Okay, Missverständnis meinerseits.
Zu deiner Fußnote: Hier stimme ich zu, ich gehe davon aus, dass das Thema jetzt wieder viel stärker auf der Agenda landen wird - hoffentlich von beiden Seiten. Wenn in 20 Jahren daraus dann wirklich die Zweistaatenlösung entsteht, werden die Hamaskämpfer von den Palis auf alle Ewigkeit verehrt werden. Der Gedanke widerstrebt mir, aber wenn das der Preis für Frieden ist, dann soll es so sein. Die Logik des Krieges ist nicht immer schön und "sauber".
Ja, sehen wir glaube ich sehr ähnlich. Deshalb auch meine Fußnote: Ich verstehe nicht, woher manche die Sicherheit nehmen, dass "die Waffen niederlegen" alleine bereits das Problem Gazas lösen würde. Die Waffen niederlegen ist eine Sache, aber dadurch wäre weder die Welt direkt von der eigenen Friedfertigkeit überzeugt, noch wäre es garantiert dass in Israel dadurch eine politische Kraft an die Macht käme, die die rechten Spinner so weit marginalisiert, dass eine Zwei-Staaten-Lösung wieder möglich wäre. Ich rolle innerlich ein bisschen die Augen, wenn ich sehe wie "die Medien" (amerikanische und deutsche, die ich konsumiere) gerade scheinbar alle zeitgleich und in Zeitlupe die jüngere Geschichte des Nahostkonflikts entdecken: So habe ich in den letzten paar Tagen jetzt bestimmt vier oder fünf Mal die Einsicht gehört, dass es ja unter anderem Netanyahu war, der gegen die Verhandlungslösung von Rabin agitiert hatte (und dass seine Witwe ihn für das Klima verantwortlich machte, in dem Rabin dann ermordet wurde). Als wären das nicht alles 25 Jahre alte Fakten und als wäre Netanyahus Politik seitdem nicht noch deutlich konfrontativer geworden.
Stimme btw auch explizit bzgl. der Logik des Kriegs zu. Ich finde Gerechtigkeit, soweit sie zurückschauend ist, letztendlich zweitrangig. Die Situation ist so eine Katastrophe, dass es erst mal darum gehen muss irgendwie einen halbwegs tragfähigen Frieden zu schaffen, der eben nicht dauerhaft durch eine fehlende Entwicklungsperspektive für Gaza konterkariert wird. Wenn das bedeutet dass der strafrechtliche Umgang mit der Hamas eher aussieht wie in Chile mit dem Pinochet-Regime (oder auch, wenn wir uns mal ganz ehrlich machen, Nachkriegsdeutschland mit fast allen Nazis bis auf die oberste Funktionsebene), dann kann ich auch damit leben, weil es besser als die Alternative ist.
Mit "genauso handeln" meine ich in erster Linie: Es würde Krieg geben, der würde blutig werden, da letzlich jeder Staat die Auslöschung oder zumindest Vertreibung der angreifenden Terror-Regierung verfolgen würde. In einer dicht besiedelten Stadt geht sowas nicht sauber. Ob Israel sich jetzt besonders mit Grauenhaftigkeit hervortut, kann ich sicherlich schwer einschätzen, aber du lieferst jetzt ja auch nicht wirklich handfestes, oder? Ich sehe die Videos (ja durchaus auch unzensiert), lese mit Erklärungen bzgl. bestimmter Maßnahmen durch (roof knocks, Flugblätter, Warnungen mit langer Vorlaufzeit). Ich schaue aber halt auch Videos zu anderen Konflikten, und denke mir dann "okay, in der Region kenn ich keine Kampfpartei die sich überhaupt die Mühe macht, vor Luftschlägen zu warnen". Die Türken nicht, die Syrer nicht, die Saudies nicht, die Hamas schonmal gar nicht. Und wenn wir den Bogen weiterspannen? Russland nicht*; und die Amis? Okay ja, die vielleicht, aber auch nicht uneingeschränkt (siehe Drohnenschläge). Und natürlich sehe und lese ich auch, was die Hamas so anstellen, insbesondere wie rührend sie sich um das Wohl ihrer Zivilbevölkerung sorgen.
Wie gesagt: "Handfestes" in Echtzeit ist in diesem Konflikt imho nicht möglich. Aber ebenfalls wie gesagt: Ich beschäftige mich schon lange mit dem Konflikt und Handfestes aus den vorherigen Operationen in Gaza gibt es zur Genüge. Mir fällt es schwer zu glauben, dass die IDF nach einer so barbarischen Attacke humaner vorgeht als in Cast Lead oder Protective Edge und damals fielen eben auch nur ein Bruchteil der Tonnage die dieses Mal fällt. Letztendlich ist der Konflikt imho auch schwer mit anderen Konflikten (wie etwa Tschetschenien*) zu vergleichen, weil die Situation durch die geografische Lage so sui generis ist: Selbst bei wahllosen Luftschlägen bleibt anderen Bevölkerungen letztendlich immer noch die Flucht aus der Stadt, in Gaza gibt es de facto keine solche Fluchtmöglichkeiten, lediglich Bewegung in weniger stark betroffenes Gebiet.
Und ich will nochmal explizit darauf hinweisen: Ich weiß ganz genau, dass die Hamas ihre Bevölkerung als menschliche Schilde einsetzt. Jeder, der das bestreitet, weiß nicht wovon er redet. Nur ändert die agency der Hamas nun mal nichts daran, dass menschliche Schilde eben Menschen sind und man bei der kausalen Zurechnung nicht pauschal so tun sollte, als wäre Hamas alleine Schuld wenn diese sterben und Israel bliebe gar keine Wahl. Wir haben es schon häufig genug erlebt, dass Israel seine Sicherheit so extensiv definiert, dass letztendlich von einem humanitären Anspruch gegenüber Gaza nicht viel übrig bleibt.
Nur mal als Denkbeispiel: Wäre es für die Hamas nicht auch schwieriger, Israels Sicherheit zu bedrohen, wenn sie ohne Stromversorgung in Gaza operieren müsste? Würde es das rechtfertigen, Gazas einziges Kraftwerk zu bombardieren? Meine Vermutung ist die meisten Betrachter würden sagen nein. Nur ist das eben kein Denkbeispiel, sondern exakt was Israel getan hat, nachdem ein einzelner Soldat (Gilad Shalit) 2006 entführt wurde. Dasselbe Kraftwerk wurde 2014 dann wieder bombardiert, damals sprach die IDF davon, dass das kein gezielter Angriff war aber vielleicht aus Versehen passiert ist. Solche Geschichte gibt es zuhauf und sie kommen im Westen kaum vor, weil der Blick auf die IDF als die humane Armee vorherrscht. Das ist aber eben nur eine Geschichte, die eine vielschichtigere Realität überdeckt, die sich manchmal, aber keineswegs immer mit diesem Narrativ deckt. Manchmal habe ich ein bisschen den Verdacht, nicht ganz unähnlich der Berichterstattung über Flüchtlinge, dass man hier den Daumen bewusst auf die Waage drückt, weil man Angst hat dass die Realität die Stimmung negativ beeinflussen könnte.
*danke für den Link btw, ich hatte den Artikel tatsächlich mal gelesen als er erschienen ist aber seitdem nicht mehr daran gedacht
Nun kannst du sagen "ja, Israel sollte sich aber an höheren Idealen messen als an ihren Nachbarn". Und darüber kann man gerne reden, dann aber bitte doch etwas faktenbasierter als bisher. Aber ganz ehrlich, schau dir doch mal diesen Thread hier oder die Demonstrationen an. Oder den öffentlichen Diskurs an linken Institutionen gerade auch im angelsächsischen Raum. Die Leute blenden die Hamas und ihre Gewaltakte vollkommen aus. Da kommst du dann, und behauptest, dass das ja jetzt nicht so geschlossen antisemitisch sei, aber sorry, solche Entwicklungen geschehen nicht über Nacht, und ich finde das ehrlich gesagt ziemlich erschreckend. Wie entstehen denn geschlossen antisemitische Gesellschaften, wenn nicht so? Ich verstehe ehrlich nicht, wie du eigentlich weitgehend mir zustimmen kannst, und andererseits es dich nicht stört, wie sich der Diskurs in den formal antifaschistischen Kreisen entwickelt. Ich persönlich könnte es am ehesten noch verstehen, wenn man als linke Person sagt "ja hier bekriegen sich Faschisten mit Faschisten, was soll man machen", aber was derzeit abgeht? Haben sich irgendwelche linken Kreise je so sehr um das Schicksal der deutschen Bevölkerung im zweiten WK bemüht? Wo sind denn da die Fürsprecher, für z.B. Vertriebenenverbände? Waren es denn keine unschuldigen Zivilisten, die in Dresden, Hamburg und Berlin weggebombt wurden? Entweder wird extrem mit zweierlei Maß gemessen, oder viele (junge) Menschen wissen nicht wirklich, aus welchem Holz die Hamas geschnitzt ist.
Nur damit wir uns richtig verstehen: Was ich gesagt habe bezog sich auf US-Studenten, insbesondere die Art von Studenten über die man gerade überproportional viel liest und hört, d.h. an sehr selektiven Universitäten. Das beruht auch lediglich auf Nahfeldempirie, nicht auf repräsentativen Umfragen, insofern caveat emptor. Das vorgeschickt kann ich aus meiner persönlichen Erfahrung an mehreren dieser Unis mit Studenten, die im weitesten Sinne etwas mit Sozialwissenschaften machen, nur sagen, dass es mir sehr unplausibel vorkommt, dass diese Einstellungen wirklich in Antisemitismus wurzeln soll. Dagegen spricht für mich, dass sowas wie die "Judenfrage" in den USA hauptsächlich ein Thema der gesellschaftlichen Ränder ist, während diese Menschen nahezu ausschließlich aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Dazu war und ist das Medienklima in den USA so positiv gegenüber Juden und die Möglichkeiten, Juden als echte Menschen kennenzulernen statt als Stereotype so vielfältig, dass ich mir schwer vorstellen kann, woher tief sitzender Antisemitismus im Sinne von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit überhaupt kommen soll.
Die viel offensichtlichere Erklärung ist die Frage nach demselben Schema zu sehen, das ganz offensichtlich in den letzten paar Jahren studentischen Aktivismus quasi dominiert hat, Machtstrukturen. Mal abgesehen davon, dass ich das sowieso für eine etwas flache Weltsicht halte, passt die Analogie hier auch nicht besonders gut, aber das scheint mir trotzdem zu sein, was den Aktivismus befeuert. Das hat aber eben nichts damit zu tun, dass "der Jude" an sich irgendwelche pathologischen Züge hat, wie es Antisemiten gemeinhin glauben. Man kommt an einem sehr ähnlichen Endpunkt heraus wie Antisemiten, aber auf einem unterschiedlichen Weg und aus unterschiedlichen Gründen. Das heißt nicht, dass ich die Antisemiten nicht sehe, aber dazu habe ich mich gar nicht geäußert.
Was "den Diskurs" generell angeht: Ich habe ja schon geschrieben, ich bin damit auch nicht zufrieden. Für die meisten Leute ist der Konflikt letztendlich eine Projektionsfläche; echtes Interesse und echte Beschäftigung damit sehe ich sehr, sehr wenig. Ich bin ehrlicherweise bei dem Thema jetzt auch nicht wahnsinnig interessiert daran, wie die Binnendiskurse der Linken aussehen, weil ich das für Nabelschau halte. Bei dem Punkt wäre ich allerdings bereit, mich vom Gegenteil überzeugen zu lassen, wenn ich irgendwelche konkrete Evidenz dafür sehen würde, dass die Leute, die du explizit ansprichst, nicht lunatic fringe ist, sondern fest in der Mitte von linken Parteien mit realistischen Ansprüchen auf eine Regierungsbeteiligung verankert sind. Mir persönlich ist jedenfalls nicht klar, wie sich die Beweggründe für die Opposition zu Israels aktueller Politik verteilen zwischen (in meinen Augen sehr berechtigten) humanitärem und antisemitischem Impetus.
Ich habe es schon mal erwähnt, aber das wird im binnendeutschen Diskurs auch ein bisschen wenig beachtet: Dass die UN mit Israel unfair umgeht ist wie gesagt geschenkt, aber das hinderte bisher die westlichen Länder ja keinesfalls, sich auf die Seite Israels zu stellen (und dann bei inhaltlich bedeutungslosen Resolutionsabstimmungen überstimmt zu werden). Dass hier fast kein europäisches Land abgelehnt hat scheint irgendwie niemandem zu denken zu geben. Dass die USA viel deutlicher als sonst Israel öffentlich zur Zurückhaltung drängen, dass in Frankreich Diplomaten auf Posten im Nahen Osten Briefe schreiben, dass Macrons Schlingerkurs eine Gefahr für die diplomatischen Beziehungen Frankreichs in die Region wird, das ist alles neu und ziemlich außergewöhnlich. Dazu höre ich de facto im Diskurs gar nichts, weil es wohl auch nicht plausibel wäre, zu suggerieren alle Länder von Portugal bis Finnland mit Ausnahme von Österreich sind irgendwie vage antisemitisch.
EDIT:
Vergessen: Ich stimme zu, das diplomatisch auf Israel eingewirkt werden sollte, aber auch hier würde ich handfeste Vorschläge (etwa über ein militärisches Engagement) bevorzugen.
Handfest in welchem Sinne? Aktuell liegt der Ball ja auf der Seite der Israelis: Wenn Netanyahus Plan wirklich ernst gemeint ist, dann müsste der Westen Israel erst mal dazu bringen, die Aufgabe jemand anders zu übertragen. Was ich gut fände habe ich vage oben skizziert, aber erstens weiß ich natürlich auch nicht, was genau da diplomatisch möglich wäre und zweitens ist mir ehrlich gesagt unklar, was Europa alleine tun kann. Spielentscheidend sind eindeutig und vermutlich ausschließlich die Amerikaner.
Beispielhaft, weil es sonst zur Wall of Text wird.
Die Raketen sind nur ein plakatives Beispiel, aber doch nicht das einzige?
Ich wollte darauf hinaus, dass häufig so getan wird, als hätte Gaza eine Entwicklungsperspektive, die aber durch Zweckentfremdung der Mittel durch die Hamas zerstört wird. Das ist aber nicht wahr: Die Mittel reichen, selbst wenn die Hamas sie nicht zweckentfremden würde (wie eben durch die Raketen), schlicht kaum aus um humanitäre Grundversorgung zu ermöglichen; der Gedanke dass mit diesen Mitteln wirtschaftliche Entwicklung finanziert werden kann ist schlicht illusorisch und meines Wissens gibt es auch niemand, der das empirisch ernsthaft bestreitet.
Das ist doch alles nicht nur durch Entscheidungen von Israel zu? Es geht ja gerade nicht um die "aktuellen Bedingungen", die von der Hamas herbei geführt werden. Sondern um die Möglichkeiten, wenn die Hamas weg wäre.
Mir ging es sehr wohl um die aktuellen Bedingungen, weil ich sie für eine illegitime Einschränkung der Möglichkeiten menschlicher Entwicklungsperspektive für zwei Millionen Menschen halte. Ich habe nicht gesagt, dass sie ohne Hamas nicht besser wären. Ich sage aber, dass die Existenz der Hamas diese Bedingungen so nicht rechtfertigt, insoweit Israel diese beeinflussen kann, was ein beträchtliches Maß ist.
Mal abgesehen davon, dass deine Behauptungen teilweise schlicht unwahr sind*, kaprizierst du dich einfach darauf, alles kausal der Hamas zuzurechnen, was Israel mit der Hamas rechtfertigt. Das ist aber nur dann ein ein sinnvolles Argument, wenn es eine unabhängige Instanz gibt, die Israel auf die Finger schaut. Wie wir alle wissen gibt es diese nicht. Insofern halte ich "ist halt die Schuld der Hamas, dass Israel den housing stock zerbombt, hätte die Hamas halt nicht angreifen sollen" für extrem inhuman.
*etwa die Behauptung, dass der housing stock nennenswert unter der Zweckentfremdung der Hamas leidet, was VÖLLIG aus der Luft gegriffen ist (de facto wird durch Israel so wenig Baumaterial genehmigt, dass selbst bei 100% Zweckentfremdung durch die Hamas der Einfluss auf das Wohnungsproblem in Gaza gering wäre)