Inwiefern ist die logistische Lage Teil des Mindeststandards der Souveränität?
Meine die Frage durchaus ernst.
Bspw. Vatikan, San Marino und Liechtenstein sind auch ziemlich abhängig von Nachbarn.
Macht nur keine Probleme, weil man gefahrlos und zu gegenseitigem Nutzen kooperieren kann. [...]
Auch hier ernste Frage: Wie ist dieser Mindeststandard definiert?
Was wäre denn fundamental anders, wenn Gaza vollständig unabhängig wäre?
Kannst ja Ägypten und Israel schlecht zwingen, die Grenzen zu öffnen.
Nach der klassischen Definition brauchst du für einen Staat ein Volk, ein Gebiet und die Staatsgewalt. Jetzt könnte man darüber diskutieren, ob Gaza wirklich Kontrolle über sein Gebiet hat, wenn Israel die nicht betretbare Zone (aufseiten Gazas natürlich) zur Grenze Israels arbiträr ausdehnen kann. Woran es aber garantiert scheitert ist die Staatsgewalt: Gaza hat weder das Recht, über seinen Luftraum zu verfügen, noch über sein Küstenmeer. Auch kann Gaza niemandem die Einreise verweigern (so ist es bspw. möglich, von der West Bank nach Gaza umzuziehen, nicht aber andersherum). Selbst Fragen des "klassischen" Gewaltmonopols unterliegen dem Veto Israels.
Dadurch machst du es effektiv unmöglich, die Staatsgewalt auszuüben, weil jede Staatstätigkeit nun mal an materielle Mindestvoraussetzungen gebunden ist, die Gaza jedoch einseitig durch Israel vorenthalten werden können. Den drastischsten Fall sehen wir aktuell mit der Totalblockade, aber auch perspektivisch ist völlig unklar, wie Gaza unter der Blockade irgendwie selbstständig wirtschaften kann. Selbst auf der West Bank ist das Einkommen der Palästinenser deutlich höher als in Gaza, einfach weil jede Form von Handel und die meisten Formen von Staatstätigkeit extrem eingeschränkt sind. Nicht, dass irgendwer es gut finden sollte dass die Hamas dort die "Herrschaft" hat, aber die Hamas kann nicht mal alle Staatsbediensteten bezahlen, das wird immer noch zu Teilen von der PNA übernommen.
Was wäre denn fundamental anders, wenn Gaza vollständig unabhängig wäre?
Kannst ja Ägypten und Israel schlecht zwingen, die Grenzen zu öffnen.
Das einzige, was mir spontan einfällt:
Import/Export über See wäre souveräner.
Wenn dann aber weiter Waffen nach Gaza über Schiff kommen und Raketen auf Israel fliegen, wie soll Israel dann reagieren?
Dann pendeln wird doch nur hochfrequent zwischen de facto dem Status quo (Kriegszustand), dem Status quo vor der akuten Krise (Seeblockade) und in kurzen Phasen der "vollen Souveränität".
Vom einen auf den anderen Tag wäre natürlich nichts fundamental anders. Aber es gibt jetzt auch keinen Grund, warum Gaza weiterhin auf dem unglaublich niedrigen Entwicklungsniveau bleiben sollte, auf dem es aktuell ist. Mutmaßlich würde ein solcher Staat natürlich auch nicht vom einen auf den anderen Tag souverän, sondern unter Begleitung irgendeiner supranationalen Organisation oder einem Kreis von Nationen, die sich bereit erklären, dort Hilfe zu leisten so wie in Deutschland und Japan Hilfe geleistet wurde. Auch die Möglichkeit, aus Gaza auszureisen, würde enorm helfen da in Gaza effektiv nichts (an Wohngebäuden) gebaut werden kann, die Bevölkerung aber Jahr für Jahr mit einer enormen Geschwindigkeit steigt. Die benefits einer solchen Handhabe sind für Israel (!) natürlich spekulativ, aber letztendlich ist mein Punkt, dass es auf sie nicht ankommt: Es geht hier um fundamentale Rechte, die schlicht nicht verwehrt werden dürfen. Darauf muss man international Israel verpflichten, egal ob es Israels Sicherheit negativ beeinträchtigt. Dass das nicht aus einem internen Impetus kommt ist klar, dafür muss Druck gemacht werden.
Dass es in Israel problematische Tendenzen gibt & ich falsch fände, Gaza & WJL langfristig zu annektieren, schrieb ich ja bereits.
Ich wäre dafür, dass Israel so nah wie möglich an Souveränität für Gaza & WJL heranrückt wie zu einem jeweiligen Zeitpunkt akzeptabel.
Also kein Siedlungsbau, und je längere Friedensphasen sind & je weniger Gewalt es gibt, desto mehr die Kontrolle zurückfahren.
Aber gerade nach dem Wochenende jetzt von "voller Souveränität für Gaza" zu sprechen ist doch absurd.
Wie gesagt: Daran ist absolut nichts absurd. Absurd ist es, zu glauben dass dieses Wochenende die Menschenrechte der Menschen in Gaza aushebelt. Ich verstehe dass der Punkt unpopulär ist, nachdem ein terroristischer Angriff von kolossalem Ausmaß auf Unschuldige verübt wurde, schon klar. Aber es ändert nichts an der fundamentalen Tatsache, dass es nun mal so ist: Menschenrechte können nicht eingeschränkt werden. Nicht für Mörder, nicht für Terroristen, nicht für Henker. Das gilt in Gaza nicht weniger als in der Ukraine.
Wow.
Erstens ist die Statistik so, WEIL Israel sich erfolgreich verteidigt.
Zweitens finde ich krass, die Bedrohungslage durch Palästinenser bei signifikant geringerer Kontrolle durch Israel als "nicht massiv" einzustufen 2 Tage nachdem trotz dieser laut dir unbotmäßigen Kontrolle soviele Israelis wie noch nie an einem Tag ermordet wurden.
(Note: Wir sprechen nach wie vor vom Gaza-Streifen.)
Extrem unseriöses Argument. Die Todesopfer wurden dadurch gefordert, dass Terroristen auf das Gebiet Israels eingedrungen sind. Es ist offensichtlich, dass Israel seine Grenzen zu einem souveränen Staat Gaza niemals so unverteidigt gelassen hätte wie das letzte Woche passiert ist, genau wie man nicht auf die Idee käme Menschen direkt an der Grenze wohnen zu lassen oder ein Musikfestival (!!) dort zu veranstalten.
Was Gaza perspektivisch weiter bliebe (und wie gesagt: ich sage auch nicht dass man nächste Woche die Hamas legitimieren sollte) wäre ziemlich genau das, was es jetzt auch tut, nämlich Raketenangriffe. Dafür sind die Zahlen paradigmatisch: Mir ist schon klar dass es scheiße ist mit den Luftschutzbunkern, den Raketensirenen und dem Iron Dome zu leben. Nicht schön, aber einen echten Versuch die "massive" Bedrohung zu rechtfertigen, die du einfach so annimmst, sehe ich nicht.
Millionen Palästinenser wollen Israel vernichten, zehntausende beteiliugen sich daran aktiv.
Hisbollah, Syrien, Iran wollen alle Israel vernichten.
Es gab mehrere Kriege, in denen Israel von zahlenmäßig weit überlegenen Nachbarn angegriffen wurde.
Diie Enstpannung mit Ägypten und Saudi Arabien ist keineswegs in Stein gemeiißelt, und es gibt in diesen Ländern starke islamistische & antisemitische Strömungen, welche die Macht übernehmen könnten (Stichwort Muslimbrüder, Mursi).
Und du sagst, dass es keine Bedrohung für die Existenz des Staates Israel gäbe. Interessant!
Das ist der Ist-Zustand seit 75 Jahren. Schau dir an, wie sich seitdem die militärische Stärke Israels entwickelt hat und wie sich die Stärke seiner Feinde entwickelt hat. Schau dir an, wie sich die diplomatischen Beziehungen Israels aktuell entwickeln. Wo ist der Kausalmechanismus? Wie soll Israels Existenz tatsächlich bedroht werden? Mal ganz abgesehen davon: Viele dieser Punkte sind Konstanten, die überhaupt nichts mit einem unabhängigen Staat (oder Staaten) für die Palästinenser zu tun haben. Wobei ich denke, dass alle diese Argumente zurücktreten hinter das Argument, dass es für den Konflikt selbst weniger interessant ist was Souveränität für die Palästinenser mit den Palästinensern macht als was es mit Israel macht.
Da stimme ich zu:
So ein Dauerquasikriegszustand wie im WJL ist absolut nicht gesund.
Da muss man was ändern, und da ist Kritik an Israel (Stichwort Siedlungsbau) auch hoch legitim.
Israel schwächt damit ja auch seine Verteidigiung - Kräfte, die in Jenin irgendwelche Sieder beschützen müssen fehlten gerade an der Grenze zu Gaza.
Hat aber keine konklusive Evidenz dafür, dass man Gaza mehr Souveränität geben sollte, was auch immer das genau hieße (bei der Frage bin ich ja tatsächlich gespannt, dazu zu lernen.)
Ja, Israel stärkt seinen Gegner damit. Aber das ändert nichts daran, dass Israel aktuell illegitim handelt. Wir tun so, als würde die Tatsache, dass die Palästinenser einen eliminatorischen Judenhass an den Tag legen sämtliche ihrer Rechte negieren, aber das ist nun mal weder rechtlich noch moralisch eine vertretbare Position. Rechte sind nicht kontingent und Israel ist in der Lage, sich zu verteidigen. Alles andere ist und bleibt "might makes right".
Du solltest nicht vergessen, dass auch die Palästinenser, so sehr uns ihre Geisteshaltung und ihr rigider Islamismus zuwider sind, legitime Anliegen haben. Weißt du, wo der Anführer der Kassam-Brigaden geboren wurde? In einem Flüchtlingslager. Die Hamas kontrolliert den Gazastreifen jetzt seit 16 Jahren, das Medianalter in Gaza ist 19, in etwa so lange gibt es die Blockade. Ich sehe seitdem keinerlei Anzeichen für Besserung in Gaza, aber eine Menge Anzeichen für eine enorme Verschlechterung in Israel. Wie lange soll das so weitergehen?
Stimmt schlicht nicht.
Wir finanzieren sogar die Fatah - als ob man da GAR keinen Druck ausüben könnte. Geldhahn abdrehen bspw und klare Bedingungen stellen.
Ebenso auf die Verbündeten der Hamas - Qatar, Iran, Russland.
Da können wir Druck ausüben. Teils mit Worten (Qatar), teils mit wirtschaftlichen Taten (Iran), teils mit Waffenlieferungen an die Ukraine (Russland).
Und auf die Fans hier in Deutschland, bspw Ditib.
Das halte ich für relativ illusorisch. Es ist ja nicht so, als hätte Deutschland bzw. die EU aktuell wahnsinnige Anreize, Geld an diese Staaten zu geben; es ist wohl viel eher so dass so gut wie alle Wirtschaftsströme und Geldmittel, die aktuell noch fließen, deshalb fließen weil jemand auf Seiten Deutschlands oder der EU nicht bereit war sie einzustellen. Sich darauf zu verlassen dass dieser Hebel groß genug ist um Staaten dazu zu bewegen, ihre Außenpolitik zu ändern, halte ich für extrem spekulativ. Wir können mit dem Zeigefinger wackeln aber ganz ehrlich: So zu tun als hätten wir irgendwelche slush funds, die wir mal eben trocken legen können, um anderen Ländern unseren Willen aufzuzwingen, ist schon bei relativ neutralen Staaten schwierig (wie wir immer wieder bei der Flüchtlingsproblematik sehen); dass man auf ein Land wie den Iran noch genug zusätzlichen Druck ausüben kann, um ein so zentrales Ziel ihrer Außenpolitik zu ändern, glaube ich schlicht Null.
Ich kann aber von den Menschen im Gaza-Streifen erwarten, sich der Hamas zu entledigen.
So wie ich das von Nazi-Deutschland erwarten konnte.
Mag nicht passieren, dann hat man aber die Konsequenz dichter Grenzen & einer Blockade auch selbst mit zu verantworten.
Wie einige hier schon angemerkt haben: Deutschland hat sich nicht von den Nazis entledigt, das waren die Alliierten. Genau übrigens wie es erst einen Weltkrieg brauchte, um sich von der Monarchie zu entledigen. Und mutmaßlich wird es genau wie damals einen realistischen Plan für Deutschland brauchen, sonst folgt letztendlich doch nur irgendetwas noch schlimmeres. Auf die Monarchie dann die Nazis, auf Saddam der IS usw. usf. Aber der ist komplett dadurch blockiert, dass Israel diese Gebiete besetzt hält. Das ist der Unterschied: Diese Länder befinden sich nicht im Krieg, das ist der Dauerzustand. Wenn nicht irgendetwas passiert, wird es der Dauerzustand bleiben. Und das ist schlicht nicht akzeptabel. Wir sind imho längst an dem Punkt angekommen, wo man einen deutlichen Kurswechsel hätte vollziehen müssen. Israels Sicherheit zu garantieren hätte damit einhergehen müssen, Israel dazu zu bewegen, wieder auf eine realistische Lösung hinzuarbeiten.
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Ich bin zwar nicht erstaunt, aber doch ein bisschen verärgert darüber, wie in den deutschen Medien aktuell wieder über dieses Thema berichtet wird. Empathie für Opfer ist angebracht und man sollte um Gottes Willen nicht so tun, als wäre irgendetwas davon, was hier passiert, gerechtfertigt oder wären die Palästinenser dazu gezwungen so zu handeln oder sonstigen Dreck. Aber es sticht schon ins Auge, wie die politische Sicht auf den größeren Konflikt sich von der in Israel unterscheidet. Hier nur mal ein Ausschnitt, was Haaretz in den letzten paar Tagen gebracht hat:
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www.haaretz.com
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Das ist eine Meinung, die effektiv in den deutschen Medien nicht vorkommt. Stattdessen werden Fanatiker wie Melody Sucharewicz bei Lanz eingeladen, dürfen drohende Kriegsverbrechen als "schlimme Bilder" verharmlost werden, wird der ungarische EU-Komissar (übrigens selbst ein Antisemit, solange es um Juden in Ungarn geht) in Schutz genommen wenn er unilateral die Einstellungen von Zahlungen verkündet für die er gar keine Kompetenz hat usw. usf. Bei so ziemlich allem was ich in den deutschen Medien sehe geht es erst mal und vielleicht auch primär darum, uns selbst zu versichern dass wir doch keine Antisemiten mehr sind, was zu einem völligen Ausblenden der Tatsache führt, dass Israels Politik mittlerweile selbst Teil des Problems geworden ist. Es ist einfach erbärmlich.
In so ziemlich jedem Land der Welt steht das Militär als Institution rechts von der Regierung. In Israel ist das Militär eine der letzten vernünftigen Institutionen, weil die letztendlich für den Mist gerade stehen müssen, den die Regierung verbockt. Dass die Siedlungspolitik und der Schutz der Siedler ein nicht unbeträchtlicher Grund dafür waren, dass die Grenze zu Gaza so leicht zu überwinden war, dass die Ägypter vor zwei Wochen Warnungen geschickt hatten, alles Dinge die man in Israel auch im Krieg in jeder halbwegs vernünftigen Zeitung lesen kann.