Was ich meistens erstaunlich unterbeleuchtet finde ist der Grad, in dem mittlerweile in Israel die Identitätspolitik bzgl. Religion ubiquitär ist. Es gibt praktisch keine politische Richtung mehr, die irgendeine Form von Universalismus als Ideal ausgibt. Es gibt nur noch "Juden müssen immer dies sein, Juden müssen immer das sein" (meistens "stark" oder "wehrhaft") von den jüdischen Parteien und, natürlich in viel kleinerem Maße, dasselbe für muslimische Israelis. Das Problem ist nicht bloßer Revanchismus, der hat sicher auch etwas damit zu tun aber das eigentliche Problem ist die Besatzung, die sich als permanenter Ausnahmezustand durch die Gesellschaft gefressen hat. Man sieht es in
Umfragen mit dem bloßen Auge gut: Der Anspruch, Teil des Westens zu sein, der in der Gründergeneration (von denen fast alle Aschkenasim waren, die im Übrigen auch keineswegs immer einladend zu den Sephardim waren) vorherrschte, ist mittlerweile völlig auf dem Rückzug und wird ersetzt durch eine Identitätsdemokratie: Wie ein arabischer Politiker in Israel mal gesagt hat Israel als "jüdische Demokrate - demokratisch für die Juden, jüdisch für die israelischen Araber." Wir bewegen uns leider seit mehreren Jahrzehnten auf einen Zustand hin, in dem Israel alle Nichtjuden in der Region nur noch als NPCs sieht, deren Vorstellungen man nicht zu respektieren braucht, weil sie nicht stark sind. Ich gebe zu dass dieselbe Denkweise in Europa und den USA z.Z. auch auf dem Vormarsch ist, aber in Israel ist sie mittlerweile allgegenwärtig. Es ist kein Zufall dass du zwei Jahre nach dem 7. Oktober in Umfragen immer noch praktisch keinerlei Mitgefühl mit den Palästinensern siehst: In der israelischen Identitätspolitik kommen sie halt einfach nicht mehr als Subjekte vor, sie werden zu reinen Objekten degradiert.
Der Aspekt wird in meinen Augen vollständig ignoriert. Mittlerweile haben doch viele Leute gemerkt, dass die IDF nicht so besonnen vorgeht, wie sie es selbst darstellt. Aber für mich ist das eigentliche Problem nicht, dass die IDF überzieht, sondern dass es die israelische Gesellschaft schlicht nicht ignoriert. Die Israelis gestehen den Menschen in Gaza schlicht ein Vielfaches weniger an Menschlichkeit zu als etwa die Alliierten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Amerikaner den Afghanen nach dem 11. September. Ich kann nur davor warnen so zu tun als sei das primär den Grausamkeiten des 7. Oktober geschuldet, das ist leider mittlerweile in der israelischen Bevölkerung angelegt. Die Regierung, die diese Kriegsführung zu verantworten hat, ist nicht durch den 7. Oktober an die Macht gekommen und es ist keineswegs sicher dass sie in den ersten freien Wahlen nach dem 7. Oktober abgewählt würde.