Danke, das reicht mir schon. Wenigstens bist Du so ehrlich um zuzugeben, dass der Text und die Intention unseres Grundgesetzes zur Nebensache wird, wenn man glaubt es ginge nicht anders. Quasi Verfassungstreue nach Bedarf. Und mehr als ein "Glaube" ist es nicht, dass angeblich alles im Chaos enden würde, einen Beweis dafür bleibst Du vermutlich schuldig. [...]
Zum der Verfassungsgeschichte: Nichts für ungut, aber das ist schlicht und ergreifend naiv. Man kann alle möglichen Dinge in eine Verfassung schreiben, aber letztendlich kommst du immer bei der normatischen Kraft des Faktischen raus. Ein politisches System, in dem Parteien keine Macht haben, im Zweifelsfall ihre Abgeordneten auf die Parteilinie zu verpflichten, ist nicht regierbar. Ich weiß, dass die Geschichte der BRD im deutschen Geschichtsunterricht zu kurz kommt, deshalb weiß kaum jemand heute noch etwas über die politischen Konfliktlinien der 50er-Jahre, aber wenn du dir die anschaust dann wirst du ganz schnell erkennen, dass auch die Politiker, die damals im Parlamentarischen Rat über das GG entschieden haben, nie anders agierten, teilweise sogar noch deutlich brutaler als heute ob der anfänglichen Parteienzersplitterung nach dem Krieg. Daran ist nichts verwerflich; Art. 38 ist eine hehre Sache aber so wie er landläufig ausgelegt wird wurde er nie praktiziert und würde das politische System hoffnungslos lähmen.
Zu der Frage nach Beweisen. Na ja, das ist ein bisschen als ob du einen Ökonomen danach fragst, ob ein Wirtschaftssystem das komplett auf Tauschhandel basiert in einer modernen Gesellschaft funktionieren könnte: In dem Sinne, dass ich dir ein System zeigen könnte, in dem es nicht funktioniert hat habe ich keine Beweise, weil kein System sowas versucht hat, genau wie kein politisches System, zumindest kein demokratisches, ohne Parteien auskommt. Ich könnte dir ein paar bizarre historische Präzedenzfälle aus der Frühzeit der Parlamentarisierung oder die "Era of Good Feelings" aus dem frühen 19. Jahrhundert USA nennen, aber inwiefern das mit der heutigen Zeit vergleichbar ist ist mehr als fragwürdig. Was du allerdings als extrem starkes Indiz sehen kannst ist die Tatsache, dass Systeme mit schwachen Parteien durch die Bank Systeme sind, in denen die Parteien nicht die Regierung organisieren müssen, sondern diese direkt vom Wahlvolk legitimiert wird (oder, wenn wir auch "Defekte Demokratien" betrachten, eine andere Legitimationsgrundlage haben wie bspw. das Vertrauen einen Monarchen). Dafür, dass der Präsidentialismus deutliche Schwächen im Vergleich zur Demokratie hat, könnte ich dir eine Menge Belege nennen.
Und zu deinen persönlichen Erfahrungen: Nichts für ungut, aber das ist nicht vergleichbar. Solange es um klar umgrenzte und nicht sehr komplexe Sachfragen geht braucht man nicht zwingend Parteien. In der Landes- und Bundespolitik geht es aber um extrem komplexe Fragen von denen die meisten nur vordergründig technisch sind, schlussendlich aber ideologisch. Im Übrigen wissen wir eine Menge darüber, wie Wähler entscheiden und ich kann dir versichern, dass die meisten ohne die einfache Heuristik eines aussagekräftigen Parteilabels hoffnungslos überfordert wären.
Wie schon gesagt. Alles Deine persönliche Meinung, die Du auch gern haben darfst. Und ich bin auch voll bei Dir, wenn es darum geht, dass man das alles vorher hätte durch vernünftige Kommunikation vermeiden können. Aber: Das steht nirgendwo dass man "das muss". Muss man halt nicht. Nichts davon verstößt gegen die rechtlichen Rahmenbedingungen für Wahlen die wir uns selbst gegeben haben und damit ist und bleibt diese Wahl eben eine nach den von uns definierten demokratischen Standards. Das muss man als Fan der Demokratie auch einfach aushalten können, auch wenn man das Ergebnis natürlich als solches kritisieren darf. Es spricht für Dich, dass Du das für Dich und für akzeptable Parteien als ungeschriebenen Standard ansiehst und da bin ich auch total bei Dir. Aber das ist halt irrelevant wenns um die nüchterne Betrachung geht. Emotionen einfach mal ausklammern hilft ziemlich wenn man zu objektiven Ergebnissen kommen will.
Breaking News: Ich finds auch extrem beschissen wie es gelaufen ist, aber ich reihe mich halt nicht in die Riege der Schreihälse ein die dem Ergebnis nun völlig ohne Faktenbasis die demokratische Legitimation absprechen will. Nochmal: Es wird dann intransparent und undemokratisch, wenn gegen irgend eine Wahlregel verstoßen wird. Ist das geschehen? Dann auf den Tisch damit und ich stimme Dir sofort zu. Alles andere ist die übliche Bauchgefühlsrhetorik [...]
Sorry, aber das ist ein Bild von der Demokratie wie aus dem 19. Jahrhundert. Demokratie bedeutet nicht, dass man Staatsorganisationsrecht einfach als Gebrauchsanweisung versteht wie man einen IKEA-Schrank zusammenbaut. Nur weil irgendetwas nirgendwo rechtlich verboten wurde, heißt das noch nicht, dass es deshalb schon legitim ist. Keine Demokratie der Welt funktioniert ohne ungeschriebene Normen und die sollten, zumindest für Demokraten, demokratietheoretisch rechtfertigbar sein. Davon kann hier keine Rede sein: Es ist ziemlich eindeutig so, dass das Wahlergebnis nicht mal dem Willen der wählenden Abgeordneten entsprochen hat*. Man hätte schon im Vorhinein erkennen können, dass es auch nicht im Sinne des Wahlvolkes war und man kann jetzt, im Nachhinein, ganz klar erkennen dass dem nicht so ist:
- Beim Thüringen-Trend im Januar haben sich 22% der Wähler dafür ausgesprochen, dass die CDU nicht mit der Linkspartei zusammenarbeiten soll. Gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD waren 64%. Unter den CDU-Wählern waren sogar nur 16% gegen jede Zusammenarbeit mit der Linken, aber 85% gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD. 43% der Befragten waren für eine Minderheitsregierung RRG mit Ramelow, 33% für Mehrheitsregierung CDU/Linke, 19% für Minderheitsregierung AfD/CDU
- Im Deutschlandtrend sagen 61%, dass sie es für richtig halten, dass Kemmerich zurücktritt, 24% halten es für falsch.
- Ebenfalls im Deutschlandtrend haben 41% der Befragten jetzt eine schlechtere Meinung von der CDU vs. 4% eine bessere. Für die FDP 44% schlechter, 4% besser.
- 58% lehnen jegliche Zusammenarbeit mit der AfD ab, darunter 69% bei der Union. Bei der FDP lehnen 25% ab, 62% wollen von Fall zu Fall entscheiden. Ob sie damit die AfD in Thüringen, die von Björn Höcke geführt wird, meinen, weiß ich nicht.
- Bei Forsa schmiert die CDU in Folge der Abstimmung von 19 auf 12% ab, die FDP verliert einen Punkt von 5 auf 4, was aber schon reichen würde, dass sie nicht mehr im Landtag vertreten wäre
Das hat nichts mit "Bauchgefühlrhetorik" zu tun. Du hast nur einfach nicht verstanden, wie gelebte Demokratie funktioniert. Die Fakten sind offensichtlich, du ignorierst sie nur geflissentlich. Im Übrigen: Das hat mit Gefühlen nichts zu tun. Ich habe 2013 für die SPD gestimmt, aber nach der Bundestagswahl war klar dass die Mehrheit der Wähler Merkel als Kanzlerin behalten wollte. Hätte die SPD trotzdem mit Grünen und Linken eine Koalition gebildet, was rechnerisch ja durchaus möglich gewesen wäre weil die FDP aus dem Bundestag geflogen war, wäre ich extrem darüber verärgert gewesen, dass die SPD den Wählerwillen so eindeutig ignoriert hätte. Dass ich das damals so gesehen habe kann ich bei Bedarf auch mit Posts belegen.
*Kemmerich hat vor der Wahl gesagt, er tritt im dritten Wahlgang nur an, wenn die Wahl lediglich zwischen linkem und rechtem Kandidaten stattfindet. Hätte die AfD keinen Scheinkandidaten aufgestellt, wäre Kemmerich wohl gar nicht angetreten. Deshalb auch die ganze Debatte, was verfassungsrechtlich passiert, wenn Ramelow mehr Nein als Ja-Stimmen bekommt.
Eine Sache allerdings noch:
Erzähl mir nicht, das wäre noch nie vorgekommen, die anderen Parteien waren dann nur so anständig, vor der Abstimmung ihren eigenen Kandidaten auch offiziell zurückzuziehen. Die AfD ist aber nicht anständig, wer hätts gedacht. Im Gegenteil die lachen sich jetzt grad einen Ast ab und freuen sich auf die Prozentpunkte die sie ggf. in einer möglichen Neuwahl zulegen können. Vollig unnötigerweise dass man dieses Spiel mitspielt, dabei sollte wohlbekannt sein, dass man sich in der Auseinandersetzung mit Idioten nicht auf deren Level herabziehen lassen sollte weil das nichts bringt ausser ihnen in die Hände zu spielen. Und das Argument, dass ja nun etliche Leute nicht das bekommen haben was sie sich bei der Stimmabgabe erhofft haben? What? Das ist essenzieller Bestandteil einer repräsentativen Demokratie, dass es am Ende Koalitionen geben kann die eben nicht den eigenen Erwartungen entsprachen. Wie viele Wähler haben sich in den letzten Bundestagswahlen bitte Schwarz/Gelb oder Rot/Grün erhofft und dann immer wieder GroKo bekommen die sie explizit nicht wollten? Millionen über Millionen. Willst Du diese Wahlen nun auch für undemokratisch erklären? Ich bitte Dich... das ist doch nichts mit Hand und Fuß.
Das ist keine seriöse Argumentation. Meines Wissens sagte keine Partei vorher, entweder ich kriege meine Wunschregierung oder ich gehe in die Opposition. Um den Wählerwillen berücksichtigen zu können muss das, was er gerne hätte, auch möglich sein (zumindest ohne den Wählerwillen der anderen Wähler zu verletzen). Wenn Schwarz/Gelb UND Rot/Grün nicht möglich sind, dann ist die nächste Frage halt, ob der Wähler lieber Schwarz/Rot will oder doch eine Minderheitsregierung. In diesem Fall war eben überhaupt keine Mehrheitsregierung möglich weil alle rechnerischen Optionen vor der Wahl ausgeschlossen wurden. Also muss man sich anschauen, was die Wähler für die am wenigsten schlechte Option halten. Was du hier hast ist dass die Parteien das Gegenteil dessen machen, was der Wählerwille war, obwohl auch eine bessere Option vorhanden war. Das war wohl auch allen klar, deshalb hat auch die AfD auf diesen Trick gesetzt, um Union und FDP zu blamieren. Warum diese das mit sich haben machen lassen ist eine andere Frage, aber das macht die ganze Sache trotzdem nicht demokratisch legitimiert✞. Dass offensichtlich eine breite Mehrheit der Bevölkerung das, was da passiert ist, durchaus als Kooperation mit der AfD sieht, sollte dir eigentlich zeigen, dass du falsch liegst.
Nimm mal einen Extremfall an: Früher gab es nur drei gangbare Parteien. Wenn die FDP jetzt vor der Wahl sagt sie plant mit der Union zu koalieren, nach der Wahl dann aber sagt lol jk, wir koalieren jetzt doch mit der SPD weil sie uns ein besseres Angebot macht, ist das dann auch demokratisch? Was wäre, wenn du jeden einzelnen FDP-Wähler fragen könntest und dir so viele sagen, sie hätten statt der FDP direkt die CDU gewählt, wenn sie das gewusst hätten? Immer noch demokratisch?
✞nur so nebenbei: Wenn so eine Wahl wie die von Kemmerich demokratisch war, inwiefern ist es dann nicht demokratisch, wenn die CDU es sich jetzt anders überlegt? Meines Wissens steht auch nirgendwo, dass das nicht möglich ist ‾\_(ツ)_/‾