Ok, also sind instutionelle Probleme leider unbehebbar, muss ja ein tolles System sein. Scherz: natürlich hätte man, wenn man gewollt hätte, alles entsprechend ändern können. Es liegt am Wollen, nichts anderes. Das GG wurde seit 1949 übrigens ganze 60 mal geändern. Ich habe den Eindruck, dass du die Politik irgendwie für gar nichts in die Verantwortung nimmst, als eine Art Gegensteuerung gegen die Menschen, die alles der Politik zu schreiben. Das ist aber eine ziemliche Überkompensation.
Du verstehst anscheinend Null, wovon ich rede. Jede Verfassung ist Kontingent gegenüber den Institutionen, sie kommt ja nicht aus dem luftreeren Raum. Unsere Verfassung sieht so aus, wie sie aussieht, weil das Ende der 40er der Stand der Dinge war und wird Zug um Zug weiterentwickelt, um sich der veränderten Lage von heute anzupassen. Aber hier und da die Verfassung per Grundgesetzänderung oder BVerfG-Neuauslegung zu ändern verändert kein Staatsgefüge. Es gibt ein hervorragendes Buch von
Paul Pierson, wo er in Fallstudien nachgezeichnet hat, wie in den USA und dem UK konservative Regierungen versucht haben, den Wohlfahrtsstaat zurückzubauen. Das hat, trotz aller Beteuerungen, in beiden Ländern nur mäßig gut geklappt; insbesondere im UK, der ja quasi bei Parlamentsmehrheit keine Vetoplayer hat, sollte einem das zu denken geben was machbar ist, wenn man einen echten Politikwechsel vollziehen will. Stell dir vor, hier würde eine Partei (oder sagen wir eine Koalition) versuchen, den Sozialstaat auf US-Niveau zurückzubauen, weil sie glaubt das würde die Wirtschaft stärker ankurbeln. Kannst du dir vorstellen, wie gut das ungefähr laufen würde? Warum leben die USA dann seit Ewigkeiten mit einem solchen sozialen Netz? Weil die Bevölkerung es nicht will? Umfragen sagen seit langer Zeit das Gegenteil.
Die Politik hat nicht "für nichts" die Verantwortung, aber es ist halt einfach schwierig, "der Politik" grosso modo irgendwas zuzuschreiben und das siehst du auch in der Realität. Das ist übrigens mittlerweile zigfach belegt: In so ziemlichen allen demokratischen Staaten der Welt ist belegt, dass DER beste Indikator für deine Wiederwahlchance das Wirtschaftswachstum ist. Gleichzeitig ist sich die Wirtschaftswissenschaft weitestgehend einig, dass die Möglichkeiten der Politik in so kurzfristigen Zeiträumen wie einer oder zwei Legislaturperioden nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu stimulieren extrem gering ist. D.h. die Leute rechnen "der Politik" etwas als Gewinn und Verlust zu, was gar nicht wirklich in ihren Möglichkeiten ist.
Ganz genau. Und wer ist dafür verantwortlich?
Das ist als würdest du fragen wer dafür verantwortlich ist, dass Europa reich ist und Afrika arm. Da kannst du so viele Faktoren finden, angefangen von völlig exogenen Faktoren (in Afrika ist Binnenschifffahrt kaum möglich weil alle Nase lang die Inlandsflüsse riesige Höhengefälle haben) bis hin zu komplett endogenen (heute ist es um ein Vielfaches leichter, eine gute Bildung zu bekommen, wenn du als Spanier geboren wirst als als Somalier). Lies mal die Gesellschaftsgeschichte von Wehler und du wirst sehen, dass die hohe Regelungsdichte schon im 19. Jahrhundert ein deutsches Phänomen war. Im Vergleich zu "der Kaiser/Fürst/Stammeshäuptling sagt, was Sache ist" ist das ja auch eine gute Sache. Aber gerade in einer immer weiter globalisierten Welt stoßen regelbasierte Systeme halt schnell an ihre Grenzen, weil im Zweifelsfall niemand da ist, um die Regeln auch durchzusetzen.
Bestes Beispiel ist die ganze Impfstoffgeschichte mit dem UK: Ich garantiere dir dass absolut NIEMAND in der EU jemals einen Vertrag unterschrieben hat, der eindeutig sagt dass Europa gegenüber dem UK als nachrangiger Käufer zu behandeln ist. Wie so oft hat die EU auf den freien Markt vertraut und hat gerade vorgeführt bekommen, dass den im Fall der Fälle eben niemand garantiert. Was bringen einem in so einem Fall Regeln? Was würde es helfen, jetzt AZ zu verklagen? Dadurch würde man keine Impfstoffdose mehr bekommen und AZ könnte für die Schäden sowieso nicht haften. Der UK fühlte sich einfach nicht an dieselben Regeln gebunden und deshalb haben die jetzt 48 Impfdosen pro 100 Menschen verimpft, die EU aber nur 15. Hätte die EU sich genauso verhalten wie der UK wären es 25, dafür stünde der UK bei 18 (und ein paar andere Länder bei Null).
LuL ist es jetzt Aufgabe von Juristen globale Krisen zu meistern? Hä? Welchen Beitrag leisten denn, keine Ahnung, Fahrlehrer oder Ökontrophologen? Was ist das denn für ein Argument. Und im Übrigen: nein, das merke ich nicht. Sie leisten nämlich doch eher mehr als der Durchschnittsberuf, allerin durch die Forschung und Implementierung von Maßnahmen gegen Umweltzerstörung, Steuervermeidung, Sklavenarbeit usw.
Wie viele Fahrlehrer und Ökotrophologen glaubst du denn gibt es so im Bundestag? Als Führungskräfte in obersten deutschen Bundesbehörden? Mir ist jedenfalls kein Fahrlehrermonopol im Verkehrsministerium aufgefallen so wie es lange ein "Juristenmonopol" überall sonst gab. Auch ist mir nicht bekannt, dass es einen ganze Staatsgewalt gibt, in der nur Fahrlehrer arbeiten.
Was meinst du denn, wer in den ganzen Ministerien und bei der Kommission verschiedene Modelle/Vorschläge /Entwürfe ausarbeitet, wie man nun z.B. globale entwaldungsfreie Lieferketten gesetzlich festzurrt oder sowas wie ein Klimabkommen auf die Beine stellt? Wie man Steuerschlupflöcher schließt und was meinst du eigentlich, wer dafür gesorgt hat, dass der Staat relativ pragmatisch und unbürokratisch mal eben zig Mrd. € Rettungspakete innerhalb weniger Monate fließen lassen konnte? Ja stell dir vor, das waren sogar nicht nur die "guten Juristen" aus dem ÖD, sondern so böse Großkanzleianwälte wie ich, die an rechtssicheren Beihilemaßnahmen gearbeitet haben, damit die Menschen nicht auf der Straße landen, weil eine LH keine 2 Wochen später pleite gewesen wäre. Klar klappt das mal besser mal schlechter, aber als ob deine Zunft da so einen stark größeren Beitrag leistet, würde ich gerne mal nachgewiesen sehen.
Und dir ist noch nie der Gedanke gekommen, dass diese ganze Expertise nicht vielleicht deshalb gebraucht wird, weil die Regelungstiefe in Deutschland so groß ist? Oder warum Länder wie alle Skandinavier mit maximal halb so vielen Anwälten pro Kopf auskommen wie wir, während traditionell organisatorische Wunderkinder wie Italien, Spanien und die USA doppelt so viele haben? Ich will jetzt nicht behaupten, dass diese Zusammenhänge kausal sind, das wäre albern, aber zumindest ist es durchaus möglich, ein Gesellschaftssystem mit weniger hoher Regulierungsdichte zu gestalten, das trotzdem vernünftig läuft. Der Rest ist, vornehm ausgedrückt, vermutlich maximal Wegelagerei. Auch würde ich wohl darauf wetten (auch wenn ich es nicht nachgeschaut habe), dass in den allermeisten Ländern der Welt oberste Bundesbehörden auf der Fachebene eben nicht zu 60% von Juristen geleitet werden, weil es dort eben nicht schon Usus war, dass man, wenn man in den preußischen Verwaltungsdienst einsteigen wollte, jahrelang kostenlos für den preußischen Staat arbeiten wollte, bis man denn eine Stelle bekam. Das reproduziert natürlich eine bestimmte Klasse in Führungsfunktionen, die ein Verständnis davon herausbildet, wie wichtig sie für den Staat sind. Das hat sich garantiert bis in die frühe BRD gehalten, wenn nicht länger.
Im Übrigen: Ich bin nicht sicher was meine Zunft jetzt genau ist, weil ich mittlerweile mehr Statistik als irgendwas Substantielles mache, aber ich würde mal jede Wette mit dir eingehen, dass die Juristen im ÖD ohne das Wissen der Ökonomen vermutlich heute noch darüber sinnieren würden, was das Grundgesetz denn genau über makroökonomische Zusammenhänge sagt*. Falls irgendwo bei euch in der Großkanzlei Leute rumlaufen, die genügend Sachverstand haben, um makroökonomische Zusammenhänge so zu erklären, dass man einschätzen kann, ob Nothilfen überhaupt gezahlt werden sollten oder nicht, erscheint mir jedenfalls bestenfalls fragwürdig.
*fun fact: Antwort ist erhellend einfach, nämlich nichts wofür man sich interessieren sollte. Makroökonomie war in Deutschland, mit Ausnahme weniger Lichtblicke, bis Ende des 20. Jahrhunderts völlig abgehängt
Ja und? Big Woop: in Katastrophenfällen ist Rechtsstaatlichkeit zweitrangig, krasse Erkenntnis. Nur wollen wir halt nicht dauerhaft im Katastrophenmodus leben und da sind verlässliche Gesetze in einem zivilisierten Land halt ziemlich nett. Denn - und das ist nicht meine Meinung, sondern wird von viel klügeren Menschen vertreten - verlässliche, rechtsstaatliche Institutionen sind DER Hauptgrund dafür, dass einige Nationen erfolgreich sind und andere nicht. Und ein konsitutives Merkmal dieser Institutionen ist, dass nicht jeder kleine Besserwissen nach Gutdünken machen kann wie er will, weil er meint, dass er ja so ein cooler Pragmatiker ist, den man bitte nicht mit Vorschriften nerven muss.
Gegen "verlässliche Gesetze" ist nichts zu sagen. Aber wenn du halt glaubst, alles mit einem Gesetz regeln zu müssen, damit auch noch im letzten Winkel Deutschlands Einzelfallgerechtigkeit herrscht, dauert halt alles lange. Und wie gesagt: Ich finde das auch gar nicht SO schlimm, der größte Teil der Probleme, mit denen Politik tagtäglich so zu tun hat brauchen eh keine Hauruck-Lösungen, sondern sind eher das webersche starke Bohren dicker Bretter, aber es ist ja jetzt, wie du selbst sagst, auch keine bahnbrechende Erkenntnis dass es in Krisensituationen anders ist.
Ich habe kein Problem mit Juristen. Ich glaube bloß nicht, dass Leute, die nach meiner Erfahrung extrem regelfixiert denken, in Leitungsfunktionen überrepräsentiert sein sollten. Im Übrigen glaube ich das auch für Sozialwissenschaftler oder Statistiker nicht. Juristen machen einen wertvollen Job, aber sie sind, genau wie Ökonomen oder Statistiker oder Bauingenieure, nur ein Mittel zum Zweck. Mir ist aber zunehmend aufgefallen, seit ich aus Deutschland weg bin, dass unheimlich viele Juristen in Deutschland Regeln mindestens teilweise für den Zweck selbst halten. Letztendlich ist die Gleichung in meinen Augen ganz einfach: Umso mehr Einzelfallgerechtigkeit man will, umso höhere Regelungstiefe braucht man. Umso höher die Regelungstiefe, umso länger dauert die Ausführung.
@SFJunky: Ich wollte jetzt auch in keinem Wort sagen dass ich es gut fände, den Tanker gerade JETZT JETZT JETZT zu drehen. Ich sage bloß dass sich für das, was hier angesprochen ist, nach der Krise vermutlich die Begeisterung wieder in engen Grenzen halten wird. Vielleicht habe ich ja Unrecht, aber so ziemlich alle Krisen die mir aus meinem Erwachsenenleben in Erinnerung sind sind so verlaufen. Ich sehe einfach nicht, wie das Problem des langsamen Staats ohne echte fundamentale Änderungen verschwindet, zu denen die meisten Leute überhaupt nicht bereit sind. Das wird mit ein paar Grundgesetzänderungen und es Scrum Master Zertifikate regnen lassen nicht verschwinden.
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Ich bin ein bisschen erstaunt, wie ich die ganze Zeit nur von Tübingen höre, aber nicht von Rostock. Ich weiß jetzt nicht, WIE ähnlich sich die Öffnungskonzepte dort sind, aber a priori erscheint mir die Stadt mit doppelt so vielen Einwohnern aussagekräftiger zu sein und da sind die Inzidenzzahlen diese Woche in die Höhe geschossen. Bis vor einer Woche immer unter 30, fast durchgehend auch unter 25, jetzt bei 51.