@tic0r
Man muss nicht jede Ansteckung verhindern, sondern nur genug, damit ein Infizierter im Mittel nicht viel mehr als einen weiteren Ansteckt. Normalerweise sind es wahrscheinlich zwischen 2 und 4. Dazu ist permanent ein gewisses Maß an Generalprävention nötig, sprich: Social Distancing. Dazu möchte man unbedingt sämtliche Settings verhindern, die Superspreading begünstigen, also Partys und Versammlungen aller Art. In Gemeinschaftseinrichtungen, die ebenfalls ein hohes Risiko rasanter Verbreitung bergen, sollte man engmaschig screenen, um Ausbrüche früh zu entdecken und einzudämmen. Dafür haben wir inzwischen die Testkapazität, wenn wir intelligente Batch-Methoden verwenden. Was fehlt, ist die Infrastruktur.
Einen gewissen Beitrag wird höchst wahrscheinlich auch das Wetter leisten. Das gilt für alle Erkältungskrankheiten und es gibt keinen Grund, weshalb es hier anders sein sollte.
Die Idee ist, dass man durch all diese Effekte die Reproduktionszahl bereits in die Nähe von 1 bekommt, vielleicht 1,5 oder etwas in der Größenordnung - entspräche etwa einer 50%-Reduktion der vorherigen Ansteckungsrate.
Den Rest soll dann das Auffinden und Isolieren von Kontakten besorgen, hoffentlich bald mit digitaler Unterstützung.
Dass das funktioniert, ist keineswegs sicher. Ich selbst war lange Zeit spektisch - die Einschleppung von außen ist ein weiteres Problem. Aber viele andere Möglichkeiten haben wir imo nicht. In jedem Fall dürften wir etwas Zeit gewinnen, idealerweise bis ein Impfstoff wenigstens für die Hochrisikogruppen zur Verfügung steht. Aber selbst wenn das nicht passiert und wir irgendwann doch auf Durchseuchung umschwenken müssen, könnte sich der Ansatz lohnen, weil wir bis dahin mehr über die Krankheit wissen und sie wesentlich besser therapieren können. Das könnte die Komplikations- und Sterberate auf ein Niveau senken, dass diese Strategie vertretbar macht.
@Gustavo
Zu 1. und dem Absatz davor:
Ich gehe doch sehr bewusst von einem subjektiven Kriterium aus, das erstmal unabhängig von den Folgen ist.
Konkret geht es mir darum: Gegeben seien ein moderates Maßnahmenpaket M, mit dem wir zwei Jahre leben können, und ein Lockdown L. Wir vermuten die Ansteckungsrate bei einer Basisreproduktionszahl von ungefähr 3. Wir wollen, dass das auf 1 sinkt, also um 60-70%. Wir hoffen, das mit unseren Maßnahmen erreichen zu können. Die Diskussion im März wurde imo ziemlich offensichtlich nicht so geführt, als wenn das das Ziel sei, sondern deutlich mehr.
Wir wissen nicht genau, was realistisch war. Ich habe stark dafür argumentiert, dass man mit L deutlich übers Ziel hinausschießt und M wahrscheinlich schon ungefähr reicht. Selbst wenn ich mich damit irre, bleibt R aber unter M nicht auf 3, sondern irgendwo dazwischen. Sowas merkt man recht schnell - je schneller, desto weiter man daneben liegt -, weil man einerseits das Verhalten der Menschen direkt beobachten kann. Und mit einem gewissen Verzug sieht man es auch an den Infektionszahlen. Wenn R für eine kurze Zeit noch höher als 1 liegt, dann sehe ich trotzdem eine Katastrophe nicht mal am Horizont. Und mir fehlt von dir einfach eine gute Erklärung, wie das passieren soll.
Das kann ja eigentlich nur sein, wenn die Maßnahmen, die wir für langfristig hinnehmbar halten, bei weitem nicht ausreichen. Daraus folgt für mich dann aber tendenziell bereits, dass die Strategie der langfristigen Reduktion unbrauchbar ist und wir was anderes brauchen.
Mein Hauptkritikpunkt besteht nicht darin, dass wir einen Lockdown gemacht haben, sondern dass er nicht in eine Strategie eingebunden war.
Man kann eine Strategie wählen, bei der ein Lockdown notwendig ist und einen langfristigen Nutzen verspricht. Damit hätte ich überhaupt kein Problem.
Es ist im Übrigen nicht so, als würde ich meine persönlichen Priors allem überstülpen. Im Gegenteil, ich orientiere mich imo ziemlich konsistent an den Priors, die die Politik vorgibt.
Ich war zutiefst überrascht, als mir gegen Mitte März klar wurde, wie weit man zu gehen bereit ist, um diese Pandemie aufzuhalten. Das war für mich überhaupt nicht konsistent mit dem, was man bis dahin gesagt und getan hatte: Spahn strahlte maximale Gelassenheit aus. Das RKI vermochte kein substantielles Risiko zu erkennen. Merkel sprach von Herdenimmunität. Ernsthafte Vorbereitungen oder präventive Schutzmaßnahmen wurden nicht ergriffen. Man hat sehenden Auges fast nichts getan bis kurz vor dem Lockdown.
Ich habe das so interpretiert, dass man die Krankheitslast als nicht so groß eingeschätzt hat im Vergleich zu den Auswirkungen von Gegenmaßnahmen.
Woher kam der plötzliche Sinneswandel? Ich bin weiterhin der Meinung, dass es eine Kurzschlussreaktion war aufgrund der Bilder aus Italien, der Reaktion in anderen Ländern und der Stimmung in der Bevölkerung, die es opportun gemacht haben, etwas überzureagieren.
An sich ist an einem Strategiewechsel ja nicht mal etwas einzuwenden. Aber es sollte schon klar sein, wohin, insbesondere wenn das Mittel ein Lockdown ist.
Das war aber von Anfang an nicht klar. Im Ergebnis stolpert man jetzt genau so aus dem Lockdown hinaus, wie zuvor hinein.
Ich erwarte trotzdem, dass wir ganz gut durch den Sommer kommen. Aber das Risiko ist jetzt höher, als es hätte sein müssen. Der Lockdown scheint zumindest zum Teil vergeudet gewesen zu sein.
Das zeigt, dass die politisch Verantwortlichen eben nicht so verantwortungsvoll handeln, wie du suggerierst.
Zu 2.:
Mein Ansatz war eher, dass individuelle Verhaltensanpassungen uns bereits sehr weit bringen und ein Lockdown nicht nötig ist.
Insofern sehe ich keine Überbetonung staatlicher Verordnungen, eher das Gegenteil.
Und nur damit wir uns nicht missverstehen: Es geht mir explizit nicht um Freiwilligkeit, sondern um Feinsteuerung: Verordne ein bestimmtes Verhalten im Café, im Laden usw., statt Laden und Café zu schließen.
In Bezug auf die wirtschaftlichen Folgen bin ich überhaupt nicht sicher, ob die Policy-Anpassungen, auf die ich abstelle, einen starken Effekt hätten. Dafür ist der Einfluss von Externalitäten wohl zu groß.
Mir geht es aber auch gar nicht primär um ökonomische Folgen, sondern um menschliche. Unabhängig davon, was die Volkswirtschaft macht, verliere ich doch etwas, wenn ich Dinge, die für mein Leben essentiell sind, nicht mehr tun kann.
Einige Effekte wird man ex-post sicherlich beobachten können, aber nicht ich glaube nicht, dass man jeden Effekt sinnvoll quantifizieren kann.
Ich finde in diesem Zusammenhang auch die Diskussion über die Auswirkungen auf Kinder als höchst unglücklich. Sie erinnert mich an die unselige Diskussion, ob es denn okay sei, Babys sich in den Schlaf weinen zu lassen. Noch in jeder davon ist früher oder später ein Ökonom aufgetaucht und hat erklärt, dass Let them cry it out keine quantifizierbaren langfristigen Effekte habe und man das daher ruhig machen könne.
Aber sollten wir uns davon leiten lassen? Imo nicht, denn es hat einen völlig offensichtlichen akut negativen Effekt: Dem Baby geht es dabei hundserbärmlich.
Wenig, was uns im Leben passiert, hat einen Effekt, den man Jahre später noch messen kann. Das heißt nicht, dass nur wenig in unserem Leben einen Effekt auf uns hat. Insbesondere ist offensichtlich falsch, dass es mir heute nicht schlecht geht, nur weil man das morgen nicht mehr messen kann.
Man hätte natürlich versuchen können, die Auswirkungen auf die Lebensqualität zu erfassen, zum Teil wird das ja von der Wissenschaft versucht. Aber das ist immer noch von begrenzter Aussagekraft, weil wir das kontrafaktische Szenario nicht kennen.
Durch diesen Datenmangel hat die Diskussion etwas Philosophisches. Aber das ist imo einfach, womit man hier ein Stück weit arbeiten muss. So weit weg von den Erwägungen, die die Politik bei ihren Entschlüssen leiten, sind wir damit vermutlich nicht. Man kann sich nicht immer in den quantitativen Elfenbeinturm zurückziehen.
Zu 3.:
Für mich ist keineswegs ausgeschlossen, dass eine Durchseuchung die bessere, vielleicht sogar notwendige Alternative ist. Das wäre dann der Fall, wenn ein Impfstoff nicht oder absehbar zu spät kommt oder wenn die Eindämmung uns bis dahin Maßnahmen abverlangt, die wir nicht zu leisten bereit sind.
Beides ist grundsätzlich möglich. Ich bin von Anfang an eher davon ausgegangen, dass wir das Infektionsgeschehen mit vertretbaren Maßnahmen wenigstens für ein, zwei Jahre kontrollieren können und das auch reicht, um einen Impfstoff oder eine effektive Therapie zu entwickeln.
Das von dir verlinkte Paper finde ich sehr interessant. Die optimale Strategie entspricht qualitativ haargenau der von mir favorisierten: Frühe und moderate(!) Intervention, die über einen langen Zeitraum aufrechterhalten wird und R effektiv knapp über 1 hält. Dazu muss man aber ein Niveau von Einschränkungen wählen, das auch langfristig aufrechterhalten werden kann. Ich bin der Meinung, dass man dabei unnötig übers Ziel hinausgeschossen ist.
Streiten könnte man darüber, wo wir uns im März zwischen dem Basismodell und der Alternative mit mehr Initialinfektionen befanden. Der richtige Zeitpunkt, um zu intervenieren, wäre sicherlich Ende Februar oder Anfang März gewesen, als klar war, dass wir hier einen Ausbruch haben, der sich nicht mehr ohne Generalprävention eindämmen lässt - prinzipiell eher noch früher, aber ich gestehe zu, dass es politisch kaum zu leisten ist, signifikante Einschränkungen durchzusetzen, solange wir in Deutschland keinen bekannten Infektionscluster haben. Die Einzigen, die das geschafft haben, sind die unmittelbaren Nachbarn Chinas.
Selbst als wir im Laufe des März dann aus dem Kleister kamen, waren wir aber weit unter den 1% Infizierten, für die das Modell als Alternative einen Lockdown empfiehlt. Was dazwischen passiert, wissen wir leider nicht. Wenn jemand eine realistische Schätzung unserer Infektionszahlen zum Tag x in so ein Modell wirft und das berechnet, dass wir erstmal einen Lockdown machen sollten, bin ich der Letzte, der dazu nein sagt.
Aber im März war mir nicht klar, auf welcher Grundlage die Entscheidungen getroffen wurden und die Verantwortlichen haben sich bis auf Gemeinplätze auch nie ins Zeug gelegt, um das zu erklären.
Damit wären wir wieder bei der Frage, mit welchen Maßnahmen man dieses Ziel erreicht. Darin besteht die größte Unsicherheit.
Eine andere große Unsicherheit ist die Perspektive eines Impfstoffs. Hier finde ich deine Sicht etwas inkonsistent: Du vertrittst in Bezug auf die Maßnahmen eine maximale Risikoaversion. Andererseits scheinst du dich bei der Frage, ob und wann ein Impfstoff kommt, damit zu begnügen, dass das schon irgendwie rechtzeitig klappen wird.
Dabei hat diese Frage große Auswirkungen darauf, wie wir am Anfang der Pandemie vorgehen sollten.
Das Modell geht von 18 Monaten im Mittel bis zu einer medizinischen Lösung aus, die die Pandemie auf einen Schlag beendet. Mein Stand im März war, dass 18 Monate eher als untere Grenze anzusehen sind. Ich hab keine Ahnung, was hier eine sinnvolle Verteilung für den Zeitpunkt der massenhaften Verfügbarkeit ist und wie man den Erwartungswert ansetzen sollte. Persönlich hab ich mit dieser Zahl als best guess kein Problem.
Mich interessiert aber, wie du das zusammenbringst: In Bezug auf die Infektionszahlen sagst du, dass wir auf das obere Ende des Konfidenzintervalls zielen sollten. Wenn wir genau das tun bei der Frage, wann wir mit einem Impfstoff rechnen, dann kommen wir aber sicher bei viel mehr als 18 Monaten raus. In der Alternativrechnung für 36 Monate ändert sich die optimale Strategie stark. Man kann sich das aber auch ohne Modell leicht klar machen.
Hier scheint mir deine Risikoaversion einfach biased zu sein bzw. einen starken Hang zur Kurzfristigkeit zu haben - genau was ich auch an unserer Policy kritisiere.
Ich habe übrigens nie geglaubt, dass der Lockdown den Ausbruch nur nach hinten verschiebt. Ich habe gesagt, dass er das genau dann tut, wenn man keine weiteren Maßnahmen ergreift, die im Anschluss die Ansteckungsrate langfristig begrenzen und habe daher dafür plädiert direkt diese Maßnahmen zu implementieren, ohne in den Lockdown zu gehen. Das basiert, wie schon gesagt, auf meiner Einschätzung, dass eine hinreichende Reduktion der Neuansteckungen mit deutlich milderen Mitteln erreichbar ist.
Und ich habe davon immer zwei Ausnahmen zugelassen, nämlich dass der Lockdown unsere Fähigkeiten mit einem Ausbruch fertig zu werden oder ihn zu verhindern stark verbessert.
Für den ersten Fall sprach, dass wir in der Tat erstmal einen eklatanten Mangel an Schutzausrüstung, zeitweise sogar Desinfektionsmittel hatten und die Befürchtung bestand, dass die Intensivkapazität nicht reichen könne. Das sind alles valide Punkte, aber wenn das Ziel von R nur knapp über 1 erreicht worden wäre - wovon ich ja ausging -, dann sehe ich das nicht als so bedrohlich, dass man den Lockdown braucht. Man konnte imo plausiblerweise davon ausgehen, dass sich die gröbsten Mängel innerhalb von Wochen beseitigen ließen. Und so weit war eine kritische Masse an Infektionen selbst dann noch entfernt, wenn wir das Ziel relativ deutlich verfehlt hätten.
Damit sind wir beim zweiten Punkt und der anderen möglichen Strategie: Neuinfektionen erst durch Lockdown auf ein absolut niedriges Niveau bringen und dort vornehmlich durch Test, Track, Trace kontrollieren, während die Generalprävention deutlich stärker gelockert werden kann.
Ich habe die wesentlichen Vorbehalte dagegen bereits gegenüber tzui und Heator geäußert gehabt.
Jetzt muss ich allerdings zugeben, dass ich diese Strategie inzwischen sehr viel besser finde als noch im März. Das hat mehrere Gründe.
Die marginalen Kosten sind durch den bisherigen Lockdown gesunken. Es gibt inzwischen auch bessere Evidenz, dass es in einigen Ländern funktioniert, wenn auch nicht in allen, z.B. Singapur.
Ein weiterer Grund hängt mit deiner Fußnote hier zusammen: Anfangs hat man eher betont, dass die Krankheit zwar ein systemisches, aber kaum ein individuelles Risiko für die meisten Menschen birgt, aber dieser Ton hat sich inzwischen deutlich geändert. Das diente zum Teil wohl dazu, den Lockdown zu rechtfertigen und die Compliance zu erhöhen. Es hat aber den Nebeneffekt, dass sich jetzt meinem Eindruck nach viele Menschen persönlich im Risiko sehen und gar keinen Drang zurück zur Normalität haben, bis sichergestellt ist, dass das Infektionsrisiko dauerhaft sehr klein bleibt.
Inwieweit das rational gerechtfertigt ist, möchte ich hier gar nicht im Detail erörtern. Aber ich respektiere, dass viele Menschen, nicht nur die enge Risikogruppe, ein starkes Bedürfnis danach haben ohne diese Krankheit und auch ohne Angst davor zu leben.
Ich meine außerdem zu bemerken, dass die Gesellschaft sich an dieser Frage zunehmend spaltet: Manche nehmen das Risiko sehr ernst, andere gehen eher gelassen damit um. Das ist auf Dauer kein guter Zustand und aus dem kommen wir am besten raus, indem wir das Krankheitsrisiko minimal halten.
Auch kann ich mich natürlich nicht der Tatsache verschließen, dass es inzwischen unter Experten eine klare Tendenz in diese Richtung zu geben scheint.
Zu guter Letzt glaube ich inzwischen stärker als noch vor sechs Wochen daran, dass ein Impfstoff und/oder effektive Therapien deutlich früher zur Verfügung stehen könnten, als anfangs prognostiziert wurde. Aber das könnte man freilich auch unter Wunschdenken verbuchen
Unter all diesen Gesichtspunkten erschiene es mir in der jetzigen Situation sehr viel sinnvoller die Infektionen durch etwas Aushalten noch weiter zu reduzieren und dann deutlich mehr Normalität zu wagen, als man es sonst könnte.
Leider sehen wir inzwischen auch, dass sich einige meiner Kritikpunkte an der Strategie bewahrheitet: Wir können den benötigten Lockdown offenbar nicht lange genug durchhalten, um die Infektionszahlen weit genug zu drücken. Vielleicht schaffen wir es gerade so, aber die Ausgangslage wird nicht so gut sein, als hätte man die Strategie konsequent befolgt.
Auch hat man es bis jetzt nicht geschafft die anderen Voraussetzungen zu erfüllen, die die Strategie eigentlich erfordert: Unsere Testkapazität wurde zwar deutlich gesteigert, aber nicht genug. Und wir setzen die vorhandene Kapazität immernoch nicht gezielt da ein, wo wir es sollten. Was aus den Pooltestungen geworden ist, die unsere Testkapazität relativ leicht vervielfachen könnte, frage ich mich sowieso. Es ist auch überhaupt nicht gelungen ein Screeningkonzept auf den Weg zu bringen. Die App lässt weiter auf sich warten und ich bin auch skeptisch, ob wir mit unserer Datenschutzneurose sie jemals in ausreichender Zahl nutzen werden.
Und nach wie vor leben wir in einem europäischen Binnenmarkt und im Schengenraum, wo wir den Zufluss von außen deutlich schlechter kontrollieren können als Länder wie Südkorea oder Taiwan. Wir sind also viel stärker davon abhängig, dass unsere Partner das ungefähr so gut hinkriegen wie wir.
Das grundlegende Problem der Strategie bleibt, dass man keine natürliche Immunität aufbaut und sich ganz auf einen baldigen Impfstoff verlässt. Sollte sich TTT als effizient erweisen, scheint mir diese Unsicherheit allerdings hinnehmbar, andernfalls war es den Versuch wert.
Ich muss außerdem zugeben, dass ich anfangs wohl unterschätzt hatte, wie stark die internen negativen Effekte eines höheren Infektionsniveaus sind. In diesem Punkt fand ich das Paper durchaus erhellend.
[Edit: Ich bin in diesem Zusammenhang gespannt auf die Info/Helmholtz-Studie.]
Speziell zu den Meinungsumfragen nochmal:
Ich sage nicht, dass Meinungsumfragen keinen Aufschluss über das Befinden der Bevölkerung geben. Aber dieses Befinden ist von dem Bild geprägt, das Medien und Öffentlichkeit von der Situation zeichnen. Und wenn dieses Bild sich den meisten Bürgern - ob zutreffend oder nicht - so darstellt, dass wir jetzt dringend maximal intervenieren müssen, weil die Bundeswehr sonst schon mal die LKWs betanken muss, dann wird das einen Einfluss darauf haben, für wie angemessen man Maßnahmen hält, die das verhindern sollen.
Am Ende geht es mir darum, dass du aus Meinungsumfragen, die eine hohe Zustimmung zu den Maßnahmen zeigen, nicht schließen kannst, dass die Maßnahmen keine drastischen Auswirkungen auf die Menschen haben. Selbst wenn wir die Zustimmungswerte für bare Münze nehmen, hast du hier imo keinen starken Punkt, weil die Aussage nicht erst dann wahr wird, wenn sie auf die Mehrheit zutrifft. Wenn ein Drittel die Maßnahmen für übertrieben hält, obwohl wir bereits deutliche Lockerungen umgesetzt und weitere beschlossen oder angekündigt haben, kann man das durchaus als Bestätigung dafür sehen, dass die Maßnahmen drastische Wirkung entfalten.
Und keiner von uns kennt das kontrafaktische Szenario, dass die Politik vor dem 20.4. verkündet, wir müssten jetzt den Lockdown noch für unbestimmte Zeit aufrechterhalten, bis wir bei unter 200 Neuinfektionen pro Tag sind oder so.
Zur Gerechtigkeit:
Worauf ich mit meinem Trolley-Vergleich hinaus wollte: Es gibt gute Gründe es schlimmer zu finden, wenn jemandem etwas getan wird, als wenn jemandem etwas passiert.
Darum kann man imo nicht einfach den Verlust durch die Krankheit und den durch die Gegenmaßnahmen vollkommen gleich gewichten: Das eine ist kategorisch gravierender als das andere.
Dazu kommt, dass die Art der Wirkung in beiden Bereichen sich so stark unterscheidet, dass sie eigentlich inkommensurabel sind. Jeder Versuch sie unter ein Kalkül zu fassen kann letztlich nur einen extrem groben Hinweis darauf geben, wie die quantitativen Verhältnisse sind.
Fundamental vermitteln zwischen diesen beiden Sphären kann man kaum.
Derzeit tun wir so, als sei die Grenze der Hilfspflicht erst da erreicht, wo ich mein eigenes Leben gefährde - wo "Leben gegen Leben" steht, wie man jetzt öfter hört.
Ich halte das in zweierlei Hinsicht für falsch: Zum einem bin ich nicht überzeugt, dass der Lockdown unterm Strich auf jeden Fall Menschenleben kostet, und zwar unabhängig von den Covid-19-Toten, die man verhindert. Man weiß afaik inzwischen, dass z.B. Wirtschaftskrisen nicht unbedingt die Lebenserwartung reduzieren.
Zum anderen halte ich es für absurd so zu tun, als habe ein Mensch gegenüber einem anderen eine allumfassende Hilfspflicht, die erst da endet, wo er sein eigenes Leben gefährdet oder im Erwartungswert ungefähr so weit verkürzt, wie er es dem Hilfsbedürftigen verlängert.
Genau das suggeriert man aber, wenn wir solche Nutzenkalküle anstellen und die Ergebnisse für bare Münze nehmen: Wir erlegen damit implizit oder explizit eine Pflicht auf, die für viele im Einzelfall niemals statthaft wäre.
Jetzt will ich keinesfalls sagen, dass politische bzw. den Staat und die Gesellschaft als Ganzes betreffende ethische Maßstäbe äquivalent zu individual-ethischen sein müssen - ich hoffe sehr und erwarte, dass der Staat sehr viel utilitaristischer handelt, als es der Einzelne tut. Aber man solle das imo zumindest im Hinterkopf behalten.
Daraus folgt wenigstens, dass wir darauf achten sollten erstens niemanden über Gebühr zu belasten und zweitens, dass wir die Lasten insgesamt fair verteilen.
Das gilt hier für mich wie bei Umverteilung ganz allgemein.
Einschränkend ist klar: Die Art der Umverteilung, mit der wir es zu tun haben, vollzieht sich in einer ganz anderen Währung als Geld und Zeit ist ein extrem kritischer Faktor.
Solange es um kurzfristige Ad-hoc-Maßnahmen geht, ist es einigermaßen egal, wer jetzt genau wie schlimm unter den Maßnahmen zu leiden hat.
Aber eine Dauer, bei der das irrelevant ist, haben wir imo längst überschritten.
Mich wundert schon, dass du dich in diesem Fall weitgehend unsensibel gegenüber Verteilungsfragen zeigst unter dem pauschalen Verweis darauf, dass es laut Umfragen "den Menschen" ganz gut gehe, wenn die Wirkung sich offensichtlich extrem ungleich verteilt ist.
Viele Menschen leben gerade in der ein oder anderen Form auf Pump, weshalb sie von den wirtschaftlichen Folgen bisher geschont sind. Sehr viele Menschen haben oder hatten durch Homeoffice, Kurzarbeit, zum Teil (im ÖD) bezahlte Freistellung viel mehr Zeit als vorher, während sie nur auf relativ wenig verzichten müssen. Natürlich gehts vielen davon nicht schlecht.
Das ändert nichts an den massiven Einschränkungen, die der Lockdown für große Teile der Bevölkerung hat.
[Edit: Dieser Teil ist schon älter: Wir sehen ja gerade, wie das kippt, obwohl ich geneigt bin auch das weniger ernstzunehmen als die vorherige Stimmung in die andere Richtung. Vor allem ist sie wesentlich weniger unabhängig vom Input, den sie auch aus der Politik erhält.
Was man daran sieht, ist imo ganz einfach, dass die Menschen das zu kurzfristig denken und Politik, die strategisch handelt, sich tunlichst nicht zu sehr von der Stimmung der Bevölkerung treiben lassen sollte.
Dann nähert sich die benutzte Strategie nämlich dem Equilibrium an, statt sich nahe am Optimum zu halten.]
Und ja, ich sehe hier Familien durchaus im Fadenkreuz. Meine Beobachtungen dazu:
Familien sind stark von den Maßnahmen betroffen, weil ihr Lebensmodell fragiler ist als das von Nichtfamilien und im Zuge des Lockdowns enorm unter Druck gerät. Das gilt sicherlich nicht für alle, aber für viele ist es eine echte Katastrophe. Die Politik hängt in ignoranter Weise der Fiktion an, dass man Erwerbsarbeit mit Kinderbetreuung vereinbaren könne, solange beides zu Hause stattfindet. Viele Eltern, größtenteils Mütter, werden dadurch völlig aufgerieben.
Ich habe großes Verständnis für all diejenigen, die durch die Krise in ihrer ökonomischen Existenz bedroht sind, weil dahinter auch menschliche Schicksale stehen. Aber gerade das häusliche und familiäre Umfeld sollte in einer Krise eigentlich eine Burg sein. Eingriffe, die unmittelbar in diesen Bereich hineinwirken, haben für mich eine andere Qualität als solche, die das öffentliche Leben betreffen.
Es geht hier nicht um die Unverschämtheit, Zeit mit seinen Kindern verbringen zu müssen. Es geht für viele darum, dass die Zeit für sich selbst abgeschafft wird, um Stress, Überforderung, Schlafentzug usw.
Das lässt sich imo nicht mit einem "man wird ja wohl mal für ein paar Monate" wegwischen.
Mütter nehmen regelmäßig sowieso bedeutende Nachteile in Kauf zugunsten der Kindererziehung. Wir wissen, dass sowas auch langfristige Auswirkungen auf die Erwerbsbiografie hat.
Aus alledem folgt nicht, dass man unbedingt die Wiederöffnung von Kitas und Grundschulen forcieren muss.
Aber wenn man meint das nicht tun zu können, muss man sich gefälligst was anderes überlegen - die aktuelle Entschädigung nach Infektionsschutzgesetz ist ein Witz.
Ich hab relativ früh dafür plädiert die Schulpflicht auszusetzen und den Eltern, die ihre Kinder selbst versorgen können und wollen dafür einen finanziellen Ausgleich zu bieten ähnlich dem Elterngeld.
Besser wäre natürlich gewesen, man hätte mit dem lockern gewartet und klar erklärt, warum. Dann könnte man heute fast komplett wieder aufmachen.
Jetzt sehen viele Familien sich in der Situation, dass sie beim Recht auf Normalität ganz hinten anstehen und zwar unter dem Vorbehalt der Infektionszahlen, während für fast alle anderen schon wieder Alltag ist.
Die Politik nutzt hier völlig analog zu der Policy, die wir über Jahrzehnte hatten, die Ausweglosigkeit von Familien aus, indem sie die Lage einfach aussitzt.
An dieser Stelle nochmal zu dem, was du ganz am Anfang sagst. Denn ich glaube, dass unsere Grundauffassung hier erheblich unterscheidet.
Ich halte es für einen Geburtsfehler unseres Sozialstaats, dass er zwar einen großen Teil der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand genommen hat, jedoch die Basis dieser Daseinsvorsorge weitgehend dem Einzelnen überlässt, nämlich die Reproduktion.
Inzwischen wissen wir, dass das zu einem großen demographischen Problem geführt hat, weil die Leute eben nicht immer Kinder kriegen.
Wir bräuchten als Leitbild eigentlich die Drei-Kind-Familie. Die gute Nachricht ist, dass das viele Familien sogar anstreben und sogar besonders häufig die, die gut mit Humankapital ausgestattet sind.
Aber dazu musst du als Staat und Gesellschaft eben die Voraussetzungen schaffen, dass die Eltern, um diesen Weg zu gehen, nicht auf absurd viel verzichten müssen im Vergleich zu ihren Peers.
Wir haben in diesem Punkt bedeutende Fortschritte erzielt. Diese Krise wirft uns um Jahre zurück. Man packt die alten Vorurteile aus: Die wird sich ja wohl mal um ihre eigenen Kinder kümmern können usw.
Das ist eine absolute Enttäuschung für viele Familien, die an das Versprechen geglaubt haben, dass sie in 2020 eben nicht mehr dieselben Kompromisse eingehen müssen wie vor 20 oder 50 Jahren.
Wir brechen gerade dieses Versprechen, indem wir genau in dieses alte Muster zurückfallen, dass es letztlich ja doch die Verantwortung der Eltern sei zu sehen, wie sie klarkommen.
Wenn man mal akzeptiert hat, dass die öffentliche Betreuungsinfrastruktur genau so Teil der Daseinsvorsorge ist und entscheidend in die Lebensplanung eingeht, wie das etwa für die staatliche Rente gilt, dann ist es völlig indiskutabel jetzt so zu tun, als sei nichts dabei, wenn Eltern ihre Kinder jetzt halt mal für ne Zeit ganz selbst an der Backe haben. Kita und Schule zur Verfügung zu haben ist keine Nettigkeit, sondern ein Recht.
Was wäre los, wenn wir für jeden Monat, wo die Kitas zu sind, sämtliche Renten auf das Existenzminimum kürzen würden? Eigentlich fair.
Aber undenkbar, weil wir die Früchte der Familienarbeit auch dann gern genießen und immer gern genossen haben, wenn wir sie nicht säen.
Zum Difference Principle:
Ich hab darüber nochmal nachgedacht und muss gestehen, dass ich da nicht zu einem klaren Ergebnis komme.
Meine erste Intuition geht tatsächlich dahin, dass ich angesichts einer Sterbeverteilung mit 50% über 80 Jahre und 87% über 70 nicht unbedingt davon ausgehe, dass die Risikogruppe hier so stark unterprivilegiert ist. Das sind zu einem großen Teil Menschen, die die durchschnittliche Lebenserwartung bereits erreicht haben. Auf den Rest davon kann man imo durchaus Risikoabschläge in Kauf nehmen, auch wenn das ein gewaltiger Hit aus Sicht des Status quo ist. Das DP wirkt hier für mich nicht als Ad-hoc, sondern als A-priori-Prinzip.
Diese Intuition ist natürlich empirisch sensibel. Die Nachricht, dass Covid-19 tatsächlich um die 10 YLL kosten könnte, hat mich durchaus beeindruckt. Offen gestanden, so sehr, dass ich dem noch nicht so ganz traue. Ich hab in die Studie selbst nicht reingeguckt, darum kenne ich die Methode nicht im Detail. Aber wenn die einfach die statistischen Daten über bekannte Vorerkrankungen mit irgendwelchen Tabellen gematcht haben, sehe ich hier ein hohes Fehlerpotential. Zum einen dürften bei den Opfern regelmäßig gar nicht alle ausschlaggebenden Vorerkrankungen erfasst sein. Zum anderen gehe ich davon aus, dass es innerhalb einer Diagnose eine erhebliche Differenzierung nach dem Schweregrad gibt. Und der dürfte kaum unabhängig von der Wahrscheinlichkeit sein an Covid-19 zu sterben.
Da hängt imo schon viel davon ab, woher die Daten stammen - Obduktionen wären zuverlässiger als Krankenakten - und wie fein man in der Auswertung auflöst. Z.B. verstirbt in quasi allen entwickelten Ländern ein großer Anteil in Pflegeheimen. Das ist eine Subpopulation, die a priori schon nur noch unter einem Jahr Lebenserwartung hat.
Ich betrachte das Ergebnis dieser Studie daher mit einer gewissen Skepsis.
Bei all diesen Erwägungen spielt für mich auch immer noch mit rein, dass der Betroffene sein persönliches Ansteckungsrisiko auch noch in erheblichem Maße gestalten kann. Es ist also nicht allein die Frage, wie sich dieses Risiko unter Normalbedingungen verhält, sondern wie viel (freiwillige) Einschränkung man zumuten kann.
So weit, so outdated - ich lasse es trotzdem so stehen, muss aber dazu sagen, dass meine Haltung mittlerweile stark von der Einsicht geprägt ist, dass für die meisten Menschen sowieso kein normales Leben möglich ist, solange das Infektionsniveau eine gewisse Grenze überschreitet.
Darum sehe ich selbst aktuell auch kaum mehr eine Alternative zu einer harten Suppression-Strategie.
Dass das auf Dauer erfolgreich ist, halte ich nach wie vor für alles anders als sicher, aber es ist imo derzeit die beste Chance, die wir haben.