Zuallererst freut es mich ja, dass hier endlich wieder etwas Musik drin ist.
Und genau das ist doch das Problem: Viele Bürger Europas wollen das nicht. Es ist auch total bescheuert, diese Dinge willkürlich zu verketten, obwohl sie problemlos einzeln machbar wären.
Eine Freihandelszone mit tollem Binnenmarkt will jeder (außer total verrückten Kommies, aber die können wir mal ignorieren), aber dazu braucht man den ganzen politischen Unfug einfach nicht. Die EU primär als Wirtschaftsunion und alles, was darüber hinausgeht, komplett freiwillig und ohne Zwang, insb. ohne Nachteile bei der Wirtschaftsunion, ist und war schon immer das weit überlegene Modell.
Muss ich leider komplett quoten.
- Die meisten Bürger der EU wollen die EU genau so lange nicht, bis sie merken was sie verlieren wenn sie plötzlich nicht mehr da ist. Ein halbwegs aktuelles Beispiel liegt auf einer Insel in der Nordsee. Dass man sich auf die vier Grundfreiheiten geeinigt hat ist sowohl sinnvoll als auch ein Kompromiss. Die einen Länder wollten vor allem A und B, die anderen B und C, am Schluss einigte man sich auf A,B,C,D und alle waren zufrieden. Das nennt sich dann Politik. Das was man am ehesten aus begründbaren Motiven einschränken könnte wäre die Kapitalverkehrsfreiheit, und zwar weil sie auch stark destruktive Effekte haben kann welche auf (wichtig) die Entscheidungen weniger zurückgehen. Die Personenfreizügigkeit zu beschränken wäre eine Entscheidung gegen die Bevölkerung, gegen die Völkerverständigung und für die Konzerne, weil diese dadurch sattsam Arbitragegewinne machen könnten. Etwas asozialeres gäbe es kaum, ebenfalls mit dem Effekt, dass dann viele Menschen genau dies (zu Recht) an der EU kritisieren würden.
- Nur nein. Nur Handel allein reißt es halt nicht raus. Die EU war von Anfang an ein Friedensprojekt und zwar Frieden durch Austausch _und_ Handel. Wer das nicht erkennt disqualifiziert sich selbst.
- Nein, was sollen bitte die Vorteile einer reinen Freihandelszone sein? Handel bedingt immer auch die Anerkennung bzw. Akzeptanz von Standards. Da eine übergeordnete Organisation zur Verständigung zu schaffen ist nur folgerichtig und effizient. Du stellst Dir das viel zu einfach vor, siehe nächste Antwort.
Übrigens ist Freihandel ohne Zölle auch nicht das gleiche wie der Europäische Binnenmarkt. Ich hatte soweit ich mich entsinne auch schon darauf verwiesen. Just saying.
Was Zwang angeht … Ich glaub es hackt!? Nenne mir bitte auch nur ein einziges Land welches dazu gezwungen wurde der EU beizutreten. Wenn ich mich recht entsinne wurde sogar nicht einmal das UK dazu gezwungen. Es besteht sogar eine recht lange Liste an Ländern die gerne Mitglied im Club wären. Und das auch _nachdem_ offensichtlich war in welche Richtung, nämlich engere Integration, es sich bewegt. Es ist vielmehr so, dass alle Änderungen über die wirtschaftliche Zusammenarbeit hinaus das Ergebnis langer Verhandlungen waren und vollkommen ohne "Zwang" geschehen sind. Anders sind völkerrechtliche Verträge nämlich ohnehin nicht möglich. Klar wird es bei den Verhandlungen auch mal so gewesen sein, dass jemand gesagt hat "wenn du nicht A, dann ich nicht B", aber zu fordern, dass es ohne hartes Verhandeln ginge wäre einfach nur grotesk weltfremd.
[…]
Was ist in Bezug auf die EU das Analogon zu den Kosten für die Sporthalle - Subventionen für Landwirtschaft und strukturschwache Regionen? Ich sehe nicht, warum die für freien Warenverkehr notwendig wären - wohl aber, warum die Sporthalle zum Sporttreiben notwendig ist.
Es sind vor allem Verwaltungskosten. Eine gemeinsame Koordination und Rechtsprechung in vielen Dingen muss auch verwaltet werden. Menschen müssen sich abstimmen und Kompromisse machen. Ich arbeite aktuell in einem Forschungsprojekt in dem ich regelmäßig mit der EC/REA Kontakt habe. Da gibt es eben ein Gebäude in Brüssel (Covent Garden) in dem nur Leute sitzen die EU-geförderte Forschungprojekte managen und sicherstellen, dass die Kohle nicht für Koks und Bitches rausgehauen wird. Meine aktuelle Arbeit für Geld beschäftigt sich letztendlich genau damit sicherzustellen, dass dieses Forschungsprojekt ordentlich gemanaged und dokumentiert wird, damit keine unnötigen Prüfungen stattfinden. Außer mir sind damit noch zwei andere jeweils in 50% Teilzeitstellen beschäftigt. Verwaltung kostet Zeit und somit Geld.
(Im Umkehrschluss ist es deswegen natürlich völlig legitim eine schlanke (aber effiziente und wirksame) Verwaltung zu fordern, denn sie kostet viel Geld!)
Grob über den Daumen betragen die Ausgaben der EU (inklusive Fördergelder) pro Jahr und Einwohner 320 EUR (2018). Zum Vergleich: In Deutschland geben wir für die Verwaltungstätigkeit des Bundes (exklusive Ausgaben der Länder und exklusive alle Sozialleistungen im Bereich Arbeitslose/Sozialhilfe) pro Person und Jahr aktuell 2440 EUR pro Nase aus. (Inklusive Arbeit & Soziales sind es ca. 4150 EUR).
Die Zulassung von Medikamenten, die Überwachung von Banken, … es gibt eine lange Liste von Dingen die dort koordiniert werden. Es erscheint mir irrig anzunehmen, dass sowas "einfach so" funktionieren könnte. Auch für NAFTA gibt (bzw. demnächst gab) es einen Haufen Menschen die sich nur mit der Einhaltung und Überwachung der Regeln beschäftigt haben. Dasselbe gilt auch für andere Bündnisse und Verträge. Zum Beispiel verlangt (meines Wissens zumindest) auch niemand, dass die NATO kein Geld kosten darf. Auch das würde nicht einfach kostenlos funktionieren wenn man den Vertrag geschlossen hat.
Was heißt es denn überhaupt, dass die Briten "nicht zahlen wollen"? Was wollen sie denn nicht zahlen? Was sind die Kosten des gemeinsamen Binnenmarkts? Was sind die Kosten des freien Warenverkehrs? Warum sind die vier Grundfreiheiten untrennbar? Ist das ein Naturgesetz?
Man könnte dir imo leichter folgen, wenn du auf solche Fragen eingehen würdest.
Die Briten wollen ihren vertraglichen Anteil der o.g. Verwaltungskosten nicht bezahlen, aber trotzdem von der Verwaltungs- und Koordinationsarbeit profitieren. Wie man eben von der Organisationsleistung des Vereins profitiert wenn man mitmacht, weswegen man nach ein zwei Probetrainings üblicherweise ein Beitrittsformular in die Hand gedrückt bekommt. Wenn man die Vorteile will muss man zahlen.
Darüber hinaus wollen die Briten übrigens auch gegenüber ihren eigenen Staatsbürgern, welche in gutem Glauben als EU-Beamte nach Brüssel gegangen sind, nicht ihre Pensionszusagen einhalten, sondern den Unterhalt dieser Menschen die Rest-EU tragen lassen. Man kann es ruhig als schäbig bezeichnen, dass sie da ihre eigenen Leute als Verhandlungsmasse benutzen.
Ein weiteres Beispiel: Wenn man sich mal an die Grenze zwischen Belarus und Polen stellt und misst wie viele Stunden ein Laster dort steht bevor er über die Grenze darf, dann bekommt man eine gute Vorstellung davon was es wert ist im Binnenmarkt zu sein: Jede Stunde die der LKW steht, verdient er kein Geld. Jede Stunde muss der Fahrer bezahlt werden. Jede Stunde wird der Kunde ungeduldiger. Jede Stunde kostet der LKW weil er abbezahlt werden will. All das geht nur wenn möglichst kein Stillstand ist. Zwischen EU-Staaten stehen maximal ein paar gelangweilte Zöllner an der Grenze und schauen ob zufällig jemand der auf der Fahndungsliste steht dumm genug ist in einem bekannten Auto die Grenze zu überqueren. Wenn überhaupt.
Im Binnenmarkt zu sein ist also, bei Wartekosten von angenommenen 10 EUR pro Lastwagen pro Stunde (was niedrig ist), bei einer angenommenen Wartezeit von einer Stunde (was niedrig ist), ziemlich genau 10 EUR pro Grenzübertritt. Die Anzahl der Grenzübertritte ist zwischen nahezu jedem Land befindet sich im Millionenbereich. Allein das LKW-Tunnel-Shuttle zwischen England und Frankreich haben im ersten Halbjahr 2016 etwa 1 Mio. LKWs genutzt. Zwischen Deutschland und Polen dürfte die Zahl im zigfachen Millionenbereich liegen. Zwischen Deutschland und Frankreich auch, im Dreiländerbereich D-A-IT erst recht. Ich erinnere mich noch gut wie ich mit meinem Vater mal irgendwann in den frühen 90ern zum Wandern nach Österreich bin. Da haben wir halt locker 2h an der Grenze gewartet bis wir unsere Pässe zeigen durften.
Bei jedem Grenzübertritt spart man mindestens einen Zehner durch die gemeinsame Verwaltung und den Binnenmarkt und dadurch dass es schneller geht. Typischerweise geschieht das eben in der Form von Zeit. Real dürften die Gewinne deutlich höher sein weil die Wartezeiten nur ein Teil der Geschichte sind. Der andere Teil sind die Zöllner die natürlich jedes Land auch noch für die Kontrolle bezahlen muss. Diese Menschen können sich nun anderen Aufgaben widmen.
Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, dass es "ungerecht" oder unmöglich ist, den Briten Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren und Dienstleistungen und Arbeitnehmerfreizügigkeit auszuklammern. Was ich hier lese klingt mehr nach Prinzipienreiterei und beleidigt-sein. Dass die EU Angst davor hat, dass auch andere Länder dann "nur" noch den freien Warenverkehr haben wollen und den Rest der EU-Segnungen nicht mehr, kann ich schon eher verstehen - das ist aber eher ein Armutszeugnis der EU.
Ist das Argument ernsthaft, dass der EU-Markt größer ist, als der GB-Markt und die Briten deswegen für den Zugang zahlen müssen? Müssen kleine Länder immer Gebühren zahlen, wenn sie mit großen Ländern handeln wollen? Das wäre mir neu und klingt auch nicht plausibel.
Ich wollte es aus Höflichkeit erst nicht so offensiv formulieren wie Benrath, aber bei der Antwort bleibt mir kaum etwas anderes übrig. Dass Du VWL studiert haben willst erscheint mir kurios. Falls doch, so ist es ein weiterer Beleg dafür, dass dieser Abschluss an sich offenbar genau gar nichts bedeutet. Deine Ahnungslosigkeit bereitet mir als Volkswirt akuten Fremdscham.
Dass Du anderen die Früchte Deiner Arbeit zum Nulltarif zur Verfügung stellen willst, während Du dafür bezahlst, während die anderen wiederum auf Dich scheißen und sich ins Fäustchen lachen … halte ich für unglaubwürdig. Dein Beharren auf dem Verschenken von Vorteilen ist etwas was mir als Prinzipienreiterei auffällt. Merke: Länder haben keine Freunde, nur Interessen. Ähnliches gilt auch für Staatenbünde. Ein Bonmot welches einem Konservativen wie Dir doch nur allzu bekannt sein sollte.
Das UK wird ab dem 01.04.2018 ein Drittstaat sein. Also kann man ausloten ob es gemeinsame Interessen gibt, wie ein Freund behandeln sollte man sie nicht, sonst wird man ganz offensichtlich hart in den Arsch gefickt wie die Vergangenheit zeigt. Die EU ist ja gerade ein Projekt welches Konflikte bändigen und internalisieren soll, und zwar so, dass die beteiligten Länder miteinander umgehen können wie Freunde. Das ist der wesentliche Unterschied. Das UK wollte und will in einer Gemeinschaft der Gleichen besondere Privilegien genießen. Das geht eben nicht ohne den Charakter der Gemeinschaft zu zerstören.
Zu behaupten, dass man alles auf ökonomische Transaktionen reduzieren kann ist fehlgeleitet. Dies funktioniert mit Staaten ebensowenig wie mit Einzelpersonen. Sag das mal Deinen Arbeitskollegen (nicht den Freunden, das ist ja eine andere Kategorie). Die werden Dir was erzählen. Jeder menschliche Kontext hat eine soziale Komponente die sich eben nicht mit einem ökonomisch rationalen Vertrag substituieren lässt. Wäre das so effizient würde niemand mehr heiraten und alle gingen in den Puff. Ist ja eine einfache Angebot/Nachfrage-Geschichte. Warum der ganze soziale Shit wenn es auch einfach als Geldtransaktion geht? Das ist easy dasselbe!
Das Bürokratie- und Korruptions-Monster in Brüssel kann doch nun wirklich nicht die beste Lösung sein.
Wie Benrath schon schrieb: Das ist Grund für Reform, aber nicht für ein Auflösen. Niemand hier verteidigt Verschwendung oder Korruption. So zu tun als ob dies nur in Brüssel stattfände und in Berlin nur Chorknaben und -Knäbinnen am Werk wären ist maximalst merkwürdig.
Kein innereuropäischer Krieg ist wohl kaum eine Errungenschaft der EU.
[…]
Immense Kosten
[…]
problemlos einzeln möglich
[…]
Ich bin eigentlich überhaupt nicht europakritisch, im Gegenteil, ich finde den europäischen Zusammenhalt toll und absolut notwendig. Aber das geht eben auch ohne dass man sich eine Zentralregierung aufsetzen muss, das geht auch in einem föderalen System ganz problemlos.
- Wie ich schon schrieb. Die EU, bzw. um genau zu sein die EGKS, ist ganz dezidiert als Friedensprojekt gegründet worden. Es ging darum eine derjenigen Nationen, die in den vergangenen ~80 Jahren mehrfach ihre Nachbarn mit Krieg überzogen hatte, an die Kette zu legen.
- Die "immensen Kosten" betragen 320 EUR pro Nase und Jahr gemittelt auf die ganze EU. Also für einen Naturwissenschaftler wie dich: Du arbeitest am Tag vermutlich deutlich unter 5 Minuten deiner Arbeitszeit für die Kosten der EU. Klingt für mich nicht allzu teuer.
- Problemlos einzeln möglich sind die Dinge eben nicht. Sowas wird zusammen verhandelt weil man nur dann einen Gesamtkompromiss findet der alle zufriedenstellt. Ex post daherkommen und behaupten das wäre möglich gewesen ist billige Polemik. Klar kann man es sich die Welt vorstellen wie sie einem gefällt, aber real umgesetzt bekommt man es so halt eben nicht.
- Ich glaube Du meinst eine Konföderation im Gegensatz zu einer Föderation im Gegensatz zu einem Staatenbund. Die EU ist aktuell nicht ganz, aber fast eine Föderation und schon eine Weile nicht mehr nur ein Staatenbund. Ihr wird im Allgemeinen eine eigene Rechtspersönlichkeit zugesprochen. Wenn Dein Ziel eine Föderation, also ein Bundesstaat, ist, dann müssen wir weiter integrieren. Ein Konföderation wäre lockerer. Natürlich sind da die Grenzen einigermaßen fließend. Was in einem lockeren Staatenbund mit sehr souveränen Befugnissen der Teilstaaten passiert kannst Du nicht nur in Europa sondern auch in den USA sehen. Es ist mir unerklärlich wie manche banalen Sachen dort von jedem verkackten County selbst geregelt werden. Die Standardantwort dürfte sein "cause muh freedom!", was aber Quatsch ist, denn zentralisierte Verwaltung hat halt auch ganz offensichtliche und wichtige Kostenvorteile. Insbesondere bei Dingen die überall möglichst gleich sein sollen, wie z.B. Trinkwasserqualität oder Menschenrechte oder oder oder…
Witzigerweise ist das genau das was die EU macht. Typischerweise auch nur mit der Vorgabe "Regelt das wie ihr wollt, aber hier sind die Richtlinien die eingehalten werden müssen. Wir haben das alle gemeinsam beschlossen, jetzt muss es jeder für sich bis in 3 Jahren umsetzen. kthxbye." Deswegen heißt es auch "Richtlinie (Directive)." Für Sachen wo dieser Spielraum sinnlos ist gibt es dann Verordnungen die direkt Rechtswirkung entfalten (Regulation).