Dass Begriffe je nach Kontext eine unterschiedliche Bedeutung annehmen, hat nichts mit Schlampigkeit zu tun, sondern ist einfach, wie unsere Sprache funktioniert.
Das gilt grundsätlich auch für die Wissenschaft, obwohl der Drang nach Vereinheitlichung von Begriffen da naturgemäß stärker ist, aber auch das geht halt nur in gewissen Grenzen.
Im Übrigen übersehen sowohl tzui als auch du, dass das herkömmliche Konzept von Herdenimmunität durchaus mit dem, was Drosten schildert, verträglich ist, nur eben nicht mit einer radikalen Form davon (Ungeimpfte genießen auf Dauer vor der Infektion). Man schaue sich die Definition an, auf die tzui sich beruft (s.o.):
Von Herdenimmunität, auch Herdenschutz oder Gemeinschaftsschutz, spricht man, wenn eine Gruppe von Personen oder Tieren davor geschützt ist, dass aus der Infektion von wenigen die Ansteckung von vielen weiteren resultiert. Sie wird erzielt, wenn so viele in der Gruppe durch Impfung (oder frühere Erkrankung) immun gegen die Krankheit geworden sind, dass jede Infektionskette schnell wieder abbricht. So kann sich die Krankheit nicht weiter ausbreiten und auch Nicht-Geimpfte sind geschützt.
Wenn
jede Infektionskette schnell wieder abbricht, dann würde das unweigerlich dazu führen, dass die Krankheit sich nicht mehr verbreitet und letztlich ausstirbt. Genau das will tzui aber gar nicht gemeint haben. Frage: Was hat er gemeint?
Das müsste ja ein Zustand sein, in dem Ungeimpfte zwar dauerhaft geschützt sind - was die Definition suggeriert -, andererseits aber die Krankheit trotzdem nicht ausstirbt, also weiter zirkuliert. Was merkt man? So einen Zustand kann es nicht geben.
Mit anderen Worten: Das Konzept des Herdenschutzes ist in jedem Szenario, wo wir es nicht mit einem Aussterben des Erregers zu tun haben, relativ in dem Sinne, dass der Herdenschutz graduell verläuft und Ungeimpften nur einen gewissen Schutz gewährt für eine gewisse Zeit.
Drosten sagt nun, dass den aller meisten Experten von Anfang an klar war, was er auch gesagt hat: Dass SARS CoV 2 höchst wahrscheinlich endemisch wird, sich also früher oder später jeder - übrigens egal, ob Geimpft oder Ungeimpft - mit dem Virus infizieren wird - nur wird die Infektion bei zuvor Geimpften im Mittel später stattfinden und/oder deutlich milder verlaufen.
Trotzdem ergibt der Begriff des Herdenschutzes hier einen Sinn, weil auch Ungeimpfte einen gewissen Schutz im obigen Sinne genießen: Es wird deutlich länger dauern, bis sie sich infizieren. Im Endeffekt nützt ihnen das natürlich nichts, wenn wir unterstellen, dass die Chance sich überhaupt zu infizieren trotzdem nahe 1 bleibt und jeder Ungeimpfte sich per se niemals impfen lassen will.
Was bedeutet das nun dieser graduelle und relative Charakter des Herdenschutzes für die Verwendung des Begriffs? Ab welcher Wahrscheinlichkeit P mich als Ungeimpfter innerhalb, sagen wir, eines Jahres mit Krankheit xy zu infizieren wollen wir von Herdenschutz sprechen? P = 0 wäre schön, ist aber äquivalent dazu, dass die Krankheit ausgerottet ist - solange eine Krankheit existiert, kann ich mich mit positiver Wahrscheinlichkeit infizieren. P = 1 entspricht der Situation einer Pandemie, die innerhalb eines Jahres die komplette Weltbevölkerung infiziert. Wo dazwischen liegt nun eine sinnvolle Schwelle, ab der wir sagen wollen, dass Herdenschutz da ist?
Eine intuitiv einleuchtende und theoretisch sehr exakt zu bestimmende Schwelle ist der Zustand, in dem die Reproduktionszahl allein durch Bevölkerungsimmunität, also in Abwesenheit von NPIs, unter 1 sinkt. Das ist genau die Schwelle, die Drosten meint, wenn er den Begriff verwendet und entgegen tzuis Behauptung scheint er damit keineswegs ein Außenseiter zu sein:
Today, the herd immunity threshold is generally agreed to be the proportion of the population that needs to be immune to tip a disease into decline. It occurs when the “typical” person goes on to infect fewer than one other person as a result of naturally acquired or vaccine-induced immunity, explains evolutionary biologist Katrina Lythgoe at the University of Oxford in the United Kingdom.
https://www.pnas.org/content/118/21/e2107692118
(Ist jetzt natürlich nur ein Übersichtsartikel in einem der angesehensten Wissenschaftsjournals der Welt.)
Die Verwirrung kommt zustande, wenn man die rein semantischen Frage "Was verstehen wir unter Herdenimmunität?" mit der empirischen Frage vermischt: "Was passiert mit Sars CoV 2?"
One key point is that the “end” of the pandemic likely will not mean the end of the virus. Few scientists think eradication of SARS-CoV-2 is possible in the foreseeable future. Many, including epidemiologist Lavine, believe instead that the virus will eventually be tamed through some combination of naturally acquired and vaccine-induced resistance, which doesn’t drive SARS-CoV-2 out of sight but rather turns it into a more benign disease and just another endemic, cold-causing coronavirus.
Diese Position hat Drosten afair von Anfang an vertreten. Und wenn Drosten sagt, dass der Begriff Herdenimmunität häufig missverstanden wird, dann interpretiere ich ihn so, dass häufig (bspw. von tzui) in den Begriff hineingelesen wird, dass so ein Zustand notwendigerweise dauerhaft sein müsse und damit auch Ungeimpften einen dauerhaften Schutz gewähre - was natürlich nicht stimmt und auch von ihm nie behauptet oder für wahrscheinlich erachtet wurde.
Und trotz alledem ergibt es natürlich weiterhin Sinn, wenn diverse Artikel, das RKI und Leute wie Lauterbach sagen, dass wir Herdenimmunität wahrscheinlich
nicht erreichen, weil sie damit eben genau jenem Missverständnis entgegen treten wollen: Dass Ungeimpfte dauerhaft durch die Immunität der anderen geschützt werden können.