@Gustavo ich denke es geht den meisten, die sich über das Thema aufregen, weniger um die eine konkrete Maßnahme, sondern um das Gesamtbild. Und da kann/konnte man schon den Eindruck bekommen, dass es gerade CDU und SPD darum geht ihre greise Wählerschaft zu appeasen und nicht darum irgendwelche Probleme (u.a. des Sozialstaats) zu lösen. Gerade der Abschied vom Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenformel ist ein großes Fuck You an alle die nicht bereits oder bald Rentner sind. Die Berechnungen irgendwelcher Leistungen werden mit immer neuen Ausnahmefällen immer umständlicher und aufwendiger, und man (in diesem Fall: ich) hat nicht das Gefühl, dass man über die eigene Lebenszeit bisher nicht wirklich viele politische Initiativen mitbekommen hätte, die sich an die eigene Generation richteten.
Ja, sehr subjektiv, aber einfach zu sagen, dass die Sozialstaatsquote nicht gestiegen ist, ist mir auch etwas zu einfach.
Es gibt einen Haufen Ausgaben die mE wichtiger sind als yet another ordentlicher Schluck aus der Pulle für die Rentner, welche aber gnadenlos runterpriorisiert wurden. Bildungswesen, Ukraine, Bundeswehr, grüne Transformation … you name it.
Ich befürchte die Einstellung hat ziemlich viel damit zu tun, wie wir über das Thema reden. Das ist auch ein gutes Beispiel dafür, was ich neulich meinte: Hier wird regelmäßig so getan als wäre Staat sowas wie eine Simulation, bei der die Politik beliebig die Regler nach oben oder unten schieben kann und wenn sie es nicht so tut wie man will ist sie wahlweise dumm oder (von den falschen) Interessen geleitet. Die Wahrheit ist, dass die beiden großen Kostenpunkte einerseits (1) die ungünstige Relation zwischen Arbeitnehmern und Rentnern ist und andererseits (2) dass unser Gesundheitssystem vergleichsweise teuer ist. An (1) kann die Politik prinzipiell nicht wahnsinnig viel tun und zu (2) wird in Deutschland leider jede Reform sofort mit dem Totschlagargument "Gesundheit darf nicht vom Geldbeutel abhängen" konfrontiert.
Sicher hätte man sich solche Sachen wie Rente mit 63 oder Mütterrente auch sparen können, aber letzten Endes steht und fällt die Bezahlbarkeit mit dem Arbeitsmarkt, dem Eintrittsalter und der Höhe des Rentenniveaus im Vergleich zum Erwerbseinkommen, nicht mit klientelpolitischen Maßnahmen. Die einzige Art, wie die Politik wirklich ernsthaft etwas an den Kosten des Systems tun könnte, wären entweder das Renteneintrittsalter zu erhöhen oder das Leistungsniveau zu senken. Bei Letzterem sollte man allerdings auch erwähnen, dass da jetzt nicht SO wahnsinnig viel Spielraum ist, denn das deutsche Rentenniveau ist jetzt im Vergleich eher mittelmäßig. Ersteres wird früher oder später passieren, ich glaube da sind sich alle einig. Aber es ergibt halt auch wenig Sinn die ganze Zeit von der demografischen Katastrophe zu reden, wenn ein sehr beträchtlicher Teil der Kosten alleine dadurch ausgeglichen werden konnte, von einem schwachen Arbeitsmarkt (wie vor 20 Jahren) zu einem starken Arbeitsmarkt zu kommen. In der ganzen Zeit hat sich die Relation zwischen Rentnern und Arbeitnehmern ja zur Ungunst des Systems verschoben, trotzdem konnten die Beiträge bisher stabil gehalten werden. Das wird für die nächsten 10 Jahre wohl nicht mehr gehen, aber man sollte aus den zu erwartenden Erhöhungen jetzt auch keine Kollaps des Systems machen: Das System ist absolut finanzierbar, auch auf bisherigem Niveau. Wenn man das nicht will ist das auch ok, aber das ist dann eine Frage der politischen Prioritäten, nicht der schieren fiskalischen Machbarkeit. Das gegenteilige Bild wird aber andauernd gezeichnet: Die böse Politik, die den Rentnern die Wünsche von den Lippen abliest, während die junge Generation sehen kann wo sie bleibt. Dabei ist die wirkliche Triebfeder gar nicht die Politik, sondern eben die Demografie.
Btw: Die Sozialstaatsquote IST gestiegen. Aber man sollte halt auch nicht übertreiben, um wie viel.
Natürlich ist es eine Leistungsausweitung, wenn das Verhältnis "durchschnittliche Bezugsdauer" zu "durchschnittliche Lebenserwartung" steigt.
Allein seit 2010 hat sich die durchschnittliche Bezugsdauer um 24% erhöht:
Die Rentenbezugsdauer entspricht der Differenz zwischen dem Jahr des Rentenbeginns und dem des Rentenwegfalls. Bei den Versichertenrenten hat sich die Bezugsdauer beständig erhöht.
www.bpb.de
Das Renteneintrittsalter ist nicht ansatzweise so stark gestiegen:
Das durchschnittliche Zugangsalter in gesetzliche Altersrenten ist seit Ende der 1990er Jahre um zwei Jahre gestiegen. In den letzten Jahren nimmt der Abstand zur Regelaltersgrenze wieder zu.
www.demografie-portal.de
Das ist eine seltsame Definition von Leistungsausweitung. Die Leistung ist festgeschrieben, lediglich die Ausgaben dafür steigen. Du würdest es doch auch nicht als "Leistungsausweitung" verstehen, wenn du chronisch krank wirst und die Krankenkasse ab jetzt jedes Jahr das Zehnfache für dich ausgeben muss, oder?
Aber wie gesagt: Das ging an meinem Punkt vorbei. Die *absolute Höhe* der Renten ist eine Frage der politischen Prioritäten, darüber kann und sollte man streiten. Aber so zu tun als würde die Politik junge Leute übervorteilen, in einer Zeit in der die Zahl der Rentner und rentennahen Arbeitnehmer immer größer wurde, der Transferanteil an der Rente aber sinkt, wird nicht richtiger dadurch dass es auch Beispiele für Politik gibt, die den Trend in der Transferrate abschwächen. Wenn ich politische Ökonomie unterrichte ist die erste Theorie die wir behandeln immer Meltzer-Richard, was im wesentlichen (etwas vereinfacht) besagt dass alle, die weniger als der Durchschnitt verdienen, für einen stärker umverteilenden Staat sein sollten und alle die mehr verdienen dagegen. Weil das Medianeinkommen (auch das Medianeinkommen der Wähler) niedriger ist als das Durchschnittseinkommen sollten also, wenn alle Wähler "rational" ihren gewünschten Grad an Umverteilung wählen und dafür stimmen, regelmäßig Parteien die für mehr Umverteilung stehen Mehrheiten bekommen, bis die Umverteilung so stark ist dass Median und Durchschnitt näherungsweise identisch sind. An der Theorie ist empirisch fast nichts richtig, aber es ist halt das kanonische Modell, deshalb ist es wichtig es zu erwähnen. Umso seltsamer ist es, dass in der Presse regelmäßig ohne jede Empirie so getan wird, als könne man bei Rentnern voraussetzen, dass eine analoge Theorie die Wahrheit beschreiben muss, ohne sich je die Mühe machen zu müssen das empirisch zu beweisen.
€dit:
Was mich an unserem Rentensystem am meisten stört, ist die fehlende systeminterne Umverteilung. Am liebsten wäre mir eine Einheitsrente mit Zuverdienstmöglichkeiten und einem kleinen Bonus für Lebesarbeitszeit und Kinder. Mindestens sollte man hohe Renten zugunsten niedrigerer Renten reduzieren. Da gehts ja oft um Leute, die noch andere Einkommensquellen und nicht unerhebliches Vermögen haben. Imo wäre das gerechter als die steigenden demographischen und ökologischen Lasten größtenteils den jüngeren Generationen aufzubürden.
Das wundert mich tatsächlich auch, zumal die im Zeitverlauf eher zu- als abnimmt. Was die Statistik, die Xantos gepostet hat, bspw. verschweigt ist wie sich der zusätzliche Rentenbezug verteilt: De facto ist es nämlich so, dass der Löwenanteil bei denjenigen anfällt, die sowieso relativ gut versorgt sind, während die Lebenserwartung derjenigen, die eine miese Rente haben schon lange stagniert*.
*fairerweise muss man sagen, dass der Rentenbezug dafür natürlich nicht kausal ist, sondern dass die Leute zu guten Teilen deshalb früher sterben, weil sie ungesünder leben; gibt auch einige, bei denen die Arbeitsbelastung das Leben verkürzt aber das ist wohl nicht der entscheidende Faktor im Vergleich zum Lebenswandel (höre ich zumindest von den Demographen, die ich kenne, aber second-hand info)