Hast du ne robuste Einschätzung, wie es "um die Demokratie" insgesamt so steht? Also in der Reihenfolge: Deutschland, Europa, Westen, Welt?
Hintergrund: Wurde neulich in eine Diskussion über den Zustand der Demokratie verwickelt und war etwas überrascht, dass offenbar wenigstens in Teilen der Politikwissenschaft der Topos der Entdemokratisierung/Postdemokratie relativ stark ist, um nicht zu sagen: mit einer gewissen Chuzpe als Fakt proklamiert wird - stimmt das überhaupt oder ist das fringe?
Es fielen so Namen wie Colin Crouch und Wolfgang Streeck.
Crouch und Streeck sind imho bis zu einem gewissen Grad Ideologen, die immer einen extrem weiten Demokratiebegriff anlegen, der viele ökonomische Zusammenhänge mit einschließt. Denen geht es gegen den Strich, dass sich ökonomisch der Trend in die gegenläufige Richtung entwickelt, dass immer mehr wirtschaftlichen Themengebiete aufgrund von globaler Verflechtung dem politischen Zugriff bis zu einem gewissen Grad entzogen werden, auch Teile die man früher noch politisch regulieren konnte. Die These ist imho nicht ganz von der Hand zu weisen, aber das ist für mich nicht was den Kern von Demokratie ausmacht, insofern sehe ich das gelassener. Man muss auch sagen dass die Theorie von der Postdemokratie aus der Hochzeit der neoliberalen Hegemonie im wirtschaftspolitischen Diskurs stammt, da wurde vieles heißer gekocht als es letztendlich gegessen wurde. Würde ich eher als Meinung als als Wissenschaft bezeichnen.
Bzgl. "der Demokratie" generell: Weites Feld. Das Problem ist so ein bisschen, dass da viel durcheinander geworfen wird. Einerseits gibt es die Indices, die eine Mischung aus "harten" (quantifizierbaren) Faktoren und Experteneinschätzungen sind und die Institutionen (im weitesten Sinne) betreffenund andererseits die Einstellungsforschung. Bei der Einstellungsforschung gab es in der letzten Dekade ein bisschen Alarmismus, aber letztendlich kann man glaube ich sagen, dass sich an der geäußerten Meinung zur Demokratie nicht SO viel getan hat. Generell nimmt die Zustimmung zur Demokratie in etablierten Demokratien nicht ab. Es ist aber wohl so, dass Teile der Gesellschaften sich auch "illiberale" Demokratiemodelle vorstellen können. Woran das liegt ist umstritten; manche Leute befürworten ökonomsiche Erklärungsansätze, andere gesellschaftspolitische.
Es ist wohl generell schwieriger, durch ökonomische Performanz neue Zustimmung zur Demokratie zu generieren, weil Wohlstandsgewinne heute ungleicher anfallen und durch Demokratien schwerer umzuverteilen sind als noch vor ein paar Jahrzehnten. Das wäre der ökonomische. Andere stellen auf den "Wertewandel" ab, der Teilen der Gesellschaft zu schnell geht und zu backlash führt, das wäre der gesellschaftspolitische. Ob die beiden überhaupt so klar zu trennen sind und nicht doch irgendeine konvexe Kombination der beiden als Erklärungsansatz am realistischsten ist, finde ich nicht ganz klar. Meine persönliche Vermutung ist, dass der ökonomische Erklärungsansatz dem gesellschaftspolitischen im Grunde genommen vor geht und die Angst vor Veränderungen häufig ein Ausdruck ökonomischer Verunsicherung ist.
Was die Institutionen angeht kann man afaik ganz gut trennen. Es gibt keinen "globalen" Trend bzgl. der Demokratien. Wenn man den Indices glaubt gab es in den letzten Dekade mehr backsliding als demokratische Fortschritte, aber es gibt in allen Regionen sowohl demokratischen Fortschritt als auch demokratischen Rückbau. Allerdings hat gerade ein neues Paper von Anne Meng und Andrew Little gezeigt, dass dieser Trend wohl hauptsächlich durch die subjektiven Experteneinschätzungen getrieben wird, nicht die quantifizierbaren Faktoren. Allerdings ist es natürlich ein bisschen irreführend, die Werte nicht nach Bevölkerung zu gewichten, weil gerade in den extrem großen Demokratien (Indien ist wohl der schlimmste Fall und hatte ich in meinem ersten Post vergessen, Brasilien, aber auch die USA) backsliding zu beobachten war. Lange Zeit galt das Diktum von Przeworski als ziemlich sicher, dass man ab einer gewissen wirtschaftlichen Entwicklung (ca. $6000 in 1985 PPP) kein Backsliding mehr zu erwarten ist, das würde heute wohl kaum noch jemand so sagen.
Im Schnitt würde ich sagen:
- Deutschland: Alles komplett in Ordnung.
- Europa: Alles (noch) in Ordnung, Fortschritte und Rückschritte halten sich die Waage. Frankreich ist etwas besorgniserregend.
- Westen: In den anglophonen Ländern machen die konservativen Parteien teilweise schon problematische Entwicklungen gerade, unklar ob das irgendwann durch die Bevölkerungen abgewürgt wird oder nicht. In Südamerika sieht man dasselbe Muster wie seit Jahrzehnten, dass sich Fortschritte und Rückschritte in Wellen bewegen, in den ostasiatischen Demokratien läuft es okay.
- Global: Kein einheitlicher Trend. Mehr Rückschritte als Fortschritte, aber es gibt beides. Autokratien sehen aus als Sitzen sie fester im Sattel als vor sagen wir 15 Jahren.