Das ließt sich schön und macht grds auch Sinn, aber ich bezweifle dass es in der Praxis auch gut funktioniert?
Also konkret: wenn ich jetzt (bin ja kein Beamter, aber Öffi, ich setze mich stellvertretend ein jetzt täglich Sozialhilfeakten bearbeite, welche überkomplizierte Norm darf ich ignorieren?
[...]
Also: grundsätzlich gute Idee, aber wie soll das laufen konkret, wer entscheidet wann die Behörde wo auf welchen § verzichten darf. Hmh.
Na ja, prinzipiell wäre natürlich eine niedrigere Regelungsdichte die sinnvollste Antwort. Die Idee mit der selektiven Anwendung (statt Streichung) bestimmter Gesetze setzt voraus, dass das unrealistisch ist, dementsprechend muss man versuchen sich anders zu helfen. Die Hauptprobleme wären in der Anwendung wohl Rechtsunsicherheit und potenzieller Missbrauch und in der Konzeptualisierung, dass Politiker diese Regeln zumindest prinzipiell für nötig hielten/halten, sonst gäbe es sie wohl nicht*. Insofern müsste jede Lösung mindestens folgende Parameter erfüllen:
- Zentrale Entscheidungsstelle
- Niedrigere Entscheidungsebene
- Nur mittelbar politisch legitimiert
Offensichtliche Ansatzpunkte wären sowas wie economic impact analysis (ist bspw. in der amerikanischen Bundesbürokratie schon Pflicht) auf regionaler/lokaler Ebene und Freistellung gegenüber etwaigen Schadensersatzforderungen. Da könnte man in der Tat Vorschläge direkt von Praktikern einholen und irgendwer, der halbwegs Ökonometrie kann, schaut sich dann an ob sich das lohnt. Ihr kostet ja alle den Staat etwas (eure Gesamtentlohnung + Opportunitätskosten, dass ihr eure Zeit nicht mit sinnvolleren Aufgaben verbringt); man müsste Kosten/Nutzen ja nicht bis auf die Kommastelle genau in Relation bringen, aber ich wette es gibt eine Menge beamtliche Tätigkeiten, deren Nutzen maximal überschaubar ist und/oder deren Kosten zu hoch sind.
Die Politik hätte ihren Watschenmann, wenn irgendwo doch mal jemand wegen eingeschränktem Brandschutz in Flammen aufgeht und Beamte könnten sich auf wichtigere Tätigkeiten konzentrieren. Wenn es der NHS schafft, sowas wie quality adjusted life years für Eingriffe zu berechnen, glaube ich nicht, dass es allzu schwer sein kann, die Vorschläge von Beamten durchzurechnen um zu schauen, ob sich da ernsthaft Zeit einsparen lässt. Mittlerweile lässt sich das sogar marktwirtschaftlich gut begründen, denn der Staat hat (wie so ziemlich alle Arbeitgeber) Probleme, Arbeitnehmer zu finden, insofern kann man das Ganze mit "wir können unsere ganzen Regeln sowieso nicht mehr umsetzen" begründen (was neulich auch ein Jurist in der FAZ getan hat).
Die wichtigste Änderung wäre tatsächlich, den Rechtsstaat auch als Mittel zum Zweck zu sehen, nicht als Selbstzweck. In Deutschland bricht keine Anarchie aus, wenn ein Gremium von Nichtjuristen (nicht mal 1. Staatsexamen!!eins) darüber entscheidet, ob wirklich alle Regeln so angewendet werden müssen. Ideal wäre es natürlich, diese Regeln einfach wieder abzuräumen, aber dafür findet die Politik einfach nicht die Kraft, aber es kann schon auch irgendwie anders gehen. Ironischerweise gibt es sogar ein "law and economics"-Subfield (hauptsächlich) in der (US-amerikanischen) Rechtswissenschaft, das da theoretisch gute Punkte einbringen könnte, nur dass dort halt dummerweise relativ naiv micro vom Stand der 1970er angewandt wird, als man alles noch theoretisch modellieren musste, anstatt reale Daten verwenden zu können. Nun ist "wir brauchen keine Bürokratie, weil der Markt es schon richten wird" auch nicht unbedingt, was ich mir vorstelle.
*sicher gibt es auch unbeabsichtigte/unabsehbare Rechtsfolgen, aber die dürften in der Regel im Vergleich mit den beabsichtigten Folgen überschaubar sein
Neulich wieder nen Artikel über Wohnungspolitik gelesen, wo es um das Recht auf Wohnungstausch ging. Angefragter Kommentar Buschmanns dazu bzw. seiner PR-Abteilung: "Le Grundgesetz garantiert das Eigentuuuum!!!112"
Klar, wir wollen ja nicht bei einem sozialistischen Untechtsstaat wie Österreich oder Schweden enden.
Die FDP hat auch ein sehr instrumentelles Verhältnis zum Grundgesetz.
Was mir bei dem Thema tatsächlich immer wieder auffällt ist die Tatsache, dass in der juristischen Ausbildung normative Erwägungen keine Rolle spielen und die Rechtssoziologie in Deutschland quasi keine Rolle spielt. Es gibt so viele Regelungen in Deutschland, bei denen du mit oft genug nachfragen bei "weil wir es schon immer so gemacht haben" landest und wenn du dir dann anschaust, auf wen dieses "schon immer" zurückgeht sind es Strukturen* aus Zeiten, als man in Deutschland noch kaum von einer funktionierenden Demokratie sprechen konnte. Sicher lässt sich vieles nicht mal so eben über den Haufen werfen, aber im 21. Jahrhundert immer noch viele Dinge wegen status quo bias und Pfadabhängigkeit so zu machen, wie man sie macht, weil irgendwann im 19. Jahrhundert Preußen das für eine gute Idee hält ist halt auch fragwürdig.
*ironischerweise gehört die Juristenausbildung selbst hier dazu; der Abschnitt aus Wehlers Gesellschaftsgeschichte dazu, wie lange der Vorbereitungsdienst für den Staat für Juristen in Preußen gestreckt wurde und was für eine soziale Selektion das (in einem sozial bereits stark selektierten Umfeld) darstellte ist absolut lesenswert
Zu dem anderen Punkt: Mir sind diese Mechanismen der Selbstgeißelung bewusst, aber dass unsere Politiker Lurche sind, die Pipi in den Augen kriegen, wenn der Wähler ihnen auch nur was krumm nehmen könnte, ist imo nicht pauschal dem Wähler anzulasten oder gar als Wählerwunsch zu interpretieren.
Zumal Beispiele wie Boris Palmer und einige andere OBs ja zeigen, dass auch der deutsche Wähler es goutieren kann, wenn jemand unkonventionell die Dinge anpackt.
Da ist sicher auch viel dran. Man hat aber als Politiker auch mehrere Hüte auf und es wird oft unterschätzt, wie sehr die Wähler selbst durch die Politik sozialisiert werden*. Ist glaube ich schon ein enges Nadelöhr, sich einerseits in eine exponierte Stellung vorzuarbeiten, in der man tatsächlich *irgendwas* anstoßen kann und andererseits genug Freiraum zu haben, sowas zu machen.
Palmer ist ja auf eine gewisse Art ein tragisches Beispiel: Klar, Palmer ist ein Querulant und hätte ohne Probleme enden können wie sein Vater. Palmer hätte aber auch das Talent zum Ministerpräsident in Baden-Württemberg gehabt, er hat sich aber durch seine Art anzuecken selbst darauf reduziert, dass es nie zu mehr als zum Oberbürgermeister einer Mittelstadt in Baden-Württemberg reichen wird.
*was schwer erkennbar ist, wenn man nicht entweder ernsthaft über Politik auf eine Art nachdenkt, für das den allermeisten Leuten Zeit und Muße fehlt oder aus irgendwelchen Gründen sehr unterschiedliche politische Systeme kennengelernt hat