Frau Nübling, in den Medien war die Rede von Sprachwissenschaftlern, „die Sturm laufen“. Fast konnte man glauben, es handele sich um einen Aufschrei der deutschen Linguistik schlechthin. Ist das so?
Das ist nicht der Fall. Diejenigen, die den Aufruf unterzeichnet haben, repräsentieren nicht die in Forschung und Lehre aktive germanistische Linguistik. Einige Linguisten und Linguistinnen sind dabei, aber die große Mehrheit hat in der Linguistik nie gearbeitet, nie publiziert.
Der Aufruf repräsentiert Ihre Sicht und die vieler Ihrer Kolleginnen und Kollegen also nicht?
Wir schütteln nur den Kopf darüber, dass immer wieder dieselben Argumente, die oft keine sind, und Unterstellungen aufgewärmt werden. Die aktive Linguistik interessiert sich kaum für diese Debatten im Feuilleton, sie steht ganz woanders. Große Teile der linguistischen Community äußern sich nicht, weil die öffentliche Diskussion nicht sonderlich anregend ist. Sie tritt seit Jahrzehnten auf der Stelle.
Von denen, die bis Mitte der Woche unterzeichnet haben, scheinen aktuell rund 18 Prozent an einer Universität oder wissenschaftlichen Einrichtung aktiv zu sein – darunter: ein Spezialist für Hindi, ein Gräzist, ein psychologischer Spezialist für Suchtforschung, ein Wirtschaftsinformatiker, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Turkistik, ein Experte für aserbaidschanische Dichtung. Wie kompetent sind die bei Fragen deutscher Grammatik?
In der Tat sind viele davon keine Fachleute für germanistische Linguistik. Die bräuchte es aber, es geht hier ja ums Deutsche. Für die Punkte, um die der Aufruf kreist – etwa das Verhältnis zwischen Genus und Geschlecht –, ist die Genderlinguistik zentral. Aus der ist aber niemand vertreten. Unter den Unterzeichnenden sind auch viele Emeriti und Pensionierte.
Einige geben ihre Emeritierung in der Liste an, andere erwähnen sie gar nicht. Bedeutet ihr Ruhestand, dass sie die Forschung nicht mehr angemessen vertreten?
Ich will keineswegs sagen, dass manche Emeriti nicht noch forschen. Aber viele von den Unterzeichnenden sind in einer anderen Zeit groß geworden. In der Linguistik kam es ab den Neunziger-, spätestens den Nullerjahren zu einer großen empirischen Wende. Zuvor wurde viel Introspektion betrieben. In früheren Arbeiten hat man sich selbst befragt, das eigene Sprachgefühl absolut gesetzt, und das passiert noch häufig. Man nennt das auch „arm-chair-linguistics“, Linguistik vom Sessel aus. Das geht heute nicht mehr, die Ansprüche haben sich geändert.
Wie geht die empirische Linguistik vor?
Zum Beispiel psycholinguistisch, indem sie experimentell im Labor unter Wahrung hoher Standards überprüft, wie Sprache verarbeitet wird oder was mit Wörtern assoziiert wird. Dabei wissen die Testpersonen nie, worauf eine Untersuchung hinauswill. In Akzeptanzstudien geben Menschen an, für wie akzeptabel sie bestimmte Sätze oder Konstruktionen halten. Es gibt Onlineumfragen, die große Mengen von Personen erfassen, aber weniger gut kontrollierbar sind. In der Korpuslinguistik werden riesige Sprachkorpora wie Zeitungen, Wissenschaftstexte, Belletristik, gesprochene Sprache untersucht.
Wie hat das die Linguistik verändert?
Wir erfahren viel mehr über den realen Gebrauch von Sprache, über Häufigkeiten, Wortverbindungen. Zwar ist es auch wichtig, das Sprachsystem zu erforschen. Doch es formt sich aus dem Sprachgebrauch. Sprache wandelt sich permanent, passt sich den gesellschaftlichen Veränderungen an.
Wie schätzen Sie die Inhalte des Aufrufs ein?
Seine Argumentation ist wenig wissenschaftlich. Die meisten Quellen sind Zeitungsartikel, in denen Meinungen verhandelt werden, sehr wenige davon beziehen sich auf wissenschaftliche Forschung.
Worin zeigt sich das zum Beispiel?
Um mit dem ersten Vorwurf zu beginnen, dem, dass Genus und Sexus vermengt würden: Das ist nicht der Fall. Interessanterweise werden nie Arbeiten genannt, die das angeblich tun. Die Genderlinguistik unterscheidet diese Kategorien genauestens und bezieht dabei Gender, das soziale Geschlecht, als wichtige dritte Kategorie mit ein. Genus ist eine grammatische Klassifikation mit den Genera Femininum, Maskulinum, Neutrum. Sexus meint das natürliche Geschlecht und Gender soziale Rollen, Verhaltensweisen, Kleidungsgebote. Gender als soziale Kategorie zeigt sich etwa darin, dass abwertende Bezeichnungen für homosexuelle Männer nicht, wie für männliche Personenbezeichnungen üblich, im Maskulinum stehen, sondern im Femininum, wie „die Schwuchtel“, „die Tunte“.
Im Aufruf heißt es, zwischen Genus und Sexus gebe es „keine durchgängige Korrelation“, „auch wenn“ – das steht in Klammern – eine Korrelation „bei Personenbezeichnungen teilweise zu beobachten ist“.
Es geht bei der Frage nach dem Verhältnis von Genus und Geschlecht nur um Personenbezeichnungen. Da gibt es sehr interessante Korrelationen oder, anders gesagt, Zusammenhänge, Bahnungen. Genau dieses Geflecht von Genus, Sexus und Gender untersuchen wir in der Genderlinguistik. Niemand setzt sie gleich.
Psycholinguistische Studien, so der Aufruf, „liefern keinen belastbaren Beleg dafür, dass generische Maskulina mental vorrangig ‚Bilder von Männern‘ erzeugen“. Sie führen solche Studien durch. Was sagen Sie?
Diese Kritik ist meist unfundiert. Man kann sich immer mehr wünschen, etwa größere Probandengruppen oder die Berücksichtigung weiterer Faktoren. Solche Studien sind extrem aufwendig und anspruchsvoll. Wenn circa 40 psycholinguistische Studien mit verschiedenen Testdesigns belegen, dass maskuline Personenbezeichnungen einen unterschiedlich stark ausgeprägten „male bias“, also tendenziell eher männliche Vorstellungen erzeugen, kann man das nicht einfach vom Tisch wischen. Ich frage mich manchmal, warum diejenigen, die angeblich so viel besser wissen, wie man psycholinguistisch arbeitet, nicht selber Studien durchführen und das Gegenteil beweisen.
Rufen generische Maskulina Ihren Untersuchungen nach ausschließlich Vorstellungen von Männlichkeit auf?
Keineswegs, das ist im Detail sehr komplex, und da beginnt Wissenschaft. Das maskuline Genus bietet eine gewisse Bahnung hin zu einer männlichen Vorstellung, sogar bei unbelebten Dingen oder Tieren. Der Mond wird immer männlich dargestellt, die Sonne weiblich. Der Rhein wird als Mann dargestellt, die Mosel als Frau. In Kinderbüchern tragen Bären und Käfer meist männliche Namen, Bienen und Mäuse weibliche. Es gibt dort eine 90-prozentige Korrelation zwischen Genus und Geschlecht. Umso mehr gilt dies für Personenbezeichnungen. Selbst bei „der Pfleger“ stellt sich ein leichter „male bias“ ein, obwohl in diesem Beruf viel mehr Frauen arbeiten.
Im Aufruf steht, die deutsche Grammatik sei „weder ‚gerecht‘ noch ‚ungerecht‘“.
Grammatik ist entstanden aus Sprachgebrauch, sie ist sedimentiertes Sprechen und konserviert historische Gesellschafts- und Geschlechterordnungen. Da kommt es durchaus zu Asymmetrien. So wissen wir aus psycholinguistischen Studien, dass besonders Berufsbezeichnungen wie Arzt, Arbeiter, Richter einen „male bias“ erzeugen, mehr als Rollenbezeichnungen wie Zuschauer, Einwohner, Passant. Berufstätigkeit ist auch heute noch stärker männlich als weiblich konnotiert, Frauen können erst seit wenigen Jahrzehnten alle Berufe ergreifen. Ein weiteres Beispiel ist die grammatische Tatsache, dass Frauen in gemischten Gruppen sprachlich verschwinden: 99 Sängerinnen und ein Sänger werden zu 100 Sängern.
Befürworten Sie die Idee einer geschlechtergerechten Sprache?
Wir sprechen in der Linguistik weniger von geschlechtergerechter Sprache als von geschlechterbewusstem oder geschlechtersensiblem Sprechen. Will man die Diversität, die gesellschaftlich besteht, in der Sprache abbilden, kann man sich nur annähern. Gerechtigkeit ist eine Illusion. Doch es gibt jetzt eine Generation, der es ein Anliegen ist, die Geschlechter in der Sprache stärker abzubilden.
Wie stehen Sie zu den Debatten um die sogenannte Gendersprache?
Ich appelliere an alle, sie entspannt und tolerant zu führen, auch an diejenigen, die diesen Aufruf unterschrieben haben. Man sollte auch das generische Maskulinum tolerieren, wenn manche das für richtig halten. Es darf nie darum gehen, jemandem eine Sprechweise vorzuschreiben. Ich bin für Pluralisierung, sie lässt sich ohnehin nicht verhindern. Verbote gehen allerdings am stärksten von denjenigen aus, die eine Abkehr von genderbewusster Sprache fordern. Auf der anderen Seite gibt es auch aktivistische Gruppen, die wenig tolerant sind.
Aber die Kritiker der genderbewussten Sprache haben ja den Eindruck, ihnen werde ihre Sprechweise verboten.
Viele bringen sich in eine Opferposition, behaupten, ihnen würde eine neue Sprache vorgeschrieben. Niemand schreibt ihnen etwas vor, niemand muss seine Sprache ändern. Aber die jüngere Generation ist an inklusiverem Sprechen interessiert und praktiziert dies, auch im ÖRR. Das erzeugt bei traditionell Sprechenden einen gewissen Druck, der sie verunsichert. Doch es gibt auch im ÖRR keinen Zwang, sondern Empfehlungen. Ich selbst verwende in bestimmten Situationen einen Knacklaut in „Arbeiter:innen“ oder spreche von Studierenden, aber auch nicht in jeder Situation. Meist versuche ich, Geschlecht zu umgehen. Wir sollten uns alle in Toleranz üben, Argumente zur Kenntnis nehmen und die Bemühungen um geschlechtersensibles Sprechen nicht abwerten.