Es ist wieder mal alles "too little, too late". Es wird weiterhin hauptsächlich darüber geredet, ob man nicht doch irgendwelche Lockerungen beibehalten kann, anstatt zu tun was notwendig ist, nämlich *deutlich* zu verschärfen. Ich habe gerade Kai Nagels Bericht zur Modellierung für B1.1.7 gelesen und es scheint mir offensichtlich, dass es noch zwei Stellschrauben gibt, an denen man kräftig drehen könnte:
- Die Unternehmen VIEL stärker in die Pflicht nehmen. Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, dass es immer noch keine HO-Pflicht gibt. Alternativ scheint es mir zumindest möglich, eine allgemeine und vollständige FFP2-Maskenpflicht zu erlassen. Ich verstehe einfach nicht, wie man sowas wie Second-Hand-Smoke (imho durchaus zu recht) in Restaurants auf Rücksicht auf die Bedienungen unter Strafandrohung verbietet, aber Arbeitgebern keine Pflicht auferlegt dafür zu sorgen, dass zu jeder Zeit FFP2-Masken zu tragen sind. Von mir aus könnten das auch gerne die Mitarbeiter gegenseitig kontrollieren und ihre Arbeitgeber verpfeifen, wenn das nicht durchgesetzt wird.
- Private Treffen so weit wie möglich einschränken. Letztendlich ist das der maximale Hebel: Private Treffen im Innenraum ohne Maske sind DAS Problem. Nun lässt sich das unmöglich dekretieren, aber zumindest sollte die Politik extrem darauf erpicht sein, das so deutlich wie möglich zu machen.
(Der folgende Absatz ist generell und nicht speziell als Antwort auf deinen Post gedacht)
Nachdem ich den Bericht von Nagel gelesen habe, muss ich allerdings nochmal insistieren: Diese Entwicklung der Bundesregierung in die Schuhe zu schieben ist einfach himmelsschreiend dämlich. Leider ist unklar, wie hoch die Gefahr ist, sich anzustecken, wenn man auf Arbeit selbst eine FFP2-Maske im Innenraum trägt, die anderen Mitarbeiter aber nicht, aber bis auf die Problematik in den Betrieben hat die Politik es eigentlich ganz gut geschafft, die Risikofaktoren auszuschalten, denen man sich als Privatperson nicht entziehen kann*. Was jetzt übrig bleibt sind die fakultativen Risikofaktoren, auf die sich Menschen bewusst einlassen. Ich sage nicht dass das die Politik von der Pflicht entbindet, die auch so weit es geht auszuschließen, einfach weil mein Bild von Politik nun mal ist, das Maximum aus dem zu machen, womit man eben arbeiten kann. Aber ich sage durchaus, dass auch die moralische Schuld an der Pandemie bei der Politik zu suchen mittlerweile halt einfach nicht mehr zieht: Die Übertragungswege, die laut Nagel jetzt noch wirklich aktiv sind, sind alles Dinge vor denen die Politik aktiv gewarnt hat, die sie aber realistischerweise nicht mal verbieten könnte selbst wenn sie wollte. Moralisch ist das Problem nicht dass die Politik nicht noch Ausgangssperren verhängt (wenn sie das denn könnte), sondern dass zu große Teile der Bevölkerung sich einfach nicht so verhalten, wie sie müssten.
Nach allem, was ich über die MPK weiß (und das ist immer noch alles noch mit großen Unsicherheiten behaftet) verfolgt Merkel die vernünftigste Strategie von allen Teilnehmern: Grundsätzlich immer vorsichtiger als die aktuellen Maßnahmen und auf Sicht fahren. Es ist einfach absurd dass hier so getan wird als wäre Merkel ein Vorwurf zu machen, weil sie eventuell, vielleicht, wir wissen es halt nicht, wenn sie diktatorische Befugnisse hätte trotzdem nicht genug tun würde, während ansonsten so ziemlich alle anderen Akteure im politischen Prozess zumindest teilweise versagen:
- Mir scheint ein großer Teil wenn nicht gar alle MPs sind weniger vorsichtig als Merkel
- Die Opposition, insbesondere die AfD und mittlerweile leider auch zu großen Teilen die FDP, verhalten sich völlig unverantwortlich indem sie die ganze Zeit so tun als gäbe es irgendwelche gangbaren Optionen die einfach nicht existieren✝
- Mittlerweile scheint großen Teilen der Presse langweilig zu sein, weshalb vom Staatsversagen und von der Unzulänglichkeit der Beschlüsse bzgl. "kreativer Öffnungsmöglichkeiten" gesprochen wird, siehe bspw.
hier von heute in der FAZ, ohne sich in irgendeiner Weise zu fragen ob die Situation das jetzt noch hergibt
- Selbst die Bevölkerung, die lange Zeit wirklich sehr erfreulich einen vorsichtigen Kurs unterstützt hat, selbst als Teile der Opposition schon längst unverantwortliche Lockerungsforderungen gestellt haben, ziehen jetzt nicht mehr mit, obwohl die Lage jetzt DRINGENDER Lockerungen erfordert statt weniger dringend
Aber die Bundesregierung ist Schuld, weil Merkel sich nicht vor die Presse stellt und sagt "ich hätte es ganz anders gemacht, konnte mich aber nicht durchsetzen"? Einfach absurd.
*zumindest ohne horrende Kosten für die eigene Lebensgestaltung; klar könnte man auch, wenn der eigene Betrieb partout keine Maskenpflicht einführen will, einfach kündigen aber das kann man gerade in einer Pandemie natürlich niemandem zumuten
✝super geil ist die gebetsmühlenartige Wiederholung, man müsse auch "andere Werte als nur die Inzidenz" beachten, was effektiv immer daraus hinausläuft die Pandemie noch weiter außer Kontrolle geraten zu lassen