Dann werde bitte mal konkret:
1. Was ist aus deiner Sicht derzeit das Verhältnis von toten Hamas, Zivilisten und israelischen Soldaten?
Die Zahl toter israelischer Soldaten lässt sich afaik genau beziffern und ist ganz knapp über 100. In den anderen Konflikten stimmten diese Angaben bisher immer, insofern habe ich keinen Zweifel daran, hier an ihnen zu zweifeln.
Bzgl. der Zahl der Toten auf palästinensischer Seite gibt es meines Wissens relativ wenig Dissens: Wie ja bereits durch alle Medien erwähnt haben sich die Zahlen der Gesundheitsbehörde in Gaza, trotz Hamas-Führung, bisher als sehr realistisch erwiesen. Die einzige kleinere Komplikation ist, dass sie nur Totenscheine zählen, welche erst ausgestellt werden, wenn sterbliche Überreste gefunden sind, was die leichte Diskrepanz zu den Zahlen von Euro-Med erklärt, welche auch verschüttete, noch nicht geborgene Menschen zählt. Die israelische Zählweise, nach der alle männlichen Erwachsenen als "Hamas" gezählt werden, ist relativ offensichtlich Propaganda und ich verstehe offen gesagt nicht, warum die Israelis sie rausgeben. Die Schätzungen von
Euro-Med liegen zwischen 30 und 35 Prozent für Hamas-Mitglieder unter den erwachsenen Männern, was ungefähr einer Quote von 1:9 entsprechen würde. Ich bin schon lange nicht unbedingt begeistert von der Aufmachung von Euro-Med (unter anderem benutzen sie den Begriff "Genozid"), aber meine Erfahrungen mit den Zahlen aus den vergangenen Konflikten ist positiv. Wenn ich wetten sollte würde ich vermuten, dass ihre Zahlen deutlich näher an der Wahrheit sind, wenn sie nicht sogar direkt ins Schwarze treffen, als die Israels. Dazu unten noch einen Punkt
2. Welches Verhältnis wäre für dich angemessen?
Darüber kann man Stand heute meiner Meinung nach keine seriöse Aussage machen, weil es zu viele Variablen gibt, die wir nicht abschätzen können.
Hier will ich allerdings auch mal sagen, dass du bereits ganz enorm die goal posts verschiebst, dass du es für einen sinnvollen frame erachtest, jedes Hamas-Mitglied gleichwertig als legitimes Ziel zu zählen. Ich weiß, dass du es gerne so darstellst, als wäre die Operation gegen die Hamas mit der Operation gegen den IS vergleichbar, aber das ist einfach nicht angebracht: Der IS war eine Eroberungsbewegung, welche auf dem von ihm besetzten Gebiet in großem Maße Kriegsverbrechen begangen hat und seinen staatlichen Gegnern militärisch zeitweilig ebenbürtig war. Die Hamas ist, auch wenn der Propaganda-Spruch anders lautet, explizit nicht der IS: Sie regierte in Gaza seit 16 Jahren (im Übrigen ist auch nicht jedes "Mitglied" der Hamas automatisch ein Kämpfer; können wir einfach davon ausgehen dass bspw. Hamas-Mitglieder in administrativer Funktion auch legitime Kriegsziele sind? Finde ich keineswegs klar) und Verbrechen die in ihrer Zahl und Intensität mit den Kriegsverbrechen des IS vergleichbar sind, kamen bis zum 7. Oktober nicht vor (womit ich explizit NICHT sagen will, dass die Hamas nicht auch Verbrechen begeht, siehe meinen Post weiter oben). Auch ist die Hamas keine existenzielle Gefahr für Israel wie der IS es etwa für den syrischen und den irakischen Staat war; das israelische Militär ist der Hamas so himmelhoch überlegen, dass die Hamas niemals eine direkte militärische Konfrontation wagen würde und konsequenterweise auf eine Mischung aus Terrorismus und (legitimen) Protest setzte. Es gibt seit der Beendigung des Anschlags durch das israelische Militär keine andauerende Gefahr durch die Hamas, die über die Gefahr hinausgeht, mit der Israel die vergangenen eineinhalb Jahrzehnte gelebt (und
arrangiert) hat. Insofern sehe ich nicht, dass bei einer Stärke von 30k Mann (oder was auch immer mittlerweile angenommen wird) jeder einzelne Hamas-Kämpfer, geschweige denn jeder einzelne Hamas-Anhänger, ein legitimes Ziel von Luftschlägen ist. Hier führen die Vergleiche mit Raqqa und Mosul (dazu gleich noch etwas) auch enorm in die Irre, denn die Bombardierung dort war explizit dafür gedacht, militärtaktisch wichtige Ziele oder hochrangige IS-Mitglieder zu treffen. Da ging es natürlich nicht um das gezielte Liquidieren einzelner Kämpfer ohne Kommandofunktion (auch wenn diese vereinzelt möglicherweise passiert sein mögen).
Desweiteren will ich nochmal auf den Artikel von
Pape hinweisen, der argumentiert, die Luftschläge haben keine Aussicht, das Kriegsziel tatsächlich zu erreichen. Ich habe meine Probleme mit Papes Kram bzgl. Suizidterrorismus und ich bin natürlich kein Experte für Luftkrieg, insofern kann ich nur mäßig gut beurteilen ob die Argumentation stichhaltig ist, aber ich würde sie zumindest nicht ignorieren.
3. Mit welcher Strategie wird ein solches besseres Verhältnis erzielt?
Auch das ist natürlich spekulativ, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass urban warfare dieselbe Menge an ziviler Opfer fordern würde, die aktuell die Luftschläge fordern.
Wenn wir von einem Verhältnis von toten Hamas zu Zivilisten von 2:1 ausgehen, dann ist das ein besseres Verhältnis als Befreiung von Mosul (3:1) oder US/UK in Afghanistan (3-5:1).
Auch die absoluten Opferzahlen sind nicht extrem hoch, wenn man berücksichtigt wie dicht besiedelt das Gebiet ist, und wie massiv der Einsatz.
Israel hat bspw am Anfang beim Norden von Gaza sehr viel Zeit zur Evakuierung gegeben. Das hat auch der Hamas Zeit gegeben - das macht niemand, dem die Vermeidung ziviler Opfer nicht wichtig ist.
Auch im Süden wird jetzt sehr konkret gesagt wann sie wo angreifen. Was der Hamas enorm hilft.
Weiterhin macht die IDF ja auch Häuserkampf. Mit 2k verletzten und >100 toten israelischen Soldaten. Auch das ganz anders als die Flächenbombardements von bspw Russland und Syrien. Israel riskiert das Leben seiner Soldaten gerade weil sie sich an die Regeln des Krieges halten.
Ich teile ja deine Besorgnis bei der Entwicklung der israelischen Gesellschaft und Politik. Du bleibst aber den Beweis schuldig, dass sich das tatsächlich messbar in einer "bösen" Vorgehensweise niederschlägt.
Sorry, aber hier fällst du hoffnungslos auf Propaganda rein und dieser ganze Absatz dient gut zur Illustration, was ich damit meine wenn ich sage, dass ich daran zweifle ob du wirklich verstehst wie wenig man in diesem Konflikt glauben kann, leider eben nicht nur von Seiten der Hamas.
Das Bild, das die Daten da aufbereitet, stammt von einem privaten "Analysten"* und wurde von einem Sprecher der israelischen Regierung mit einem QT einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Schon relativ kurz danach hat der Typ, der praktisch alleine AOAV ist, ihn darauf hingewiesen dass die Aufbereitung der Daten
massiv irreführend ist, weil sie nur Luftschläge zählen, bei denen Menschen zu schaden kommen, die israelische Zahl aber alle Luftschläge zählt. Daraufhin wurden seine Replies unter dem Post
auf Hidden gestellt, was für jemanden, der sich selbst einen Analysten nennt, extrem fragwürdiges Verhalten ist. Ein paar Stunden später hat der AOAV-Typ dann
geschrieben, dass er eine lange Konversation mit dem OP hatte und ihm erklärt hat, warum das Bild irreführend ist, ohne dass etwas passiert wäre. Erst fünf Stunden später nach diesem Post hat der OP seinen Post dann
gelöscht; der
QT durch den Regierungssprecher ist, Stand als ich den Post verfasst habe, immer noch online.
Im Übrigen könntest du die Zahlen so oder so nicht vergleichen, denn du redest von völlig unterschiedlichen strategischen Erwägungen. Bei den Kämpfen gegen den IS hatten die Luftschläge unterstützende Funktion, um wichtige militärische Ziele und Kommandostrukturen zu treffen. Wenn der +972-Artikel, den Cele vor ein paar Seiten gepostet hat, auch nur näherungsweise stimmt, sind die Ziele der Israelis bzgl. der Luftschläge um ein VIELFACHES weiter gesteckt, bis hin zur Liquidierung einzelner Kämpfer ohne Führungsrolle und sogar dem Bombardement rein ziviler Ziele, um die Moral der Bevölkerung zu schädigen. Dieses Verhalten deckt sich wie bereits erwähnt sehr gut mit der Rhetorik, die die Regierung und das Militär seit dem 7. Oktober an den Tag legen.
Die Zahl der benennbaren Opfer, welche zivile Berufe haben, ist so hoch dass es mir extrem schwer fällt daran zu glauben, dass die Israelis sie nicht gezielt töten; insbesondere Journalisten und Ärzte, aber auch Mitarbeiter der UN. Glaubst du es ist Zufall, dass Israel so weit wie möglich versucht, Berichterstattung aus Gaza zu unterbinden? Ich weiß nicht was für eine Art von "Beweis" du erwartest und ich vermute, die Art von "Beweis" existiert auch schlicht nicht, da du im Zweifelsfall bereit bist, der IDF alles mögliche abzukaufen, selbst ihre absurden Zahlen von getöteten Hamas-Kämpfern. Ich kann wie gesagt nur auf meine Erfahrung mit diesem Konflikt verweisen: Der IDF glaubst du auf eigene Gefahr, nicht viel weniger als der Hamas.
*tatsächlich hat der Typ soweit ich sehen kann keine subject expertise, arbeitet allerdings an einem (tatsächlich noch relativ moderaten!) think tank der sich mit dem Konflikt beschäftigt