpflicht diskutiert wird, lassen verschiedene Indikatoren darauf schließen, dass es sich um eine etwa Zwei-Drittel- zu Ein-Drittel-Verteilung handelt, darunter ist ein kleiner, radikalisierter Rand. Vieles deutet darauf hin, dass sich diese zwei Drittel aufgliedern in einen Teil, der hinter den Maßnahmen steht, und eine agnostische Mitte, die sich aus Gleichgültigkeit oder Zermürbtheit dafür ausspricht. Viele hoffen, damit ihre Freiheit zurückzubekommen, wie es euphemistisch heißt."
"Scholz spricht von einer vernünftigen Mehrheit. Damit okkupiert er den Begriff der Vernunft für die Gruppe derer, welche die Pandemie-Politik befürworten. Das ist aus mehreren Gründen falsch. Es ist immer problematisch, anderen die Vernunft abzusprechen. Die Kritiker sind zudem keine Minderheit, dazu ist die Gruppe inzwischen zu groß. Und selbst wenn sie es wäre, so unterstünde sie dem Minderheitenschutz, der in diesem Land gilt. Würde man einer anderen Randgruppe plötzlich jegliche Rechte absprechen oder sie moralisch so verunglimpfen, wie es derzeit mit den Nichtgeimpften geschieht, würde die gesamte Linke Zeter und Mordio schreien."
"Die Impfpflichtkritik reicht bis weit ins bürgerliche Lager, und zwar parteiübergreifend. Es gibt zahlreiche Aufrufe von Ärzten oder Rechtsanwälten, nicht nur auf dubiosen Telegram-Kanälen, sondern auf Webseiten im gesamten politischen Spektrum von konservativ bis links. Dafür sprechen auch die sogenannten Montagsspaziergänge mit gemischten Teilnehmern."
"All diese vielfältigen Gruppen als radikalen Rand oder nicht ernst zu nehmende Minderheit zu bezeichnen, ist Unsinn."
"Sprecher und Argument müssen in dieser Debatte wieder getrennt werden, wie es in einer Demokratie üblich ist."
"Die Linke und ihre Wählermilieus sind schnell auf den Pfad der Maßnahmentreue eingestiegen. Dieser für sie eher ungewöhnliche Staatsgehorsam schlug seine Wurzel im Argument der Solidarität zu Pandemiebeginn. Solidarität ist ein linkes Ideal, es grenzt sich zur konservativ und liberalen Eigenverantwortung und Eigenständigkeit ab." (...) "Im Grunde wurde eine primär soziale Solidarität umgedeutet auf Solidarität im Gesundheitsbereich."
"Ich halte jede Einordnung der Pandemiepolitik in ein Rechts-Links-Schema für verfehlt. Was ist denn links oder rechts an diesen Maßnahmen?"
"Aufschlussreicher ist es, auf die Gewinner-Verlierer-Bilanzierung der Maßnahmen zu schauen. Da kann man nüchtern analysieren, dass die sozialen Verwerfungen zugenommen haben und dass das untere Quintel, eigentlich klassische Zielgruppe linker Politik, am meisten gelitten hat. Nach allem, was wir heute wissen, sind vor allem die Kinder und Jugendlichen am stärksten betroffen, obwohl sie selbst am wenigsten durch Corona gefährdet waren. Ich würde es auch nicht sozialdemokratisch, sondern eher Neopuritanismus nennen, wenn ein strahlender Gesundheitsminister Karl Lauterbach Kinder vor laufender Kamera impft."
"Der Körper der Menschen wird jetzt in den Bereich der Solidarität einbezogen, wenn man sich aus Pflicht für das Gemeinwohl impfen lassen soll – übrigens auf immer noch strittiger empirischer Grundlage, was den gesellschaftlichen Nutzen anbelangt. Der eigene Körper war einmal die Grenze des Politischen, wenn man an die progressive, emanzipatorische Forderung Mein Bauch gehört mir zurückdenkt."
"Keine Politik ist alternativlos. Es war aus meiner Sicht der Kardinalfehler, dass die Politik sich angemaßt hat, ein Virus, also eine Naturgewalt, bekämpfen zu wollen, quasi Krieg gegen ein Virus zu führen und im selben Atemzug auch noch Angst zu schüren."
"Es entstand eine autoritäre Versuchung, die heute die Gesellschaft gespalten hat, weil sich zumindest eine Pluralität dagegen wehrt. Der Rekurs auf die Wissenschaft, im Singular, musste notwendigerweise zu verabsolutierten, nicht differenzierten Lösungen führen. Wissenschaft ist ein Diskurs, keine eindeutige Handlungsanweisung. Indem Impfen als einzige Lösung propagiert wurde, hat man sich spätestens in dem Moment in eine Sackgasse manövriert, in dem klar wurde, dass die Impfung, so gut sie sein mag, nicht der erwartete Gamechanger wurde."
"Natürlich steckte kein Plan dahinter. Aber was wir seit nunmehr zwei Jahren beobachten, ist wohl The law of unintended consequences, das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen. Die Maßnahmen scheinen sich verselbständigt zu haben. Es ist nicht einmal mehr klar, was eigentlich das Ziel ist. Die Impfpflicht? Die Vermeidung von Triage? Die Kontrolle des Infektionsgeschehens?
Zu Beginn ging es um den Schutz vulnerabler Gruppen, heute geht es um eine Impfpflicht für alle, obwohl sie ausgeschlossen wurde. Das ist eine beachtliche Verschiebung von Zielsetzungen, immer unter dem Imperativ des absolut Notwendigen. Dafür ist nicht das Virus verantwortlich, sondern die Regierung."
"Es geht um den eigenen Körper als Grenze der Solidarität. Das wird vielfach als Egoismus oder als unzulässige Freiheitsliebe gewertet. Man kann man es aber auch als Ausdruck unveräußerlicher Menschenwürde werten, dass der Körper tabu ist und nicht für einen gesellschaftlichen Zweck instrumentalisiert werden darf. Zumal inzwischen erhärtet ist, dass durch eine Impfpflicht weder eine sterile Immunität noch Herdenimmunität erreicht wird, der Zweck also nicht einmal erzielt wird."
"Dabei kommt jetzt das Recht auf körperliche Unversehrtheit auf den Prüfstand. Das gab es so noch nicht. Niemand darf zur Organspende oder zur Blutentnahme gezwungen werden, auch nicht, wenn damit das Leben eines anderen gerettet werden könnte. Niemand kann zur Solidarität gezwungen werden. In einem Rechtsstaat beschränkt sich die Pflicht auf die Einhaltung des Rechts."
"Mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit und Gerichtsbarkeit sind wir schon tief gefallen, lange bevor der Kanzler sagte, es gebe keine roten Linien mehr, einen Satz, den ich persönlich höchst bedenklich finde. Die Menschenwürde ist eine rote Linie, auch Folter ist verboten und durch nichts zu rechtfertigen, auch nicht durch Not. Artikel 104 zum Beispiel regelt, dass Freiheitsentzug nicht cum grano salis, sondern immer nur individuell und begründet vorgenommen werden darf. Es gibt hohe Hürden, jemanden zu entmündigen." --- "De facto ist eine gesamte Gesellschaft entmündigt worden."
"Derzeit wird eher Moral gegen Recht gestellt. Die Not und der konsekutive moralische Druck der Lebensrettung dienen als permanenter Verweis darauf, dass alles an Restriktionen erlaubt ist. Wir müssen nun mühsam Dinge zurückholen, die einmal selbstverständlich waren, etwa, dass Impfen Privatsache und freiwillig ist - auch zur Masernimpfung hat das Bundesverfassungsgericht noch nicht abschließend entschieden."
"Doch die eigentliche Katastrophe scheint mir, dass der Zustand ex ante, wie es einmal war, schon nicht mehr als normal empfunden wird. Viele haben sich längst mit Dingen abgefunden, die eigentlich eine Zumutung sind. Sie akzeptieren, dass man nur noch mit einem bunten Bändchen auf einen Weihnachtsmarkt darf und sich für Grundrechte durch Gesundheit qualifizieren muss."
"Die Diskussion wird in den nächsten Wochen noch einmal an Fahrt aufnehmen, das erleben wir ja gerade. Langsam kristallisiert sich für viele heraus, dass Freiheit keine Schönwetter-Zugabe für ruhige Zeiten ist, sondern ein Prinzip, dass gerade in Krisensituationen verteidigt werden muss. Freiheit ist ein unveräußerliches Prinzip, nicht etwas, was man je nach Situation zuteilen und entziehen kann."
"Es braucht eine differenzierte Einschätzung der realen Gefahr, einen Abbau der überhöhten Angst, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Gesprächsbereitschaft.
Gift ist dagegen, gegen Ungeimpfte zu moralisieren, sie zu drangsalieren oder aus der Solidargemeinschaft der Krankenkassen zu entlassen, was ja gerade die jüngste Sau ist, die durchs mediale Dorf getrieben wird. Solche Diskussionen führen eher in die Aufkündigung der Republik als in ihre Aussöhnung."