Fair.
Und ich muss zugeben, dass ich den Effekt der politischen, gesellschaftlichen und letztlich militärischen Verrohung auf das Verhalten der israelischen Armee (sowohl bzgl gezielter Planung als auch individuellem Verhalten) unterschätzt habe.
Da kam anscheinend viel Rachsucht mit der wenig menschenfreundlichen Sicht der radikalen politischen Rechten in Israel zusammen (auch wenn das keine vollständige Erklärung sein mag).
Dazu wollte ich mal Folgendes anmerken: Ich habe das Gefühl es gibt eine numerisch nicht wahnsinnig große, aber doch auch nicht zu vernachlässigende Zahl von Leuten, die den Konflikt durch die Brille von Antireligiosität betrachten. Hauptsächlich Leute, die selbst nicht religiös sind und die Religion insgesamt skeptisch bis feindselig gegenüber stehen, dem Islam im Besonderen weil er auf viele Arten die krassesten Ausprägungen dessen hervorbringt, was sie an Religion nicht mögen. Die Rückschrittlichkeit, die Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden, das reaktionäre Weltbild, die antirationale Haltung etc. Bill Maher ist für mich ein prominentes Beispiel, aber ich hatte hier im Thread häufig das Gefühl dass das bei dir auch ein bisschen so ist (korrigier mich, wenn ich bei dir persönlich falsch liege, aber das Phänomen selbst habe ich tatsächlich schon häufig beobachtet). Dagegen die Israelis: Sicher keine perfekte Nation, natürlich auch mit ihrem eigenen ultraorthodoxen Problem mit der Religion, aber insgesamt modern und "wie wir". Eine westliche Nation, nur halt nicht geografisch "im Westen" so wie Japan oder Australien. Im Zweifelsfall sind es eher die Israelis, auf deren Seite man steht.
Ich kann die Grundhaltung tatsächlich auch durchaus verstehen, insbesondere gegenüber Religion. Meine persönliche Haltung bzgl. gesamtgesellschaftlicher Probleme ist vielleicht eine andere, für mich ist sowas wie Religiosität halt ein real existierender Faktor mit dem man klarkommen muss auch wenn man ihn nicht gut findet, aber verstehen kann ich es schon gut. Aber was mir insbesondere bei diesem Konflikt immer auffällt dass der Fokus auf Religion ein bisschen zu kurz springt, weil Religion ja letztendlich (wie so häufig) gar nicht wirklich der entscheidende Faktor ist, sondern dass Religion zu Identität wird. Die *religiösen* Extremisten sind gar nicht die Faktion, die in Gaza am stärksten ist. Das heißt nicht dass die Hamas säkular wäre oder sowas, natürlich nicht. Aber für die Hamas ist die Identität als Muslime eine verbindende Identität und Abgrenzung zum Gegner die zugunsten ihres Extremismus aufgefahren wird, sie ist nicht primär was den Extremismus treibt.
Was ich meistens erstaunlich unterbeleuchtet finde ist der Grad, in dem mittlerweile in Israel die Identitätspolitik bzgl. Religion ubiquitär ist. Es gibt praktisch keine politische Richtung mehr, die irgendeine Form von Universalismus als Ideal ausgibt. Es gibt nur noch "Juden müssen immer dies sein, Juden müssen immer das sein" (meistens "stark" oder "wehrhaft") von den jüdischen Parteien und, natürlich in viel kleinerem Maße, dasselbe für muslimische Israelis. Das Problem ist nicht bloßer Revanchismus, der hat sicher auch etwas damit zu tun aber das eigentliche Problem ist die Besatzung, die sich als permanenter Ausnahmezustand durch die Gesellschaft gefressen hat. Man sieht es in
Umfragen mit dem bloßen Auge gut: Der Anspruch, Teil des Westens zu sein, der in der Gründergeneration (von denen fast alle Aschkenasim waren, die im Übrigen auch keineswegs immer einladend zu den Sephardim waren) vorherrschte, ist mittlerweile völlig auf dem Rückzug und wird ersetzt durch eine Identitätsdemokratie: Wie ein arabischer Politiker in Israel mal gesagt hat Israel als "jüdische Demokrate - demokratisch für die Juden, jüdisch für die israelischen Araber." Wir bewegen uns leider seit mehreren Jahrzehnten auf einen Zustand hin, in dem Israel alle Nichtjuden in der Region nur noch als NPCs sieht, deren Vorstellungen man nicht zu respektieren braucht, weil sie nicht stark sind. Ich gebe zu dass dieselbe Denkweise in Europa und den USA z.Z. auch auf dem Vormarsch ist, aber in Israel ist sie mittlerweile allgegenwärtig. Es ist kein Zufall dass du zwei Jahre nach dem 7. Oktober in Umfragen immer noch praktisch keinerlei Mitgefühl mit den Palästinensern siehst: In der israelischen Identitätspolitik kommen sie halt einfach nicht mehr als Subjekte vor, sie werden zu reinen Objekten degradiert.
Der Aspekt wird in meinen Augen vollständig ignoriert. Mittlerweile haben doch viele Leute gemerkt, dass die IDF nicht so besonnen vorgeht, wie sie es selbst darstellt. Aber für mich ist das eigentliche Problem nicht, dass die IDF überzieht, sondern dass es die israelische Gesellschaft schlicht nicht ignoriert. Die Israelis gestehen den Menschen in Gaza schlicht ein Vielfaches weniger an Menschlichkeit zu als etwa die Alliierten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Amerikaner den Afghanen nach dem 11. September. Ich kann nur davor warnen so zu tun als sei das primär den Grausamkeiten des 7. Oktober geschuldet, das ist leider mittlerweile in der israelischen Bevölkerung angelegt. Die Regierung, die diese Kriegsführung zu verantworten hat, ist nicht durch den 7. Oktober an die Macht gekommen und es ist keineswegs sicher dass sie in den ersten freien Wahlen nach dem 7. Oktober abgewählt würde.
(Off topic: Angesichts der Geschwindigkeit der politischen und gesellschaftlichen Verrohung in den USA lässt mich das auch mit Sorge auf das praktische Verhalten von Vertretern der US-Exekutive blicken -- vom ICE-Dude bis zum Soldat im nächsten Krieg der USA. Hazing will Hegseth ja auch wieder, damit die Truppe im Spektrum von vorbildlichem Marine zur russischen Rohheit etwas mehr zu letzterem verschoben wird.)
Ich befürchte zurecht. Was ich an den Entwicklungen in den USA besonders bedenklich finde ist dass es überhaupt keinen Grund dafür gibt: Die Israelis sind zumindest wirklich im Krieg und von Staaten umzingelt die ihnen feindselig gesonnen sind (wenn auch nicht in allen Fällen völlig grundlos). In den USA hat eine Seite völlig den Anstand verloren und es stört die Hälfte des Landes einfach nicht mehr. Man möge sich mal vorstellen wie die Welt ausgesehen hätte, wenn die Amerikaner mit einem Präsident Trump und einem Verteidigungsminister Hegseth einen Weltkrieg bestritten hätten.
Ich habe auch von keinem gehört, dass es in der IDF Misshandlung gäbe. Aber die News, dass sie Greta einen Penis auf den Koffer gemalt haben ist scheinbar wichtiger als öffentliche Hinrichtungen.
Zu deiner abschließenden Frage: Nein. Hab ich auch nie behauptet und hat auch nichts mit meinem Post zu tun.
Was für ein Argument soll das sein? Du fragst warum es niemanden störe dass die Hamas öffentliche Hinrichtungen vollzieht. Die Prämisse ist halt einfach schwachsinnig: Alle stören sich daran, niemand findet das gut. Aber niemand ist davon überrascht, warum sollte die Hamas, die in Israel Zivilisten abgeschlachtet hat, Skrupel haben Kollaborateure hinzurichten? Die Frage ist was man Intelligentes darüber sagen kann, wenn man nicht weiß wie man es verhindern kann. Das weiß aktuell in meinen Augen niemand.