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Ajo. Ich weiß genau was Du meinst.Nachdem ich gestern bei hart aber fair gesehen habe, wie Mario Voigt auf die Nachfrage nach der deutschen Kultur und Brauchtümern mit "Thüringer Bratwurst" kam muss ich dann doch nochmal darauf hinweisen, dass "Kultur" eigentlich nur eine verkürzte Bezeichnung für gesellschaftliche Übereinkünfte sind, auf die die Politik eigentlich bestenfalls mittelbaren Einfluss nehmen kann und welche zeitlich sehr stabil ist. Ich bin immer wieder erstaunt, dass man der CDU diese "Leitkultur"-Diskussion einfach so durchgehen lässt, als wäre es irgendwie normal dass eine demokratische Partei im Parteiprogramm festlegen kann, was die verbindlichen gesellschaftlichen Übereinkünfte sind. Das ist imho wieder ein typisches Beispiel für das krankhafte deutsche Staatsverständnis: Es wird eigentlich immer darüber geredet, was der Staat tun soll und kaum darüber geredet, was ein Staat eigentlich überhaupt tun kann (und was im Umkehrschluss auch nicht*). "Kultur" zu definieren gehört in meinen Augen jetzt eher nicht dazu, dafür müsste man dann schon Staatspartei vom Typ SED sein. Einerseits schlechte Nachrichten für einen Staat, der gerne mehr Achtung für Veteranen möchte, andererseits aber vielleicht auch nicht so tragisch weil die Achtung in der deutschen Gesellschaft für Veteranen sowieso nicht so niedrig ist wie man teilweise glauben könnte, wenn man die Reden über die Vor-Zeitenwende-Zeit so hört. Zumindest ergibt sich aus den Umfragen nichts dergleichen.
*ironischerweise ist die einzige Partei, die in Deutschland tatsächlich oft darüber redet, was der Staat nicht tun kann die FDP, die häufig genug eigentlich auch nur über Dinge redet die der Staat ihrer Meinung nach nicht tun sollte, es aber in die Rhetorik von "was der Staat nicht tun kann" verpackt
Das genuine Problem in Deutschland ist mE, dass "wir" uns zeitlebens nicht unserer eigenen Identität sicher gewesen sind, weswegen alternative kollektive Identitäten als Ausweichidentität für die eher peinliche und schuldbeladene "Deutsche Identität" insb. für Menschen mit Migrationsgeschichte so relevant sind.
Das Thema erzähle ich seit mindestens 20 Jahren rauf und runter, teilweise sind auch andere Menschen zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen, aber es passiert nichts, weil in der kollektiven Wahrnehmung immer noch gilt, dass man sich sehr damit identifiziert eine Schuldbewältigungskultur zu sein, das aber auch nur weil man glaubt, dass es alle anderen der Gruppe von einem erwarten … und so stößt man auch und vor allem Menschen ab, die eigentlich ganz gerne Gesellschaftsmitglied wären, aber sich nicht aktiv in eine dermaßen negative Identität hineinintegrieren wollen (kann ich gut nachvollziehen).
Darin sehe ich einen Haufen ganz konkreter (politischer/gesellschaftlicher) Probleme Deutschlands begründet. Und weil man in Deutschland so schön gründlich aber gleichzeitig auch dum ist, versucht man sowas über den Staat zu regeln. Gerne auch föderalistisch mit 16+ Regelungen. Funktioniert halt eben nicht als Dekret.
Kultur ist performativ. Leitkultur ist das bei dem alle mehr oder weniger präzise mitmachen, weswegen es nicht unbeträchtlich zum Funktionieren des täglichen Lebens beiträgt. Bitte und Danke sagen (zumindest ab und an mal); Frauen die Hand geben (wenn nicht gerade Corona ist); akzeptieren, dass Ratio, Argumente und Gesetze im Allgemeinen über Autoritäten stehen (insb. über religiösen oder familiären).
Deswegen befremdet mich der Begriff "Verfassungspatriotismus" auch stets von neuem. Es ist eben nicht damit getan streng nach dem Gesetz zu leben, da man ein ziemliches Arschloch sein kann, ohne jemals rechtskräftig verurteilt zu werden. Der allgemeine Anspruch an ein akzeptiertes Mitglied einer Gesellschaft sollte aber nicht sein, dass "nicht rechtskräftig verurteilt" vollkommen in Ordnung und ausreichend ist, auch wenn das manche wohl glauben.