Ich meine allerdings auch einen Hauch Naivität bezüglich der geistigen Beweglichkeit in deutschen Behörden rauszulesen. Vielleicht hattest du zu lange nicht mit solchen zu tun.
Nur mal als Beispiel:
Vielleicht. Allerdings muss ich sagen, dass ich das nicht so ganz mit dem vereinen kann, was im Finanzministerium gerade passiert. Klar, ein Ministerium ist nicht zwingend wie das andere und Schuknecht ist weg, aber da hat man mehr oder weniger eine Dekade felsenfest behauptet, dass antizyklische Politik Teufelszeug und die schwarze Null der Königsweg wäre und jetzt, wo es statt dem griechischen Einzelhandel dem deutschen Einzelhandel an den Kragen ginge, haben sie vielleicht die beste fiskalische Reaktion in ganz Europa auf die Beine gestellt und das ohne großes Zögern und/oder Zaudern. Die Leitlinien werden ja nicht in den Amtsstuben festgelegt, sondern in Ministerien und aus meinem begrenzten Erfahrungsschatz würde ich sagen, dass da im Großen und Ganzen schon viele fähige Leute sitzen. Dass die sich alle nicht mal vorstellen können, dass es auf Dauer besser gewesen wäre, früher aber dafür weniger hart schließen zu müssen, kann ich mir nicht wirklich vorstellen. Sicher gibt es da auch viele Flaschen und irgendwelche Spinner, die immer direkt mit einem Finger auf "das Grundgesetz" (tm) tippen, als ob es völlig klar wäre, was das in so einer Ausnahmesituation sagt oder nicht sagt, aber ich vermute es liegt viel eher daran dass sich diese eben häufig durchsetzen, weil die Politik das so will, nicht weil sie keine Alternativen sieht.
Die Welt der Politik und die Welt der Pandemie sind in vielerlei Hinsicht getrennt. [...]
Habe die in der Tat beide gesehen und war schon ein bisschen erstaunt. Allerdings sind die Ministerpräsidenten selbst jetzt nicht unbedingt, wo ich diese Expertise vermuten würde. Ich muss allerdings zugeben: So richtig kann ich es mir auch nicht erklären. Unter normalen Umständen hätte ich gesagt, wir sehen hier hauptsächlich opportunistisches Trittbrettfahrertum (so jemand wie Weil, der darauf hofft dass es in Niedersachsen nicht SO schlimm werden wird) und Gottvertrauen (Laschet), andererseits scheint es dann ja doch relativ klar zu sein, dass derjenige, der politisch am meisten profitiert hat (Söder) auch die härtesten Maßnahmen vertrat. Wäre faszinierend zu hören, was genau die einzelnen Regierungen angetrieben hat und natürlich ist es ein wenig unbefriedigend etwas (politische Dummheit) mit nichts (ich kann es mir nämlich wirklich Null erklären) zu ersetzen, aber ich würde zumindest gerne von den beteiligten selbst hören, dass es wirklich Dummheit ist, bevor ich das glaube.
-Homeoffice [...]
-Schulen
-Quarantäne
-Grenzschließungen
Beim Home Office vermute ich, dass die rechtlichen Hürden einfach zu hoch wären, da das ja letztendlich bedeutet, dass der Staat Arbeitgebern vorschreibt, dass sie für die Pandemiebekämpfung aufkommen müssten. Bei den Schulen bin ich nicht so sehr davon überzeugt, dass das sachlich unmöglich wäre, aber mir scheint die Politik will den Wählern einfach nicht zumuten, ihre Kinder selbst zu betreuen, bevor es nicht mehr anders geht. Bei der Quarantäne glaube ich einfach nicht, dass es für die meisten Leute einen Unterschied machen würde, ob die Strafandrohung jetzt höher oder nicht so hoch ist, solange sie intellektuell wissen, dass die Chance erwischt zu werden extrem gering ist; halte ich allerdings wie gesagt nicht so sehr für ein Problem weil ich vermute dass da die Compliance doch recht hoch ist. Grenzschließungen halte ich da noch am ehesten für möglich, allerdings müsste man da auch relativ zielgenau arbeiten, sonst ist das Geschrei in den Grenzregionen wieder groß: In der Nähe der Schweiz, weil die Läden auf die Nachfrage angewiesen sind; im Osten, weil die Leute auf Pfleger/Ärzte aus der Grenzregion angewiesen sind und im Westen weil da die ökonomische Integration extrem hoch ist. Denke allerdings, dass das prinzipiell möglich und wohl auch sinnvoll gewesen wäre.
Letztlich sind das und zig andere Sachen einzelne Punkte, die hier und da was machen. Das größte Versäumnis so im Big Picture ist imo, dass man sich niemals auf eine Strategie geeinigt und ein stringentes Verfahren beschlossen hat, wie man sie umsetzt. Sinnvoll wäre imo gewesen, dass man die Strategie direkt in das Infektionsschutzgesetz aufnimmt und dort auch gleich stufenweise Gegenmaßnahmen grob festschreibt. Da es hier ja letztlich um ein Bundesgesetz und ohne jeden Zweifel eine Angelegenheit von nationaler Tragweite geht, verstehe ich auch nicht, warum im Zweifelsfall da nicht einfach die Bundesregierung eingreifen kann, wenn bspw. ein Bundesland es absolut nicht geschissen kriegt.
Was versprichst du dir von einer Langzeitstrategie? Nicht dass ich dir das vorwerfe, aber imho ist das momentan im politischen Diskurs der Ersatz für "das Parlament muss mehr beteiligt werden", mehr oder weniger wertlos. Ich habe einfach null Vertrauen darin, dass das eine effektive Art für die Politik ist, sich an den Mast zu binden und auf die Bevölkerung macht das als riesiges collective action Problem auch keinen Eindruck. Effektiv haben wir das doch sogar schon mal versucht mit dem 50er-Wert und daraus wurde nichts, als die Zahlen hochgehen, so dass vor zwei Wochen schon so ziemlich jeder Kreis in Deutschland einen höheren Wert hatte, aber effektiv keine Verschärfungen vorgenommen wurden. Ich erinnere mich daran (kein Problem, weil habe Artikel vor weniger als einer Woche gelesen), dass noch Ende August in der FAZ noch Kram lief wie "der 50er-Wert ist bedeutungslos, weil von Gesundheitsamt zu Gesundheitsamt ganz unterschiedliche Werte angelegt werden müssen" und "irgendwas macht der Osten wohl besser" und andauernd irgendwer in Talkshows zu sehen war, der meinte, er/sie könne es den Wählern nicht vermitteln, dass es einen Flickenteppich aus Maßnahmen gibt, der von Landkreis zu Landkreis unterschiedlich ist. Wenn sich eins in dieser Epidemie gezeigt hat, dann imho dass die Vorteile des föderalen Systems offensichtlich entweder komplett von der Bevölkerung verkannt werden oder verschwindend gering sein müssen, so wie darüber geredet wird.
Effektiv glaube ich btw einfach nicht, dass wir mit der zusätzlichen Unwägbarkeit der Frage, wann wieviele Leute geimpft sein können, eine Langzeitstrategie jetzt noch großen Sinn ergibt.
[...]Dann lässt man noch den Ethikrat draufgucken und welches Gericht traut sich dann bitte noch die Umsetzung dieser Pandemie-Strategie zu behindern?
Da bin ich keineswegs sicher. Solange es keine abweichende Politikebene gibt, wäre das in der Tat unwahrscheinlich; wenn ein Gericht allerdings auf die Landesregierung verweisen kann, die ja eigentlich die Kompetenz bzgl. der meisten Maßnahmen hat und die Landesregierung sich in ihren Rechten verletzt sieht, kann ich mir das schon relativ gut vorstellen.
[Edit]
Ein Punkt, der mich mittlerweile auch tierisch nervt, ist die Wehleidigkeit der MPs über die Bürde ihres Amtes: Es sei ja so schwierig, man müsse ja eine Million Dinge berücksichtigen usw. Das ist halt Unsinn: Wer meint eine Million Dinge berücksichtigen zu müssen, um die richtige Entscheidung zu treffen, der hat keine Chance sie zu treffen, weil man so viel einfach nicht bedenken kann.
Und wer selbst die Lage nicht klar sehen oder die nötigen Schritte durchsetzen kann, der wasche die Hände in Unschuld und mache, was die Experten sagen. Oder übertrage informell oder per (Grund?)Gesetzänderung die Kompetenz an die Kanzlerin, die will uns kann.
Aber es einerseits besser wissen wollen und sich gleichzeitig damit rausreden, man wisse ja nicht, ist schwach.
Wie gesagt, bei der Politik bin ich auch etwas verwundert. Die meisten Leute glauben es nicht, aber Politiker, insbesondere in der Regierung, sind generell schon ganz gut darin, ihre Ideologie so zurechtzubiegen, dass man sie der Mehrheit der Bevölkerung gut verkaufen kann. Imho scheint es quasi trotz Gemecker während der gesamten Pandemie so gewesen zu sein, dass "härtere Maßnahmen --> größere Popularität", weshalb Söder an Popularität gewonnen und Laschet verloren haben. Da muss man wirklich kein politisches Genie sein um erst mal zuzumachen und zu warten ob sich die Meinung wirklich gegen einen dreht, aber seltsamerweise kriegen die meisten MPs das nicht hin. Allerdings leben wir auch echt in einer verkehrten Welt, wenn ich heute sogar schon in der FAZ lesen muss, dass die Wirtschaft sich selbst schadet, indem sie auf Lockerungen besteht, die die Politik gerne möchte.
€dit: Habe mir übrigens tatsächlich die Zeit genommen mal die Titelstory im Spiegel diese Woche zu lesen und muss sagen, dass ich dadurch echt kein bisschen schlauer als vorher bin, was die Entscheidungsfindung angeht. Merkel drängte auf härtere Maßnahmen, viele MPs wollten nicht. Das wussten wir alles längst. Warum sie nicht wollten: Fragezeichen.