Deutschland im Vergleich

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Das ist alles irgendwo zwischen "nicht ganz falsch, aber" und ökonomischer Viersäftelehre. Deutschlands Problem ist nun wirklich nicht, dass es zu wenig Waren exportiert (oder gar noch mehr Waren exportieren sollte), sondern dass der Binnenkonsum zu niedrig ist. So zu tun als könnte man durch magisches Denken wie "Standortwettbewerb" Industriejobs erhalten, die in Wahrheit schlicht nach und nach automatisiert werden, ist nicht viel mehr als Arbeitgeberpropaganda auf den Leim gehen. In derselben Zeit seit Mitte der 1990er, die ich oben beschrieben habe, in der Deutschland den Anteil der Wertschöpfung an der Industrie konstant gehalten hat, hat die Zahl der Arbeitsplätze in der Industrie um 15% abgenommen, obwohl die Zahl der Arbeitnehmer in Deutschland insgesamt im selben Zeitraum um 20% zugenommen hat. Ich kenne absolut niemanden, der nicht denkt, dass dieser Trend anhalten wird.

Dein empirischer Ansatz schaut doch nur rückwärts und nicht vorwärts. Ja, Deutschland hat sich seit Mitte der 90er für ein europäisches Land im Vergleich sehr gut entwickelt.

Aber viele anderen in Europa, vor allem in Südeuropa haben das nicht. Die jetzige politisch angestossene Deindustrialisierung wird dazu führen, dass wir steil in Richtung südeuropäischer Länder gehen, da die Industrie ersatzlos abgeschafft wird. Analog zu Frankreich & Italien, die das in den 80ern und 90ern gemacht haben.

Wieso glaubst Du denn, dass das nicht so kommen wird, wenn wir jetzt hingehen und exportorientierte Industrie durch inlandsorientierte Dienstleistungen ersetzen?
 
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Es ist doch aber relativ naheliegend, sich die Entwicklung in der Vergangenheit anzuschauen und aus dieser Prognosen für die Zukunft zu machen. Machst du doch in deinem Post nicht anders, nur dass du dich auf andere Größen beziehst: In der Vergangenheit hat es die Südländer schwer getroffen, wird uns nicht das gleiche passieren?
Beides muss man natürlich differenziert betrachten, und am Ende muss man schauen, was genau Korrelation und was Kausalität ist, aber ein Vergleich zu Deutschland ist für Deutschlands Zukunft imo schon naheliegender. Und wenn der Trend ist, dass seit Mitte der 90er die Zahl der Arbeitsplätze in der Industrie bereits um 15% abgenommen hat, dann sollte man erstmal nicht den Teufel an die Wand malen, wenn dieser Trend so weitergeht. Bzw. wenn man es für gefährlich/bedenklich hält erklären, wo der Unterschied zu der vergangenen Entwicklung genau liegt und warum das jetzt anders gelagert ist als früher.
 

parats'

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@YesNoCancel das man bei einigen Zuständigkeiten nur den Kopf schütteln kann steht außer Frage. Das es neben deinem Beispiel bestimmt mehrere Dutzend weitere gibt ebenfalls. Wäre es bei zentralistischer Regierung aus Berlin deutschlandweit besser gelaufen? Ich glaube es einfach nicht.
Das man aber mal die eine oder andere Schraube am deutschen Föderalismus drehen muss, steht für mich außer Frage.
 

Gustavo

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Dein empirischer Ansatz schaut doch nur rückwärts und nicht vorwärts. Ja, Deutschland hat sich seit Mitte der 90er für ein europäisches Land im Vergleich sehr gut entwickelt.

Aber viele anderen in Europa, vor allem in Südeuropa haben das nicht. Die jetzige politisch angestossene Deindustrialisierung wird dazu führen, dass wir steil in Richtung südeuropäischer Länder gehen, da die Industrie ersatzlos abgeschafft wird. Analog zu Frankreich & Italien, die das in den 80ern und 90ern gemacht haben.

Wieso glaubst Du denn, dass das nicht so kommen wird, wenn wir jetzt hingehen und exportorientierte Industrie durch inlandsorientierte Dienstleistungen ersetzen?

Na ja, so gut wie jede Industrienation (wie gesagt: inklusive Deutschland in den 1980ern) blutet seit langer Zeit industriell langsam aber stetig aus. Das gilt sowohl für Länder, deren Entwicklung nicht besonders war als auch für Länder, für die das nicht der Fall ist (bspw. die USA, die Niederlande, Schweden etc.); zu behaupten, dass Industrialisierung und wirtschaftliche Stagnation Hand in Hand gehen ist pure selection on the DV. Für die Wachstumsschwäche der Südeuropäer ist der Grad der Industrialisierung überhaupt kein entscheidender Punkt und diese hat auch eingesetzt, lange nachdem die große "Deindustrialierung" abgeschlossen war (übrigens ist Italien vom Industrialisierungsgrad gar nicht so weit von Deutschland weg). Die Südländer haben viel drängere Probleme als das bisschen Deindustrialisierung seit den 90ern, die Volkswirtschaften sind mit Deutschland doch überhaupt nicht zu vergleichen.

Im Übrigen schaut man halt rückwärts, um vorwärts zu prognostizieren. Diese ganze Debatte über die deutsche "Deindustrialisierung" ist doch bisher völliger Hokuspokus: Das ist ein langsamer Prozess, der sich überhaupt nicht aufhalten lässt, der nicht hauptsächlich an Energiepreisen hängt und der von der Wirtschaft selbst ausgeht, nicht von der Politik.
 
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Das Schaf

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Gustavo

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volle artikel:
https://www.reddit.com/r/Economics/comments/15tte3g

Ich glaube ja wie gesagt sowieso nicht, dass alles so drastisch ist. Aber man muss auch schon so fair bleiben: Wenn man von einer Agenda 2030 redet muss man sich schon klar machen, was man sich darunter genau vorstellen soll.
- "Bürokratiereform", "Digitalisierung" und Liberalisierung des Einwanderungsrechts sind bestenfalls auf die sehr lange Sicht nennenswerte Wachstumsimpulse (wenn überhaupt), dazu gibt es bisher auch so gar keine Anzeichen dass Deutschland Ersteres und Letzteres tatsächlich möchte, sobald man die Begriffe mit Leben füllt.
- Denselben Trick wie die Agenda 2010, der im wesentlichen "Arbeit günstiger machen"* war, wird in Anbetracht der Fachkräfteknappheit und der bereits erlittenen Kaufkraftverluste kaum nochmal funktionieren
- "Infrastruktur" kostet eine Menge Geld und alle wissen, dass es politisch völlig unmöglich (und makroökonomisch wohl auch höchst fragwürdig) ist, solche Mengen aus dem laufenden Haushalt einzusparen. Das hieße Deutschland müsste neue Schulden machen.

Ich bin nach wie vor der Meinung dass es überhaupt keinen Grund gibt, auf Schulden zu verzichten und mir kann auch niemand erklären, warum man über die ganzen 2010er-Jahre unter dem Mantra "handlungsfähig bleiben" die Schuldenquote abgetragen hat, wenn man dann in den 2020ern nach dem ersten Schock der doppelten Krise nach zwei Jahren den Fuß wieder vom Gas nimmt, während sich in der Bevölkerung (ob jetzt irrig oder nicht) die Sichtweise einstellt, dass wir wirtschaftlich im freien Fall sind und völlig unzweifelhaft ein Nachfragedefizit ansammeln. Das mit vagem Handgewedel und Verweis auf Inflation (obwohl überhaupt nicht klar ist, dass die durch steigende Nachfrage entscheidend beeinflusst wurde) und Verfassung (dümmstes Argument überhaupt) zu beantworten ist halt politisch eine Sackgasse und ich sehe nicht, wie das unter der aktuellen Regierung aufgelöst werden soll. Mittlerweile müsste man sich echt fast wünschen, die Union hätte die Wahl 2021 doch wieder gewonnen und wir hätten wieder eine große Koalition bekommen ...




*gepaart mit einer großen Menge makroökonomischen Glücks
 
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Was willst du damit sagen?
Also das Gegenteil von deinem vorherigen Beitrag?!

sehe ich nicht so, das eine ist rückwärtsgerichtet, das andere vorwärtsblickend. deutschland ist nach wie vor sehr china-export-orientiert aufgestellt und dabei maßgeblich auf günstige energie angewiesen. beides zerbröselt gerade. klar, bei china versucht man jetzt noch mal die kehrtwende, in dem die unternehmen ihr china-geschäft in eigenständige tochtergesellschaften abkapseln wie es die großen bereits tun, um die mutterunternehmen besser zu schützen. trotzdem sind massiv deutsche investitionen nach china geflossen, die im zweifel ebenso weg sind wie die milliarden in nordstream 1 und 2. und das alleine ist noch nicht mal das schlimmste: der zeitverlust wird sich wahrscheinlich rächen. inbesondere unsere industrie-schwergewichte tun sich gerade schwer eine richtungskorrektur vorzunehmen, während der markt sich schneller dreht (hallo autoindustrie), neue industriezweige wurden nicht geschützt (hallo solar-industrie) oder ins ausland verkauft (hallo robotik/kuka). und jetzt pumpen wir milliarden in zweigstellen von intel und tsmc, die zum nulltarif bauen und wahrscheinlich einen nokia pullen.
 

Gustavo

Doppelspitze 2019
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Bild, das jeder mal gesehen haben sollte. Das deckt den größten Teil dessen ab, was der Staat als "Sozialleistungen" bezahlt. Weil ich weiß, dass die meisten Leute ein Bild vor Augen haben, das der Realität überhaupt nicht entspricht: Deutschland zahlt vergleichsweise einen geringen Anteil des BIP als Geldleistungen an Nichtrentner (Hartz IV, Kindergeld, Wohngeld etc.) und den Löwenanteil an Rentner. Deutschland zahlt ebenfalls einen weit überdurchschnittlichen Teil für Gesundheit, was wiederum zu einem Löwenanteil an Rentner geht (und teilweise der Tatsache geschuldet ist, dass unser System vergleichsweise teuer ist). Bei den social services liegen wir im oberen Mittelfeld.
Was ich damit sagen will: Wer wirklich den Sozialstaat zurückstutzen will, um davon Investitionen zu bezahlen, der muss sich ehrlich machen. Das wird nicht dadurch passieren, dass man ein paar weniger Flüchtlinge reinlässt oder ein bisschen Hartz IV kürzt. Das geht nur durch Leistungskürzung bei Rentnern. Insbesondere die Erzähung, die so gut bei populistisch veranlagten Bürgern verfängt, man könne bei den Nichtrentnern sparen um bei den Rentnern großzügiger zu sein wird niemals aufgehen. Wenn man die AfD hört, ist das allerdings das Einzige, was jemals an substanziellen Vorschlägen kommt: Ja, kann man bei den Flüchtlingen einsparen.
Nb: Ein beträchtlicher Teil dieser Tatsache geht auf den schlichten Fakt zurück, dass wir sehr viele Rentner haben im Vergleich zu anderen Ländern.



Wohlgemerkt: Wie immer sind die Zahlen immer auch ein bisschen eine Frage der Definition. In der Schweiz bspw. zahlt der Staat sehr viel weniger für Gesundheit als in den allermeisten Ländern. Das liegt aber letztendlich daran, dass die Schweizer ein privates System haben, das aber so stark reguliert ist, dass es einem öffentlichen System in seiner Funktionsweise ziemlich nahe kommt, nur halt ohne staatliche Leistungen. Das sollte allerdings nicht den Blick darauf vernebeln, dass die Funktionsweise im wesentlichen dieselbe ist und die Unterschiede mehr eine Definitionsfrage.
 
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Die hälfte der stationären Krankheitskosten zahlen in der Schweiz die Kantone. Trotz "privatem" System und auch die "privaten" Prämien (also Versicherungskosten) werden für Geringverdiener stark subventioniert. Daher wohl die relativ hohen "Cash Benefits" bzw. "Income support" in der Statistik (wüsste nicht, was das sonst sein sollte). Schwer zu sagen ohne die Methodik zu kennen aber wär für mich so auf anhieb ne logische Erklärung.
 

Gustavo

Doppelspitze 2019
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Guter Artikel von Boris Palmer zum Thema "Bürokratieabbau". Meine Vermutung ist, dass er recht hat: Mit "den Katalog durchgehen und Sachen rausstreichen" wird es nicht gehen, dafür bauen viel zu viele der aufgeschichteten Regeln aufeinander auf. Wenn ich schon sehe, dass die Bundesregierung in Gestalt der FDP (!) gerade ernsthaft "Firmen müssen bestimmte Dokumente sieben statt zehn Jahren aufbewahren" als Bürokratieabbau verkaufen wollen, muss man sich schon an den Kopf fassen.

Insbesondere diesen Punkt von Palmer würde ich unterstreichen

3. Deutschen Perfektionismus überwinden

Je mehr ein Land durchreguliert ist, umso geringer ist der Zugewinn weiterer Regeln. Der Begriff des Grenznutzens ist aus der Ökonomie wohl bekannt, in der Bürokratie aber weithin verkannt. Ob es sich noch lohnt, auf ein Schutzniveau von 99 Prozent weitere 0,1 Prozent draufzusatteln, wird kaum diskutiert. Wir müssen als Gesellschaft Risiken besser bewerten und Restrisiken als solche akzeptieren. Nichts ist hundertprozentig sicher.

Allerdings verkennt Palmer hier imo ein bisschen den Punkt. Das Problem ist imho, dass im deutschen Staatswesen die Regeln häufig als Selbstzweck gesetzt werden. Der "Grenznutzen" des Einhaltens einer Regel ist nach Anschauung der deutschen Bürokratie eben nicht "was bringt es uns, wenn wir Regel X einhalten" sondern "der Rechtsstaat als solcher". Solange der deutsche Staat vollgestopft ist mit Leuten, die glauben dass Regeleinhaltung einen extrem hohen Eigenwert hat wird man aus der Nummer nicht rauskommen, außer halt man tut was Palmer vorschlägt: Man lässt Kommunen Regeln bewusst brechen.
 

Benrath

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Guter Artikel von Boris Palmer zum Thema "Bürokratieabbau". Meine Vermutung ist, dass er recht hat: Mit "den Katalog durchgehen und Sachen rausstreichen" wird es nicht gehen, dafür bauen viel zu viele der aufgeschichteten Regeln aufeinander auf. Wenn ich schon sehe, dass die Bundesregierung in Gestalt der FDP (!) gerade ernsthaft "Firmen müssen bestimmte Dokumente sieben statt zehn Jahren aufbewahren" als Bürokratieabbau verkaufen wollen, muss man sich schon an den Kopf fassen.

Insbesondere diesen Punkt von Palmer würde ich unterstreichen



Allerdings verkennt Palmer hier imo ein bisschen den Punkt. Das Problem ist imho, dass im deutschen Staatswesen die Regeln häufig als Selbstzweck gesetzt werden. Der "Grenznutzen" des Einhaltens einer Regel ist nach Anschauung der deutschen Bürokratie eben nicht "was bringt es uns, wenn wir Regel X einhalten" sondern "der Rechtsstaat als solcher". Solange der deutsche Staat vollgestopft ist mit Leuten, die glauben dass Regeleinhaltung einen extrem hohen Eigenwert hat wird man aus der Nummer nicht rauskommen, außer halt man tut was Palmer vorschlägt: Man lässt Kommunen Regeln bewusst brechen.

Kann da schon einiges von nachvollziehen. Bei der Frage nach wer die Verantwortung übernimmt, lache ich sonst auch immer. Was heißt schon Verantwortung übernehmen, wenn ich eigentlich nicht gefeuert werden kann und im Fall der Fälle sowieso alles zerredet wird.

Den letzten Punkt kann ich aus seiner Perspektive nachvollziehen, aber es ist imho eher Ursache des Problems als die Lösung

5. Problemdistanz des Normgebers verringern​

So wie der Blick nach rechts und links oft fehlt, ist auch die Entfernung zum Problem häufig ein Problem. Landesparlamente sollten die Interessen der kommunalen Basis im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigen, tun dies aber mangels Kompetenz selten. Städte und Gemeinden müssen daher institutionell stärker eingebunden werden. Sie sind es schließlich häufig, die umsetzen müssen, was anderswo entschieden wird.

Imho gibt es die drölf Millionen Normen und Regelung, weil man die Problemdistanz so reduziert hat, um möglichst jeden Einzelfall zu klären und merkt nun, dass das irgendwie nicht mehr geht, und immer neue Probleme verursacht.

Seine Lösung kann ich eher verstehen
Gebt den Kommunen das Recht, begründet von den zigtausend Vorschriften und Normen abzuweichen, wo dies vor Ort notwendig erscheint. Wir brauchen diese kommunale Abweichungskompetenz

Imho müsste es mehr abstrakte Regelungen geben, die dann dann transparent ausgelegt werden. Das kann man auch dokumentieren und mit der Zeit anpassen, solange es weiterhin auf die abstrakte Regelung passt.
 

GeckoVOD

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Im Großen und Ganzen sind da interessante Gedanken, paar Beispiele allerdings eher fragwürdig. Gerade Brandschutz und Verkehrssicherung finde ich völlig in Ordnung. Lieber ein Klassikkonzert weniger statt eine kaputte Love Parade später. So krass sind die Auflagen i.d.R. für die reine Veranstaltung nicht. Das ist schon Weinen auf hohem Niveau.

Trotzem hat er insofern Recht, als das es die Regeln und Normen nicht in der heutigen Form bräuchte. Zentral, bundesweit ein Katalog, keine Sonderformen vor Ort und gut ist. Das würde allein einiges beschleunigen, da braucht es keine Sonderentscheidungen für Kommunen. Daher auch # an Benrath für Punkt 1 und 2, so lange man nicht fahrlässig handelt, ist einiges möglich. Da fehlt erfahrungsgemäß einfach das Verständnis, gehen würde schon mehr.
 
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Im Großen und Ganzen sind da interessante Gedanken, paar Beispiele allerdings eher fragwürdig. Gerade Brandschutz und Verkehrssicherung finde ich völlig in Ordnung. Lieber ein Klassikkonzert weniger statt eine kaputte Love Parade später. So krass sind die Auflagen i.d.R. für die reine Veranstaltung nicht. Das ist schon Weinen auf hohem Niveau.
Daran musste ich bei der Verkehrssicherung auch denken. So ein Fahrzeug hat einen Antrieb, natürlich kann es entgegen der Fliehkraft nach innen von der Fahrbahn abkommen. Passiert durch Überreaktion der Fahrer auch nicht zu selten. Die Lösung ist dann aber natürlich nicht, die PV-Anlage zu verbieten sondern eine Schutzplanke da zu setzen, wo ein von der Spur abkommendes Fahrzeug ein Hindernis treffen könnte. Das ist ziemlich wenig Aufwand.

Insgesamt kann ich vieles, was Palmer da sagt nachvollziehen und es gibt sicherlich einen riesen Haufen nutzloser Regelungen in Deutschland. Die Krux ist dabei aber, die nützlichen von den nutzlosen Regelungen zu unterscheiden und den Einfluss auf das Schutzniveau korrekt einzuschätzen. "Pah, diese baulichen Anforderungen an Korrosionsschutz sind übertrieben!" hat dazu geführt, dass in Köln ne Betonschutzwand auf ein Fahrzeug gefallen und eine Frau getötet hat. Ohne diese Anforderung würde es deutlich mehr solcher Zwischenfälle geben.

Deutlich ist es natürlich bei dem Lärmschutzbeispiel, das ist absurd. Und auch bei Genehmigungsplanung kann ich ein Liedchen singen. Aber das "Nichts ist hundertprozentig sicher." ist mir zu lapidar. Sobald nach Gefährdungsbeurteilung eine Gefahr für Menschenleben vorliegt, sollte man diese zu minimieren haben. Den Fokus als Gesellschaft darauf zu legen, da genau hinzugucken sicherlich gern. Aber z.B. viele Normen aus der Elektrotechnik, die mir zu Anfang ziemlich überzogen schienen, kann ich mittlerweile nachvollziehen. "Die Regeln sind mit Blut geschrieben." sagt mein Chef immer.
 
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[…] Deutschlands Problem ist nun wirklich nicht, dass es zu wenig Waren exportiert (oder gar noch mehr Waren exportieren sollte), sondern dass der Binnenkonsum zu niedrig ist. So zu tun als könnte man durch magisches Denken wie "Standortwettbewerb" Industriejobs erhalten, die in Wahrheit schlicht nach und nach automatisiert werden, ist nicht viel mehr als Arbeitgeberpropaganda auf den Leim gehen. In derselben Zeit seit Mitte der 1990er, die ich oben beschrieben habe, in der Deutschland den Anteil der Wertschöpfung an der Industrie konstant gehalten hat, hat die Zahl der Arbeitsplätze in der Industrie um 15% abgenommen, obwohl die Zahl der Arbeitnehmer in Deutschland insgesamt im selben Zeitraum um 20% zugenommen hat. Ich kenne absolut niemanden, der nicht denkt, dass dieser Trend anhalten wird.
Also nochmal dazu wie ich das mit "der Industrie" meinte: Ich meine damit nicht nur produzierendes Gewerbe im engeren Sinne, sondern auch wertschöpfende Tätigkeiten im Bereich Software, Pharma usw. also Tätigkeiten die irgendwie zu einem Produkt führen.
Ich möchte da explizit ausschließen: Bürokratieaufwände (obvsly) und vor allem "den Dienstleistungssektor" in dem Sinne, dass (tlw. teure) Dienstleistungen erfasst werden, welche an sich aber keine wirklichen Werte schaffen und/oder nur zur Bewältigung von bürokratischen Anforderungen notwendig sind und/oder eher konsumptiv sind. Egal wie viel utility ein toll servierter Cappuccino oder eine tolle Feng Shui Beratung stiftet, es ist eben schon etwas anderes als die Herstellung einer Werkzeugmaschine oder einer Prozesssteuerung die irgendetwas merklich effizienter macht.
Am Ende sehe ich nicht, wie Leistungen des tertiären Sektors einen starken sekundären Sektor aufwiegen können. Selbst die anspruchsvollste Finanzdienstleistung (hallo City of London) ist am Ende eben nichts was _wirklich_ Wohlstand schafft, sondern im besten Fall ein Katalysator, um einen produktiven Prozess irgendwie effizienter zu machen. Im schlechtesten Fall ist es einfach ein Schritt in dem gut bezahlte Menschen die Hand aufhalten, um für hand-waving bezahlt zu werden, welches eigentlich sowohl unnütz als auch nicht wertschöpfend ist … und damit nichts was wirklichen Wohlstand schafft solange man es nicht an irgendwen dummes im Ausland verkaufen kann (hallo City of London, hallo dumpfbackiges Deutschland).

Bild, das jeder mal gesehen haben sollte. Das deckt den größten Teil dessen ab, was der Staat als "Sozialleistungen" bezahlt. Weil ich weiß, dass die meisten Leute ein Bild vor Augen haben, das der Realität überhaupt nicht entspricht: Deutschland zahlt vergleichsweise einen geringen Anteil des BIP als Geldleistungen an Nichtrentner (Hartz IV, Kindergeld, Wohngeld etc.) und den Löwenanteil an Rentner. Deutschland zahlt ebenfalls einen weit überdurchschnittlichen Teil für Gesundheit, was wiederum zu einem Löwenanteil an Rentner geht (und teilweise der Tatsache geschuldet ist, dass unser System vergleichsweise teuer ist). Bei den social services liegen wir im oberen Mittelfeld.
Was ich damit sagen will: Wer wirklich den Sozialstaat zurückstutzen will, um davon Investitionen zu bezahlen, der muss sich ehrlich machen. Das wird nicht dadurch passieren, dass man ein paar weniger Flüchtlinge reinlässt oder ein bisschen Hartz IV kürzt. Das geht nur durch Leistungskürzung bei Rentnern. Insbesondere die Erzähung, die so gut bei populistisch veranlagten Bürgern verfängt, man könne bei den Nichtrentnern sparen um bei den Rentnern großzügiger zu sein wird niemals aufgehen. Wenn man die AfD hört, ist das allerdings das Einzige, was jemals an substanziellen Vorschlägen kommt: Ja, kann man bei den Flüchtlingen einsparen.
Nb: Ein beträchtlicher Teil dieser Tatsache geht auf den schlichten Fakt zurück, dass wir sehr viele Rentner haben im Vergleich zu anderen Ländern.

Wohlgemerkt: Wie immer sind die Zahlen immer auch ein bisschen eine Frage der Definition. In der Schweiz bspw. zahlt der Staat sehr viel weniger für Gesundheit als in den allermeisten Ländern. Das liegt aber letztendlich daran, dass die Schweizer ein privates System haben, das aber so stark reguliert ist, dass es einem öffentlichen System in seiner Funktionsweise ziemlich nahe kommt, nur halt ohne staatliche Leistungen. Das sollte allerdings nicht den Blick darauf vernebeln, dass die Funktionsweise im wesentlichen dieselbe ist und die Unterschiede mehr eine Definitionsfrage.
Ich finde ja, dass wir extrem viel auch schon mittelfristig durch eine konsequente Digitalisierung erreichen könnten.
Verbunden mit einem Umbau des Föderalismus hin zu einerseits mehr Subsidiarität da wo sie Sinn ergibt und andererseits zu deutlich mehr Standardisierung wie von YNC dargelegt. Gerade kommunale Prozesse sollten eigentlich extrem dankbar sein für sowas. Was da sinnlos an Lebensarbeitszeit verschlissen wird ist einfach nicht feierlich.

Was die Rentner angeht … ja, konnte ja keiner ahnen, dass die Rente mit 63 eine Scheißidee ist. Die Krokodilstränen von Andrea Nahles diesbezüglich sind der pure Hohn. Es spricht zwar für sie, dass sie da so offen ist, aber es sollte jedem aufrechten Mitglied von SPD und Union die Schamesröte ins Gesicht treiben was in den Groko-Legislaturperioden an schamlosen Stimmenkäufen passiert ist, was uns sehenden Auges diese Probleme gebracht hat. Jede/r der/die heute noch dafür ist sollte jeden Morgen beim Aufstehen unerwartet eine gewemst bekommen.

Dummerweise ist die Ampel ja nicht besser. Es geht mir nicht in den Kopf wie eine Frau wie Lisa P. so merkbefreit sein kann und gleich das nächste schlecht durchdachte Bürokratiemonster auf die Straße bringen will … zudem als Volkswirtin. Ihre Äußerungen in einem Interview in der letzten Woche waren einfach nur purer Fremdscham.
Dabei ist die Grundidee ja gar nicht einmal schlecht, also das Bündeln von Leistungen. Aber allein schon das Polemisieren ggü. dem durchaus berechtigten Argument, dass eine Investition in Schulbildung und Kitas eventuell die lohnendere Investition wäre, zeigt mir, dass es hier halt wieder um Politik und nicht um Problemlösungen geht :/
 
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Ich hab es schon mal erwähnt, aber in Deutscchland wird über völlig belanglose Themen wie "Enteignung der Sparer" (durch niedrigen Leitzins) gesprochen, während kein Schwein sich für die effektive Sondersteuer interessiert, die man auf den Erwerb von Wohneigentum zahlt, wenn man in den 1980ern statt den 1950ern geboren wurde.
Versteh auch immer nicht, wie das so entkoppelt wird. Wir suchen jetzt eher entspannt seit etwa drei Jahren und es gibt Angebote, die vom Nutzwert her in einer ähnlichen Liga spielen, aber die Mieten schwanken locker um 500, teils bis 1000 Euro. Jenachdem wie viel Glück man bei der Suche hat, ist man schnell mal mit ein paar zehntausend Euro mehr oder weniger committet auf die nächsten Jahre.
Das treibt uns als Familie jedenfalls deutlich mehr um als die paar Kröten Be-/Entlastung bei Steuern und Abgaben, um die es gemeinhin geht. Und die fließen wenigstens in staatliche Infrastruktur, die uns selbst nützt oder Leuten, denen es deutlich schlechter geht, während Mieten die Taschen Begüterter schwellen lassen.
Trotzdem wird die politische Diskussion oft so geführt, als ginge den Staat das eine wenig an und als sei das andere der Gradmesser, ob sich Leistung noch lohnt. Man müsste lachen, wenns nicht zum Weinen wäre ...
 

Gustavo

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Siehe den ersten Post in diesem Thread. Zitat:

"Deutschland #2 bei absoluter Abgabenlast": Ja, wenn man sich eine Art von Einkommen (Erwerbseinkommen) für eine Haushaltsform (Single-Haushalt) für eine bestimmte Verdienstklasse anschaut. Warum man das tun sollte, wenn man auch einfach die viel aussagekräftigere Abgabenquote (Steuern und Abgaben durch BIP) anschauen kann?
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157383/umfrage/abgabenquoten-ausgewaehlter-staaten/. Mittelfeld.
 

Gustavo

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echt mal, diese drecks populistische, dumme oecd ey, steht bestimmt der afd nahe :mad:

Die OECD nennt das aber auch "taxing wages", nicht "taxing workers". Die zahlen nämlich nicht nur Einkommenssteuer und Abgaben, sondern auch Verbrauchssteuern etc.
 
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Dummerweise ist die Ampel ja nicht besser. Es geht mir nicht in den Kopf wie eine Frau wie Lisa P. so merkbefreit sein kann und gleich das nächste schlecht durchdachte Bürokratiemonster auf die Straße bringen will … zudem als Volkswirtin. Ihre Äußerungen in einem Interview in der letzten Woche waren einfach nur purer Fremdscham.
Dabei ist die Grundidee ja gar nicht einmal schlecht, also das Bündeln von Leistungen. Aber allein schon das Polemisieren ggü. dem durchaus berechtigten Argument, dass eine Investition in Schulbildung und Kitas eventuell die lohnendere Investition wäre, zeigt mir, dass es hier halt wieder um Politik und nicht um Problemlösungen geht :/

Du tust ja gerade so als sei mit der fdp auch nur ansatzweise irgendwas möglich was signifikant geld kostet. Steuersenkungen an der Spitze mal ausgenommen.
 
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Ich rede nicht von der FDP. Ich rede nur von einer Entscheidung die offensichtlich überhastet und mit wenig Fokus aufs Ergebnis und umso mehr Fokus auf die politische Symbolwirkung getroffen wurde. Auch wenn ich mich selbst als öko-liberal-sozial bezeichnen würde, habe ich vermutlich deutlich mehr mit SPD und Grünen gemein als mit der FDP.

Was wir wollen sollten ist eine Konsolidierung von staatlichen Leistungen unter Berücksichtigung von Digitalisierungspotentialen und der Zersplitterung der Verantwortung. Beides verbessert sich wenig bis gar nicht mit dem "ganz tolle gute Kindergrundsicherungs-Gesetz". Das ist der gleiche Effekt den man auch im Management von "normalen" Unternehmen sieht, wenn eine Abteilung etwas will, und sich eine andere (betroffene) dagegen sträubt. Da wird dann eine Parallelstruktur um die Bremser drumherum gebaut, um wenigstens irgendwas zu schaffen … mit allen Vor- und Nachteilen.
 

Celetuiw

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Ich rede nicht von der FDP. Ich rede nur von einer Entscheidung die offensichtlich überhastet und mit wenig Fokus aufs Ergebnis und umso mehr Fokus auf die politische Symbolwirkung getroffen wurde. Auch wenn ich mich selbst als öko-liberal-sozial bezeichnen würde, habe ich vermutlich deutlich mehr mit SPD und Grünen gemein als mit der FDP.

Was wir wollen sollten ist eine Konsolidierung von staatlichen Leistungen unter Berücksichtigung von Digitalisierungspotentialen und der Zersplitterung der Verantwortung. Beides verbessert sich wenig bis gar nicht mit dem "ganz tolle gute Kindergrundsicherungs-Gesetz". Das ist der gleiche Effekt den man auch im Management von "normalen" Unternehmen sieht, wenn eine Abteilung etwas will, und sich eine andere (betroffene) dagegen sträubt. Da wird dann eine Parallelstruktur um die Bremser drumherum gebaut, um wenigstens irgendwas zu schaffen … mit allen Vor- und Nachteilen.
Wer ist in der Analogie die Bremser Abteilung? Also was sollte konkret mit was zusammengelegt werden?
 
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Die mangelhafte Planung. Es ist als politisches Leuchtturmprojekt _eines_ Ministeriums geplant, und eben nicht als gemeinsame Anstrengung, um das Leben der Menschen besser zu machen. Positiv gesagt versuchen sie lieber schnell ein dünnes Brett als langsam ein sehr dickes Brett zu bohren. Negativ gesagt geht es halt mehr um den symbolischen Schnellschuss als um die sinnvollere große Lösung.

Die bisher beste Kritik die ich gelesen habe, zielte darauf ab, dass hier ziemlich viel Verwaltung geschaffen wird, weil Paus und ihr Stab wenig Rücksicht auf die existierenden Strukturen genommen haben. Letztlich erschien es mir v.a. sehr unausgegoren und wenig auf eine wirkliche Konsolidierung dort angelegt wo die Kosten bzw. die Arbeitsaufwände entstehen. Meine Ideallösung wäre stärker auf Konsolidierung und Digitalisierung der Verwaltungsleistung gerichtet, damit sich nicht mehrere öffentliche Stellen mit der Familienkasse abstimmen müssen, bis ein Verfahren für eine Familie durch ist.
Es hätte ein schönes Beispiel für eine digitalisierte Leistung werden können.
Ich habe es jetzt nicht mehr im Detail im Kopf wie es erklärt wurde, aber ich meine, dass eine Bottomline war, dass es wohl sinnvoller gewesen wäre, die Leistung mit allem drum und dran bei den Familienkassen zu bündeln anstatt noch andere da mit reinzuziehen.

Die Rechnung für die "Rentabiliität" ist leider auch eher so mittelgut gelungen. "Kinder in beschissenem Kontext kosten uns drölfzig Milliarden pro Jahr, also lohnt es sich wenn wir ein Fünftel davon für Kinder ausgeben" (Zahlen sind ausgedacht) … ist halt nur ein mäßig gutes Argument wenn man unterschlägt, dass das ausgegebene Geld dann auch mindestens ein Fünftel des Problems lösen müsste, was es aber nicht tun wird.

Die Idee an sich ist ja nicht einmal schlecht. Aber sie krank eben an der Umsetzung. Allein schon die Seite des Ministeriums macht mir Krebs weil sie für mich mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen...cherung-eine-leistung-fuer-alle-kinder-228230

Und wenn die hier genannte Zahl für den (mutmaßlich jährlichen) Verwaltungsaufwand stimmt (500 Mio vs. 2400 Mio Budget), dann ist das echt kein guter Deal: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/kindergrundsicherung-paus-merz-100.html
 
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Gustavo

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Guter Artikel in der FAZ über Bürokratie und Überbürokratisierung. Kurzform: Irgendwie sind wir alle Schuld daran, weil wir es nicht anders wollen.
 
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Naja, da steckt imo ein gehöriges Maß an Einbildung drin.
Ich kann mich an keine Wahl erinnern, die wegen eines Aufschreis aufgrund unzureichend bürokratisierter Einzelfallgerechtigkeit entschieden wurde. Ich kann mich überhaupt an keine Wahl erinnern, wo derartige Spezialitäten eine entscheidende Rolle spielten.
Natürlich rümpft jeder die Nase, wenn er ein Privileg aufgeben muss. Wenn es in der Gesetzgebung mehr Breitschwert und weniger Skalpell gibt, muss man eben erklären, worum es geht und wer am Ende profitiert - hoffentlich die Meisten.
„Der Verwaltungsbeamte, der einen Fehler macht, wird zur Rechenschaft gezogen, ob von seinem Vorgesetzten oder vor Gericht. Deshalb verlangt er nach immer mehr Regulierung oder nach dem dritten Gutachten, wenn er Ermessen ausüben muss“, sagt Goebel. „Bei uns im Unternehmen haben wir dagegen keine solche Fehleraversion, sondern eine positive Fehlerkultur. Wir sagen: Übernimm Verantwortung, entscheide selbst. Und wenn Fehler passieren, fragen wir: Was machen wir in Zukunft besser?“ Das gebe es beim Staat viel zu wenig.
Auch das scheint mir maßlos übertrieben. Ich hab schon Storys gehört von Beamten, die grandiosen Mist gebaut haben und denen ziemlich genau nichts passiert ist und noch nie eine davon, dass jemand für einen gut gemeinten Fehler unbarmherzig zur Rechenschaft gezogen wurde.
Es wird letztlich immer so sein, dass die Einzelfallentscheidung Richtung Sicherheit skewed ist, weil du als Zuständiger wenigstens theoretisch ein Risiko trägst, wenn du zu großzügig auslegst und nichts zu verlieren hast, wenn du besonders streng bist.
Dem müssen die Gesetze und Verordnungen selbst natürlich Rechnung tragen.

Imo werden hier doch größtenteils Klischees vorgetragen.
 
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Denke auch dass die "Einzelfallgerechtigkeit", die zu immer neuen Regeln, Ausnahmen etc führt nicht wirklich den "Wählerwillen" abbildet.

Denke das ist öfter ..

- Lobbywille als "Gerechtigkeit" getarnt
- Kuddelmuddel-Kompromisse, weil man sich den großen (und vereinfachenden) Wurf nicht traut / sein politisches Kapital nicht dafür einsetzen will

Indirekt ist natürlich der Wähler "schuld", weil er ja die Akteure wählt. Aber das ist ja tautologisch, wird also nicht gemeint sein (paywall).
 

Gustavo

Doppelspitze 2019
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Naja, da steckt imo ein gehöriges Maß an Einbildung drin.
Ich kann mich an keine Wahl erinnern, die wegen eines Aufschreis aufgrund unzureichend bürokratisierter Einzelfallgerechtigkeit entschieden wurde. Ich kann mich überhaupt an keine Wahl erinnern, wo derartige Spezialitäten eine entscheidende Rolle spielten.


Das ist wahr. Das ist aber häufig gar nicht der Punkt. In der Politikwissenschaft wurde relativ regelmäßig gezeigt, dass die tatsächliche Chance für viele Amtsinhaber, durch Abwahl ihr Amt zu verlieren, gering ist, aber die Amtsinhaber trotzdem großen Wert darauf legen, nicht negativ herauszustechen. Im principal-agent framework mit Politik <--> Verwaltung wurde das mal treffend als police patrol vs fire alarm bezeichnet: Relativ konstante, prophylaktische Kontrolle ohne Anlass vs. fokussierte Aufmerksamkeit bei gegebenem Anlass. Politiker versuchen, Letzteres zu vermeiden, selbst wenn dabei suboptimale Lösungen rauskommen. Insbesondere wenn alle anderen dieselbe Lösung wählen kann einem dann niemand was.


Auch das scheint mir maßlos übertrieben. Ich hab schon Storys gehört von Beamten, die grandiosen Mist gebaut haben und denen ziemlich genau nichts passiert ist und noch nie eine davon, dass jemand für einen gut gemeinten Fehler unbarmherzig zur Rechenschaft gezogen wurde.
Es wird letztlich immer so sein, dass die Einzelfallentscheidung Richtung Sicherheit skewed ist, weil du als Zuständiger wenigstens theoretisch ein Risiko trägst, wenn du zu großzügig auslegst und nichts zu verlieren hast, wenn du besonders streng bist.
Dem müssen die Gesetze und Verordnungen selbst natürlich Rechnung tragen.

Imo werden hier doch größtenteils Klischees vorgetragen.


Das sind allerdings genau die Klischees, die Politiker selbst auch häufig glauben und das ist in dem Fall, was zählt. Und du bist imho tatsächlich in einer bescheidenen Position, wenn du das verteidigen sollst. Stell dir mal jemand konfrontiert dich damit, dass du der einzige Bürgermeister im Bundesland bist, der auf eine bestimmte Brandschutzmaßnahme verzichtet und du sagst "ja, Aufwand und Ertrag stehen in keinem Verhältnis." Sowas kannst du nur bringen, wenn du keiner Kontrolle unterliegst. Dass jetzt in der Beamtenschaft selbst Haftungsprobleme den Ausschlag geben glaube ich auch nicht wirklich. Aber dass Leute in Verantwortung an den fire alarm glauben, das ist imho ziemlich sicher so.

Das Beispiel mit dem BER ist imho schon ganz treffend. Ich wette, es war nicht so schwer zu recherchieren, um was für Brandschutzmaßnahmen es da genau ging und wie schwerwiegend es gewesen wäre, wenn man dort die Ansprüche deutlich gesenkt hätte, vermutlich stand das auch irgendwann mal im Tagesspiegel. Aber: Wie viele Artikel hast du zum BER gelesen, in denen gefragt wurde "ergibt es wirklich Sinn, dass ein riesiger Flughafen ewig nicht voll ausgelastet werden kann, nur wegen Brandschutzbestimmungen von ungeklärter Wichtigkeit?


€dit:

Denke auch dass die "Einzelfallgerechtigkeit", die zu immer neuen Regeln, Ausnahmen etc führt nicht wirklich den "Wählerwillen" abbildet.

Das Problem ist, dass es häufig gar keinen kohärenten "Wählerwillen" gibt, den man abbilden könnte. Gerade Katastrophenschutz ist ground zero (ba-dum-tss) für sowas, weil du immer Kopf zuerst in das Präventionsparadox läufst. Hat man bei Covid ja eiskalt gesehen.
 
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Apropos Katastrophenschutz. Deutschland, Fukushima, Ausstieg aus der Nuklearenergie.

Paradebeispiel für diese Denke.

Nicht perfekt, weil auch andere politisch-taktische Erwägungen mit reinspielten denke ich. Aber ultimativ sinnlos wegen des Mangels an Erdbeben und Tsunamis in D.
 

Gustavo

Doppelspitze 2019
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Denke auch dass die "Einzelfallgerechtigkeit", die zu immer neuen Regeln, Ausnahmen etc führt nicht wirklich den "Wählerwillen" abbildet.

Denke das ist öfter ..

- Lobbywille als "Gerechtigkeit" getarnt
- Kuddelmuddel-Kompromisse, weil man sich den großen (und vereinfachenden) Wurf nicht traut / sein politisches Kapital nicht dafür einsetzen will

Indirekt ist natürlich der Wähler "schuld", weil er ja die Akteure wählt. Aber das ist ja tautologisch, wird also nicht gemeint sein (paywall).

Ich bewege mich da ein bisschen auf dünnem Eis, weil ich weiß dass es mehr ein Gefühl ist als etwas, was ich beweisen könnte (lässt sich auch schwer quantifizieren), aber ich halte den Punkt bzgl. der Juristen auch für sehr treffend. Ich erinnere mich, dass du mal Tilo Jung erwähnt hast und ich mir dann tatsächlich mal eine Stunde oder so von der damals aktuellsten Sendung angesehen habe (war furchtbar), aber eine Geschichte, die mir im nachhaltig Gedächtnis geblieben ist, war wie Konstantin Kuhle erzählt hat, wie sein Interesse an Jura geweckt wurde. Als er anfing, sich politisch zu betätigen, hatte er eine Diskussion mit irgendwem, der auf Basis von "ja, aber das kann man gar nicht machen weil Verfassungsrecht" diskutiert hat und der junge KK schien wohl stark davon beeindruckt, so sehr dass er sogar ad verbatim sagte dass er das auch gerne können würde.
Das ist in Deutschland imho völlig normal: Es wird viel zu viel wert darauf geachtet, dass die Staatsgewalt an die eigenen Regeln gebunden sein muss ("Rechtsstaat") und viel zu wenig darauf, dass der Staat ja selbst erst diese Regeln setzen soll. Dass es möglicherweise in der Theorie besser wäre, wenn ein Staat 5% seiner Regeln einfach unbeachtet lässt, weil sie mehr schaden als helfen ist ein Gedanke, der einem deutschen Juristen nie im Leben kommen würde, denn das wäre ja a. ein Unrechtsstaat und b. würde es der Tyrannei Tür und Tor öffnen, weil dann derjenige, der gerade die Staatsgewalt hat, sich aussuchen kann an welche Regeln er sich halten möchte und an welche nicht. Das ist auch nicht falsch, nur ist das halt genauso der Fall in einem lupenreinen Rechtsstaat, sobald jemand an die Macht kommt, für den die Regeln weniger ein nützliches Ärgernis sind als ein echtes Problem, siehe Ungarn, Polen oder Israel.
Schon der Gedanke, dass ganz abstrakte Verfassungsgrundsätze wie Artikel 3 nicht dazu benutzt werden sollten, "Einzelfallgerechtigkeit" herzustellen, wäre schon ein ziemlich großer Wurf. Nur mal als Beispiel: Das ist die Liste der Erwägungen, die der Staat beachten muss, wenn er die Bezahlung seiner Beamten regelt. Dass das alles notwendig ist und eine faire Besoldung sich nicht viel besser durch Aushandeln zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erreichen lassen würde ist mir jetzt erst mal unklar.
 
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Ich bewege mich da ein bisschen auf dünnem Eis, weil ich weiß dass es mehr ein Gefühl ist als etwas, was ich beweisen könnte (lässt sich auch schwer quantifizieren), aber ich halte den Punkt bzgl. der Juristen auch für sehr treffend. Ich erinnere mich, dass du mal Tilo Jung erwähnt hast und ich mir dann tatsächlich mal eine Stunde oder so von der damals aktuellsten Sendung angesehen habe (war furchtbar), aber eine Geschichte, die mir im nachhaltig Gedächtnis geblieben ist, war wie Konstantin Kuhle erzählt hat, wie sein Interesse an Jura geweckt wurde. Als er anfing, sich politisch zu betätigen, hatte er eine Diskussion mit irgendwem, der auf Basis von "ja, aber das kann man gar nicht machen weil Verfassungsrecht" diskutiert hat und der junge KK schien wohl stark davon beeindruckt, so sehr dass er sogar ad verbatim sagte dass er das auch gerne können würde.
Neulich wieder nen Artikel über Wohnungspolitik gelesen, wo es um das Recht auf Wohnungstausch ging. Angefragter Kommentar Buschmanns dazu bzw. seiner PR-Abteilung: "Le Grundgesetz garantiert das Eigentuuuum!!!112"
Klar, wir wollen ja nicht bei einem sozialistischen Untechtsstaat wie Österreich oder Schweden enden. :rolleyes:

Zu dem anderen Punkt: Mir sind diese Mechanismen der Selbstgeißelung bewusst, aber dass unsere Politiker Lurche sind, die Pipi in den Augen kriegen, wenn der Wähler ihnen auch nur was krumm nehmen könnte, ist imo nicht pauschal dem Wähler anzulasten oder gar als Wählerwunsch zu interpretieren.
Zumal Beispiele wie Boris Palmer und einige andere OBs ja zeigen, dass auch der deutsche Wähler es goutieren kann, wenn jemand unkonventionell die Dinge anpackt.
 

Celetuiw

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Dass es möglicherweise in der Theorie besser wäre, wenn ein Staat 5% seiner Regeln einfach unbeachtet lässt, weil sie mehr schaden als helfen ist ein Gedanke, der einem deutschen Juristen nie im Leben kommen würde, denn das wäre ja a. ein Unrechtsstaat
Das ließt sich schön und macht grds auch Sinn, aber ich bezweifle dass es in der Praxis auch gut funktioniert?
Also konkret: wenn ich jetzt (bin ja kein Beamter, aber Öffi, ich setze mich stellvertretend ein jetzt täglich Sozialhilfeakten bearbeite, welche überkomplizierte Norm darf ich ignorieren?

Ich gebe ein Praxisbeispiel: zieht der Sozialhilfeempfänger um zahlt das Amt die Kaution. Also als Darlehen, muss nach Auszug, Ende der Hilfe oder Tod zurückgezahlt werden, auch vom Vermieter.

Ist in der Praxis viel Aufwand, Ertrag eher schwer zu sagen, weil wenn der Leistungsbezieher im Alter verstirbt und du vom Vermieter die Kaution forderst gibt es eh erstmal Gegenansprüche.

Ist nicht so wichtig warum und wie, welche §§ Ketten , ich versichere dir aus meiner täglichen Arbeit macht das wenig Spaß , ist aufwendig und oft unerfolgreich.

Alternative: das Amt kann die Kaution ja als Beihilfe zahlen, also geschenkt. Dann hätten wir viel weniger Aufwand für die Nüße.

Aber wollen wir das als Gesellschaft? Dass das Amt selbst entscheidet was muss und was nicht, dadurch natürlich auch weniger Aufwand hat?
Wollen wir es normativ? Es ist ja auch eine Gerechtigkeitsfrage. Ich schätze du würdest das nüchtern kalkulieren, aber z.b. Xantos, Mackia etc wären nicht so happy, wenn ich einfach Geld an Sozialhilfebezieher verschenke, was ich nur verleihen soll.

Also: grundsätzlich gute Idee, aber wie soll das laufen konkret, wer entscheidet wann die Behörde wo auf welchen § verzichten darf. Hmh.
 
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Gustavo

Doppelspitze 2019
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Das ließt sich schön und macht grds auch Sinn, aber ich bezweifle dass es in der Praxis auch gut funktioniert?
Also konkret: wenn ich jetzt (bin ja kein Beamter, aber Öffi, ich setze mich stellvertretend ein jetzt täglich Sozialhilfeakten bearbeite, welche überkomplizierte Norm darf ich ignorieren?

[...]
Also: grundsätzlich gute Idee, aber wie soll das laufen konkret, wer entscheidet wann die Behörde wo auf welchen § verzichten darf. Hmh.

Na ja, prinzipiell wäre natürlich eine niedrigere Regelungsdichte die sinnvollste Antwort. Die Idee mit der selektiven Anwendung (statt Streichung) bestimmter Gesetze setzt voraus, dass das unrealistisch ist, dementsprechend muss man versuchen sich anders zu helfen. Die Hauptprobleme wären in der Anwendung wohl Rechtsunsicherheit und potenzieller Missbrauch und in der Konzeptualisierung, dass Politiker diese Regeln zumindest prinzipiell für nötig hielten/halten, sonst gäbe es sie wohl nicht*. Insofern müsste jede Lösung mindestens folgende Parameter erfüllen:
- Zentrale Entscheidungsstelle
- Niedrigere Entscheidungsebene
- Nur mittelbar politisch legitimiert

Offensichtliche Ansatzpunkte wären sowas wie economic impact analysis (ist bspw. in der amerikanischen Bundesbürokratie schon Pflicht) auf regionaler/lokaler Ebene und Freistellung gegenüber etwaigen Schadensersatzforderungen. Da könnte man in der Tat Vorschläge direkt von Praktikern einholen und irgendwer, der halbwegs Ökonometrie kann, schaut sich dann an ob sich das lohnt. Ihr kostet ja alle den Staat etwas (eure Gesamtentlohnung + Opportunitätskosten, dass ihr eure Zeit nicht mit sinnvolleren Aufgaben verbringt); man müsste Kosten/Nutzen ja nicht bis auf die Kommastelle genau in Relation bringen, aber ich wette es gibt eine Menge beamtliche Tätigkeiten, deren Nutzen maximal überschaubar ist und/oder deren Kosten zu hoch sind.
Die Politik hätte ihren Watschenmann, wenn irgendwo doch mal jemand wegen eingeschränktem Brandschutz in Flammen aufgeht und Beamte könnten sich auf wichtigere Tätigkeiten konzentrieren. Wenn es der NHS schafft, sowas wie quality adjusted life years für Eingriffe zu berechnen, glaube ich nicht, dass es allzu schwer sein kann, die Vorschläge von Beamten durchzurechnen um zu schauen, ob sich da ernsthaft Zeit einsparen lässt. Mittlerweile lässt sich das sogar marktwirtschaftlich gut begründen, denn der Staat hat (wie so ziemlich alle Arbeitgeber) Probleme, Arbeitnehmer zu finden, insofern kann man das Ganze mit "wir können unsere ganzen Regeln sowieso nicht mehr umsetzen" begründen (was neulich auch ein Jurist in der FAZ getan hat).

Die wichtigste Änderung wäre tatsächlich, den Rechtsstaat auch als Mittel zum Zweck zu sehen, nicht als Selbstzweck. In Deutschland bricht keine Anarchie aus, wenn ein Gremium von Nichtjuristen (nicht mal 1. Staatsexamen!!eins) darüber entscheidet, ob wirklich alle Regeln so angewendet werden müssen. Ideal wäre es natürlich, diese Regeln einfach wieder abzuräumen, aber dafür findet die Politik einfach nicht die Kraft, aber es kann schon auch irgendwie anders gehen. Ironischerweise gibt es sogar ein "law and economics"-Subfield (hauptsächlich) in der (US-amerikanischen) Rechtswissenschaft, das da theoretisch gute Punkte einbringen könnte, nur dass dort halt dummerweise relativ naiv micro vom Stand der 1970er angewandt wird, als man alles noch theoretisch modellieren musste, anstatt reale Daten verwenden zu können. Nun ist "wir brauchen keine Bürokratie, weil der Markt es schon richten wird" auch nicht unbedingt, was ich mir vorstelle. :deliver:




*sicher gibt es auch unbeabsichtigte/unabsehbare Rechtsfolgen, aber die dürften in der Regel im Vergleich mit den beabsichtigten Folgen überschaubar sein



Neulich wieder nen Artikel über Wohnungspolitik gelesen, wo es um das Recht auf Wohnungstausch ging. Angefragter Kommentar Buschmanns dazu bzw. seiner PR-Abteilung: "Le Grundgesetz garantiert das Eigentuuuum!!!112"
Klar, wir wollen ja nicht bei einem sozialistischen Untechtsstaat wie Österreich oder Schweden enden. :rolleyes:


Die FDP hat auch ein sehr instrumentelles Verhältnis zum Grundgesetz. :mond:

Was mir bei dem Thema tatsächlich immer wieder auffällt ist die Tatsache, dass in der juristischen Ausbildung normative Erwägungen keine Rolle spielen und die Rechtssoziologie in Deutschland quasi keine Rolle spielt. Es gibt so viele Regelungen in Deutschland, bei denen du mit oft genug nachfragen bei "weil wir es schon immer so gemacht haben" landest und wenn du dir dann anschaust, auf wen dieses "schon immer" zurückgeht sind es Strukturen* aus Zeiten, als man in Deutschland noch kaum von einer funktionierenden Demokratie sprechen konnte. Sicher lässt sich vieles nicht mal so eben über den Haufen werfen, aber im 21. Jahrhundert immer noch viele Dinge wegen status quo bias und Pfadabhängigkeit so zu machen, wie man sie macht, weil irgendwann im 19. Jahrhundert Preußen das für eine gute Idee hält ist halt auch fragwürdig.



*ironischerweise gehört die Juristenausbildung selbst hier dazu; der Abschnitt aus Wehlers Gesellschaftsgeschichte dazu, wie lange der Vorbereitungsdienst für den Staat für Juristen in Preußen gestreckt wurde und was für eine soziale Selektion das (in einem sozial bereits stark selektierten Umfeld) darstellte ist absolut lesenswert



Zu dem anderen Punkt: Mir sind diese Mechanismen der Selbstgeißelung bewusst, aber dass unsere Politiker Lurche sind, die Pipi in den Augen kriegen, wenn der Wähler ihnen auch nur was krumm nehmen könnte, ist imo nicht pauschal dem Wähler anzulasten oder gar als Wählerwunsch zu interpretieren.
Zumal Beispiele wie Boris Palmer und einige andere OBs ja zeigen, dass auch der deutsche Wähler es goutieren kann, wenn jemand unkonventionell die Dinge anpackt.


Da ist sicher auch viel dran. Man hat aber als Politiker auch mehrere Hüte auf und es wird oft unterschätzt, wie sehr die Wähler selbst durch die Politik sozialisiert werden*. Ist glaube ich schon ein enges Nadelöhr, sich einerseits in eine exponierte Stellung vorzuarbeiten, in der man tatsächlich *irgendwas* anstoßen kann und andererseits genug Freiraum zu haben, sowas zu machen.
Palmer ist ja auf eine gewisse Art ein tragisches Beispiel: Klar, Palmer ist ein Querulant und hätte ohne Probleme enden können wie sein Vater. Palmer hätte aber auch das Talent zum Ministerpräsident in Baden-Württemberg gehabt, er hat sich aber durch seine Art anzuecken selbst darauf reduziert, dass es nie zu mehr als zum Oberbürgermeister einer Mittelstadt in Baden-Württemberg reichen wird.






*was schwer erkennbar ist, wenn man nicht entweder ernsthaft über Politik auf eine Art nachdenkt, für das den allermeisten Leuten Zeit und Muße fehlt oder aus irgendwelchen Gründen sehr unterschiedliche politische Systeme kennengelernt hat
 
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