Ich habe jetzt den Schlenker nicht so ganz verstanden von "wenn ein anderer Staat einen Holocaust startet, darf man nicht mit Verweis auf die Souveränität des Staates tatenlos bleiben" - wobei ich dir absolt zustimme, zu: "deswegen muss jeder Staat sich selbst definieren, wer wie viel Prozent zählt."
Ich meine das genaue Gegenteil. Dass in diesem Fall eingegriffen werden muss, ist objektiv richtig im Sinne einer universellen Richtigkeit. Manche Dinge sind richtig und manche Dinge sind falsch, absolut unabhängig von der Meinung einer Mehrheit oder sonstigen subjektiven Eindrücken. Und das macht nach meinem Verständnis eine Demokratie aus (optimalerweise): der Schutz universeller Werte auch GEGEN den ausdrücklichen Willen der Mehrheit. Womit übrigens natürlich mitnichten gesagt ist, dass man zum Beispiel alle Flüchtlinge der Welt aufnehmen muss, allein schon weil über jedem theoretischen Konzept das praktische Damoklesschwert der normativen Kraft des Faktischen schwebt.
Wie gesagt, wir sind uns da schon einig. Ich wollte bloß ein extremes Beispiel bringen, anhand dessen relativ klar wird, wo der springende Punkt ist: Es gibt manche Dinge, die ein Staat selbst aus völlig altruistischen Gründen tun sollte, selbst wenn sie mit den eigenen Staatsbürgern nichts zu tun haben. Aber wo genau diese Grenze liegt, das muss in der Demokratie letztendlich das Volk entscheiden: Man kann zwar bestimmte Dinge definieren, die der Staat grundsätzlich nicht darf (zumindest in der Theorie), aber es ist viel schwerer zu definieren was der Staat aktiv tun sollte. Das ist letztendlich so kontext- und zeitgebunden, dass man (in meinen Augen zurecht) weitgehend darauf verzichtet hat, aktive Gebote ins GG zu schreiben. Eins der wenigen, das tatsächlich drin war, das Wiedervereinigungsgebot, ist imho ein gutes Beispiel dafür wie schlecht sowas in der Regel funktioniert: Letztendlich wurde die Wiedervereinigung ohne großes Zutun der BRD möglich und es gab auch nicht wirklich etwas, was die BRD hätte tun können, um die Wiedervereinigung voranzutreiben, solange die geopolitischen Verhältnisse dafür ungünstig standen.
Klar kann man da letztendlich behelfsweise immer auf die Krücke stützen, die auch die Spieltheoretiker nutzen, wenn sie versuchen altruistisches Verhalten zu erklären, nämlich dass das einfach eine Befriedigung der psychologischen Neigung ist, altruistisch zu sein. Damit kann man dann natürlich alles und nichts rechtfertigen, aber ich denke wie altruistisch oder unaltruistisch der Staat ist, sollte grundsätzlich zur Disposition der Wähler stehen.
Zum Staatsbürgerargument: da hast du natürlich Recht, dass es ein wesentlich weniger objektiv eindeutiger Fall ist als ein Holocaust. Insofern ist meine Aussage dazu bitte explizit als meine Meinung darüber was richtig und was falsch ist zu verstehen, ich nehme für mich nicht in Anspruch, dass das zwingend so sein muss, auch wenn ich diese Meinung natürlich deshalb habe, weil ich sie für objektiv richtig HALTE.
Den Art. 56 GG Schlenker verstehe ich jetzt nicht, meinst du, weil der Präsident schwört dem Deutschen Volke zu dienen? Das ist ja nur ein Baustein davon, das findet sich auch in der Präambel des GG, in Grundrechten, die ausschließlich für Staatsbürger gelten oder an der Innschrift am Reichstag. Es ist einfach eine für mich völlig evident logische Folge aus dem Konzept "Staat". Wenn ich Mitglied in einem Verein bin und dafür verdammt viele Vereinsgebühren zahle, dann erwarte ich doch völlig nachvollziehbar, dass dieser Verein sich primär um meine Interessen kümmert und nicht Nichtvereinsmitglieder, die keinen Beitrag geleistet haben, mir gegenüber priorisiert?
Da sind wir sehr nah beieinander. Ich würde wahrscheinlich ein bisschen weiter gehen also du, was Altruismus angeht, aber ich habe schon auch meine Grenze, die nicht erst bei der normativen Kraft des faktisch Machbaren beginnt. Hatte mich bloß etwas daran gestoßen, dass dein Post so klang als wärst du der Meinung, der Staat sollte grundsätzlich gar nicht altruistisch handeln dürfen, solange sich der Altruismus auf diejenigen bezieht, die außerhalb der wie auch immer gezogenen Grenzen des Staates (geografisch, staatsbürgerrechtlich etc.) zu verorten sind.
Und das mit Art. 56 war ein Verweis darauf, dass ich insbesondere nach der Flüchtlingekrise häufig Leute gesehen habe, die meinten der Amtseid eines Politikers in der BRD sei verletzt, wenn er Dinge tut, die sie objektiv als dem Volk nicht dienlich sehen, d.h. Gauck/Steinmeier hätten Merkel wegen der Flüchtlingspolitik entlassen müssen. Das ist aber, wie gesagt, sehr kurz gedacht, nicht dass ich glaube dass du das denkst.
Zu AZ: Weißt du das, oder vermutest du das? Also ganz konkret: wissen wir, ob EU und UK denselben Preis bezahlt haben?
Den genauen Preis kennen wir nicht, allerdings wurde durchgestochen in welchem Rahmen er sich bewegt. Aus dem Twitter-Leak von der EU-Frau ging ein Preis von $2,15 hervor, mittlerweile hat die EU allerdings behauptet sie würden mehr zahlen. Die Preise die der UK zahlt werden auf etwa drei Dollar geschätzt, die USA zahlen wohl noch etwas mehr, ungefähr vier Dollar. Mehrere Schwellen- und Entwicklungsländer zahlen wohl im Bereich um fünf Dollar. Alles keine Zahlen, die in irgendeiner Form den Schluss zulassen, AZ versucht mit dem Impfstoff großen Profit zu machen. Dagegen weist das Geschäftsgebahren von AZ viel mehr darauf hin, dass da krumme (oder sagen wir extralegale) Dinge laufen: Niemand kann oder will erklären, wohin die Dosen aus dem Halix-Werk gehen. Keiner kann erklären, warum für das Abfüllwerk in Italien so lange keine Qualitätsprüfung beantragt wurde. Keiner kann (oder will) erklären, warum die Dosen die in dem Abfüllwerk gefunden wurden nach Belgien verschoben werden sollen, wenn der größere Teil angeblich für die EU bestimmt ist. Und keiner kann erklären, warum dort überhaupt 16 Millionen Dosen lagerten, von denen AZ jetzt sagt, sie sollen an die EU gehen, obwohl bei der EU niemand etwas davon wusste, während sie im UK auf eine Halix-Lieferung warten.
€dit: Btw, wie du ja selbst sagst stellen die Briten sich auf den Standpunkt, es läge an ihrem Vertrag. Gleichzeitig wollen sie den Teil des Vertrags, auf das sich das Argument bezieht, nicht veröffentlichen, ohne zu sagen warum. Extrem dubios. In dem Fall ist es schon fast wieder Ironie, falls ich recht habe und es wirklich nicht nennenswert möglich war, die Impfproduktion in der kurzen Zeit aufzubauen, denn ansonsten hätte die EU einen noch viel berechtigeren Grund, sauer zu sein: Im EU-Vertrag sind die UK-Werke durchaus in der Lieferkette aufgeführt.
Meine Vermutung (das ist allerdings jetzt wirklich guesswork) ist dass AZ darauf spekuliert hat, den UK prioritär beliefern zu können, aber weil sie sich sicher waren dass sie sowieso große Mengen liefern können würde das nicht so ins Gewicht fallen. Jetzt ist es allerdings so, dass AZ an die EU im ersten Quartal angeblich nicht mal die 30 Mio. Dosen liefern kann (zumindest glaubt die EU nicht mehr dran), die sie zuletzt versprochen haben, obwohl es ursprünglich mal 120 Mio. (!) waren; selbst vor zwei Monaten haben sie noch von 80 Millionen gesprochen. Das ist ja ein shortfall, der sich auch nicht damit erklären lässt, dass die EU an Großbritannien exportiert hat, denn SO viele Dosen haben die nun auch nicht bekommen, d.h. AZ muss ziemlich massive Probleme in ihrer Lieferkette gehabt haben. Wenn sie natürlich nur ein Viertel der ursprünglich avisierten Lieferung hinbekommen, fällt es natürlich der EU unschön auf, dass die Briten von dem deutlich knapperen Impfstoff einen deutlich größeren Anteil bekommen als wenn AZ 120 Mio. Dosen ausgeliefert hätte.