Sorry, ich hatte erstmal drauflos geschrieben und wollte dann noch etwas drüber nachdenken bzw. dran feilen. Da ich derzeit etwa 12 Stunden am Tag ein Baby auf dem Arm hab, 3-5 Stunden schlafe und nur auf dem Phone tippen kann, dauert das mitunter etwas.
Noch was anderes: Ich habe mal versucht Informationen zu dem Thema zu bekommen, um mir klarer zu machen was wir in Zukunft tun sollten, um Übertragungen zu vermeiden, wenn das soziale Leben wieder stärker hochgefahren ist und ich bin erstaunt, was wir immer noch alles nicht wissen. Das fängt schon dabei an, dass wir nicht wissen, ob sich eine unterschiedliche Virenlast unterschiedlich auswirkt. Es scheint auch noch überhaupt keinen Konsens darüber zu geben, was der genaue Übertragungsmechanismus ist: Droplets vom Husten (fallen relativ schnell zu Boden) oder auch Microdroplets vom Sprechen/heftigem Atmen✝ (können sich auch noch nach 20 Minuten in der Luft halten)? Beides? Wie sehr helfen die unterschiedlichen Maskentypen dagegen?
✝das scheint eine Theorie zu sein, die das japanische Fernsehen popularisiert hat, würde bei mir aber viele Fragen aufwerfen, bspw. warum es dann nicht auf so gut wie jedem Flug zu massenhaft Übertragungen kam, wobei es naürlich auch sein kann dass sich auf diesem Weg das Virus einfach nur mit einer extrem geringen Wahrscheinlichkeit verbreitet
Warum es im Flugzeug kaum zu Übertragungen kommt, könnte mit der speziellen Luftzirkulation zusammenhängen.
Feststeht, dass es keine so starke Betonung auf dem Husten geben kann, weil es ein großer Teil der Übertragungen bereits erfolgt, bevor überhaupt gehustet wird.
Was gegen eine große Rolle von Luft- und auch Kontaktübertragung spricht, ist die geringe Attack rate innerhalb von Haushalten. Die liegt laut inzwischen mehreren Studien unter 20% und damit nur unwesentlich höher als die bei anderen Risikokontakten.
Statistisch scheint es auch so zu sein, dass man tatsächlich einen extrem großen Teil der (bekannten) Übertragungen auf persönlichen Kontakt zurückführen kann, was auch eher gegen Zufallsübertragungen durch Atmung oder Schmierinfektion spricht.
Ein starker Zusammenhang zwischen Viruslast und Verlaufsschwere wird afaik von vielen angenommen, vermutlich auch weil es eine brauchbare Erklärung für die starke Varianz bieten würde. Auch die Todesfälle unter medizinischem Personal, das sonst nicht zur Risikogruppe zählt, könnten darauf hindeuten.
Streeck hatte, wenn ich ihn richtig verstanden habe, angedeutet, dass die Heinsbergstudie dazu Aussagen treffen wird.
Ich habe nur einen Teil deiner Antwort gelesen, weil du sie wieder rauseditiert hast, bevor du auf alles eingegangen bist, aber ich hätte weiterhin Interesse daran. Ich wollte lediglich kurz anmerken, dass ich nicht sagen wollte, man könne über Themen wie Öffnung in einem Forum nicht normativ diskutieren. Mir ging es lediglich darum, dass ich die Wünsche der Bevölkerung als Maßstab dafür nehmen möchte, wie stark der Wunsch nach eben dieser Öffnung ist. Letztendlich glaube ich nämlich, dass einer der größten Unterschiede zwischen uns ist, für wie hoch wir die sozialen Kosten dieser Maßnahmen halten*. Letztendlich werden wir das wohl erst in ein paar Jahren wissen, ich bin einfach erstaunt wie sicher du dir bist dass sie sehr hoch sind. Ich will das jetzt nicht 1:1 vergleichen, aber hier in den USA schicken sie die Schulkinder im Sommer 12 Wochen in die Sommerferien. Das ist als Policy nicht sehr klug, aber katastrophal ist es auch nicht.
Immerhin: Vielleicht verstehen Leute jetzt besser, was für eine wohlfahrtsstaatliche Subsidy es ist, dass sie ihre Kinder weitestgehend beitragsfrei in die Schule verklappen können um ungestört ihrer Erwerbsarbeit nachzugehen.
Interessante Auffassung. Ich würde dem mal entgegenhalten, dass Staat und Gesellschaft immer noch stark davon profitieren, dass Eltern regelmäßig deutliche Wohlfahrtsverluste in Kauf nehmen, um neue Staatsbürger heranzuzüchten.
Je weniger der Staat dazu beiträgt, für eine gewisse Chancenangleichung zu sorge, desto mehr hast du bei der Reproduktion eine Überbetonung derjenigen, die sich private Hilfe leisten können und denjenigen, die etwas gleichgültiger in gewissen Fragen des Kindeswohls sind - mit anderen Worten: Du verlierst deutlich an Reproduktion in der Mittelschicht.
Das Grundproblem sehe ich darin, dass eine moderne arbeitsteilige Gesellschaft nicht mit der Familienstruktur vereinbar ist, auf die wir biologisch geprimt sind. Wir haben da bis heute keinen wirklich guten Ausgleichsmechanismus gefunden, was man daran sieht, dass fast keine derartige Gesellschaft es schafft, auch nur die Selbstreproduktion sicherzustellen.
Das geht, mit Abstrichen, solange gut, wie du das durch Zuzug von außen kompensieren kannst. Aber der wird irgendwann ja auch versiegen und dann bleibt nur, dass wir schrumpfen, was ich aus verschiedenen Gründen nicht für einen erstrebenswerten Zustand halte.
Und mal konkret zur Situation von Familien: Ich krieg da so einiges mit und nachdem gerade die Kita- und Schulschließungen für so wenige Wochen als angemessenes Opfer gesehen wurden, entlädt sich da inzwischen doch ein Sturm der Entrüstung, weil die Leute plötzlich merken, dass es hier nicht, wie wenn ein Schiff untergeht, heißt: Frauen und Kinder zuerst, sondern eher das Gegenteil.
Wir reden hier schon von Kindern, die massive Verhaltensänderungen aufweisen, von Eltern, die an Schlafmangel leiden, sich selbst und ihre Kinder in wenigen Tagen so oft anschreien, wie sonst kaum im Jahr, sich auch mal zum Weinen im Bad einschließen usw.
Die Politik reagiert da mittlerweile auch drauf. Berlin ist wenige Tage nach dem gemeinsamen Beschluss zwischen Bund und Ländern zurückgerudert und hat angekündtigt, die Kitas nun doch deutlich vor August wieder öffnen zu wollen. Dazu hat man sich in der unendlichen Weisheit der Senatsverwaltung dazu entschieden, die Notbetreuung nun auch Kindern in besonderen Notlagen zu ermöglichen. Ob man sich das so vorstellen kann, dass die Eltern anrufen und bitten das Kind doch in die Kita zu nehmen, weil man es im Grunde vernachlässige, weiß niemand - die Vergabe der Plätze wird über die Kitas organisiert.
Immerhin kommt zu der vielerorts mehr als dürftig organisierten Notbetreuung - Überraschung: Es macht etwas mit kleinen Kindern, wenn man sie von einem Tag auf den anderen mit anderen Erziehern und anderen Kindern zusammensteckt - nun noch die offizielle Erlaubnis, dass man sich zur Kinderbetreuung in privaten Gruppen zusammenschließen darf. Die Spielplätze gehen auch wieder auf. Wie sinnvoll die Kitaschließung überhaupt noch sein soll, wenn man überall drum herum Platz für Ausweichverhalten schafft, würde ich mal mit einem großen Fragezeichen versehen.
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Antwort auf
https://starcraft2.ingame.de/forum/...r-doch-nicht?p=6749292&viewfull=1#post6749292
Wir reden imo sehr aneinander vorbei. Du bist relativ spät in die Diskussion eingestiegen und ich weiß nicht, inwieweit du vorher schon mitgelesen hast. Ich hab hier bisher eine relativ konsistente und meinem Empfinden nach wohlbegründete Haltung vertreten, während ich weder weiß, was deine Position zu diesem Thema eigentlich ist, noch genau verstehe, wo dein Problem mit meiner liegt.
Das führt dann dazu, dass deine Argumente zum Teil wirken, als seien sie gegen eine Karikatur meine Position gerichtet. Mir ist z.B. völlig unklar, wie du auf ein Katastrophenszenario mit sechsstelligen Todeszahlen kommst.
Meine konkrete Kritik bestand im Wesentlichen darin, dass die Maßnahmen im März eventuell zu spät und dann zu kurz hintereinander kamen und nicht in der richtigen Reihenfolge. Mir ist völlig unklar, wie du darauf kommst, dass eine Verzögerung der höchsten Eskalationsstufe um maximal zwei oder drei Wochen direkt zu einer Katastrophe führen soll. Das ist durch keine plausible Überlegung oder Modellrechnung darstellbar.
Wenn du eine Woche länger bei den Maßnahmen vom 16. März (oder etwas weniger) bleibst, dann entwickeln sich die Infektionen nicht ungebremst weiter, sondern du bleibst auf dem Stand der vorherigen Maßnahmen, von denen du annehmen musst, dass sie wirken. Alles andere würde bedeuten, dass Social Distancing nicht funktioniert oder wenigstens nicht effektiv ist unterhalb drakonischer Maßnahmen.
Und dann könntest du dir die ganze Übung schenken, weil wir von vornherein keine Chance haben.
Ich war nie prinzipiell gegen einen Lockdown eingestellt, aber er ist eine extreme Maßnahme, die du nicht in beliebiger Dauer oder beliebiger Frequenz durchführen kannst. Darum genügt es mir nicht zu sagen: Aber dann sterben doch weniger Menschen. Man muss das Ganze irgendwie vom Ende her denken: Wie wollen wir durch diese Pandemie kommen und welche Rolle spielt ein Lockdown zum jetzigen Zeitpunkt innerhalb unserer Strategie?
Im Wesentlichen gibt es nur zwei mögliche Endpunkte: Natürliche oder künstliche Immunität bzw. eine Mischung aus beiden.
Jenachdem welche Lösung ich präferiere, kann das gegensätzliche Vorgehensweisen implizieren.
Klar ist, dass man die natürliche Dynamik begrenzen muss. Ob es dazu notwendig ist, das exponentielle Wachstum komplett abzuwürgen, hängt von den Parametern ab. Aber als Arbeitshypothese können wir annehmen, dass wir R über lange Zeit nahe 1 halten wollen.
Wenn man davon ausgeht, dass wir auf natürliche Immunität angewiesen sind, dann ergibt es keinen Sinn die Neuinfektionen auf einem sehr niedrigen Niveau zu stabilisieren, weil die Durchseuchung dann zu lange dauert. Wenn man dagegen auf einen Impfstoff setzt, dann wird man eher versuchen die Zahl der Infektionen bis dahin insgesamt zu minimieren.
Vor diesem Hintergrund kann man den Lockdown unterschiedlich bewerten. Aber man sollte schon den Kontext dazu liefern: Warum der Lockdown? Warum jetzt? Was ist das Endgame?
Im luftleeren Raum lässt sich das imo nicht sinnvoll bewerten.
(1)(a)
Das Ziel war und ist, das Gesundheitssystem zu schützen, nicht die Krankheitslast oder die Todesrate zu minimieren. Das scheinst du mir öfter zu vergessen.
Dafür braucht man ausreichend gute Schätzungen für den Anteil der Intensivpflichtigen, für Zahl und Entwicklung der Erkrankten und man muss die Intensivkapazität kennen. Genaue Erkenntnisse über Krankheitsverlauf, Übertragung usw. sind erstmal weitgehend irrelevant.
(b)
Mir leuchtet ein, was du sagst, aber wir meinen imo unterschiedliche Dinge: Mir geht es darum, welche Zielgröße wir optimieren. Und das sollte in meinen Augen der gesellschaftliche Gesamtnutzen sein - unter Berücksichtigung von Gerechtigkeitsaspekten (bspw. Difference Principle), nicht allein Exzesstote, YPLL oder ähnliches.
Darum kannst du eben nicht davon sprechen, dass wir das Risiko minimieren, wenn es sich tatsächlich nur um einen Teil des Risikos handelt und du den Rest ignorierst, weil er sich nicht messen lässt.
(2)
Ich hatte Italien in meiner Aufzählung bewusst weggelassen. Ebenso war die Und-Verknüpfung bewusst gewählt. Darum ist dein Beispiel wenig zielführend.
Ich beschäftige mich nicht allzu sehr mit der Situation in anderen Ländern. Ich gehe aber davon aus, dass es in den meisten gesunden Staaten eine starke Bias der Bevölkerung geben wird, den Beschlüssen der Regierung in so einer Krise zu vertrauen.
Und nochmal: Wir reden hier nicht davon, die Hände in den Schoß zu legen. Es ist auch nicht so, als hätten Experten laut nach Ausgangssperren und Kontaktverboten gerufen. Ich sehe hier überhaupt kein mögliches Szenario, in dem ein Politiker ans Kreuz genagelt oder gar das Vertrauen in unser politisches System untergraben wird, weil man nicht direkt in dem Moment weiter eskaliert, wo Macron dem Virus den Krieg erklärt oder Militärtransporter Leichen aus Bergamo wegbringen.
Es wäre völlig vermittelbar und in den Auswirkungen überschaubar gewesen etwas länger zu warten und einen Schritt zu bewerten, bevor man den nächsten tut. Diesen Luxus hatten wir aufgrund unserer hervorragende Testinfrastruktur und dem Glück, dass wir unseren Ausbruch sehr früh erkannt haben.
(3)(a)
Ich kenne die NY-Timeline überhaupt nicht, aber der Vergleich scheint mir so weit hergeholt wie der mit Italien.
Du kannst unsere Situation im März nicht mit Ländern vergleichen, die aus Pech oder Borniertheit nicht gesehen haben, was mit ihnen passiert, bevor es zu spät war.
(b)
Ich verstehe nicht, wohin du hier willst. Natürlich hat die Politik diese Abwägung zu treffen. Und ich würde es übrigens auch nicht für geboten halten, wenn z.B. jetzt Gerichte, die näher an meiner Auffassung sind, massiv dazwischen grätschen, weil ich mir der fundamentalen Verantwortung der Politik bewusst und auch überzeugt bin, dass zu dieser Verantwortung gehört, dass man als Politiker das Recht hat, mal daneben zu greifen.
Und anders als tzui war ich zu keinem Zeitpunkt der Meinung, dass die Verantwortlichen in Politik und anderen Bereichen hier einen schlechten Job machen. Aber wir sind hier nicht im Fernsehen, darum nehme ich mir schon die Freiheit, die einzelnen Aspekte, mit denen ich ein Problem hab, deutlich anzusprechen.
Meine Kritik ist inhaltlich und hat nicht zum Ziel der Politik die Legitimation für das, was sie tut, abzusprechen.
Im Übrigen scheinst du mir die Entscheidungsbildung der Politik krass zu idealisieren. Die meisten Politiker wirken auf mich, als seien sie in der Sache erfreulich gut informiert. Das darf man angesichts deren Tragweite aber auch erwarten.
Man nutzt aber bei weitem nicht alle Möglichkeiten, die man hat. Man hätte z.B. viel früher die Forschung anregen können. Dann wüssten wir in einigen bedeutenden Fragen vielleicht jetzt schon besser bescheid. Tatsächlich kam da bisher von der Politik sehr wenig, so weit ich das überblicke.
(4)
(a) Mir war schon klar, was du meinst. Aber das ändert erstmal nichts an der Summe.
Die Nutzenverteilung guckt man sich dann im nächsten Schritt an. Ich sehe aber nicht, inwiefern der Lockdown hier gewinnt.
Die Erkrankten verlieren zwar einen beträchtlichen Teil ihrer relativen Lebenserwartung, aber wenn der Durchschnitt bei ca. 80 liegt und über 80% älter als 70 sind, dann verlieren die meisten im Verhältnis zur durchschnittlichen Lebenserwartung bei Geburt nicht so viele Jahre.
Und wenn wir das Risiko auf den Einzelnen runterbrechen: Selbst bei Risikopatienten verläuft die Krankheit nicht in der Mehrheit der Fälle tödlich, sondern mehr so in der Größenordnung von 20 bis 30%, wenn man die Gruppe sehr eng fast. Das Ansteckungsrisiko liegt a priori bei etwa zwei Dritteln. Davon musst du aber einiges subtrahieren, weil ich mich je mehr schützen werde, desto größer mein Risiko ist. Dann besteht noch die realistische Chance, dass bald effektivere Therapien verfügbar sind, für viele könnte sogar ein Impfstoff noch rechtzeitig kommen, wenn wir genug verzögern.
Klar ist das immernoch ein ziemlicher Utility-Hit, insbesondere wenn man subletale Schäden einbezieht. Aber es ist auch nicht, als würde man Lämmer zur Schlachtbank führen.
Der Lockdown trifft häufig die am härtesten, die ohnehin wirtschaftlich und sozial benachteiligt oder bereits besonders beansprucht sind, mit einer besonderen Betonung auf Familien - einer besonders schützenswerten Gruppe.
Man kann das alles angreifen, aber mein utilitaristisches Kalkül tendiert hier recht deutlich dahin, dass der Lockdown nicht so verheißungsvoll ist, wie er Vielen auf den ersten Blick scheint.
(b)
Das Argument lasse ich gelten. Aber es erklärt nicht, warum wir auf der Policy-Ebene nicht in anderen Bereichen auch so durchgreifen, um dem Einzelnen zum Glück einer gesteigerten Lebenserwartung zu verhelfen. Denn dann müssten wir viel rigider gegen lebensverkürzende Laster sie Rauchen, Trinken und Fehlernährung vorgehen, als wir es tun.
Da ich dieser Sichtweise relativ zugetan bin, hab ich damit persönlich kein Problem. Aus Sicht der Politik ist es aber nicht konsistent.
Ich glaube trotzdem nicht, dass du hier einen starken Punkt hast, weil die Einschränkungen, von denen ich spreche, in eine ganz andere Kategorie fallen. Es ist objektiv kein Problem, wenn Menschen längere Zeit auf Bundesliga, Kino und Tanzen verzichten müssen. Aber ein Lockdown tangiert menschliche Grundbedürfnisse, deren Nichtbefriedigung ganz entschieden auf die Lebensqualität durchschlägt.
(c)
Was die Reliabilität meiner Schätzung angeht, verstehe ich deine Verbohrtheit nicht so ganz.
Ich hatte oben bereits ausgeführt, dass mir völlig unklar ist, wie du einen Ereignispfad darstellen willst, bei dem wir mit der von mir vorgeschlagenen subtilen Policy-Anpassung plötzlich mit 500.000 Toten mehr dastehen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist null - für alle praktisch relevanten Belange. Insbesondere sehe ich keinen Anhaltspunkt, dass die Wahrscheinlichkeit dafür Stand heute geringer ist als vor fünf Wochen.
Das steht selbstverständlich immer unter der Prämisse, dass man von der grundsätzlichen Steuerbarkeit dieses pandemischen Prozesses überzeugt ist. Aber etwas anders lässt sich hier nicht sinnvoll vertreten, weil du dann einen Lockdown machen würdest aus Angst, ein Lockdown könne wirkungslos sein.
Insofern würde ich dir in diesem speziellen Punkt direkt widersprechen und durchaus sagen, dass man eine Katastrophe sicher ausschließen konnte - wenn man berücksichtigt, dass mein Begriff von Katastrophe weniger dehnbar ist als der, nachdem die Politik sich richtet. Aber damit wären wir dann bei "die Bilder!", was imo kein seriöses inhaltliches Kriterium ist.
Schweden beispielsweise macht, soweit ich das mitbekomme, längst Triage. Nur stellen die es geschickter an, indem sie die ganz Alten mit schlechter Prognose gar nicht erst auf die Intensivstation bringen, zum Teil nicht mal ins Krankenhaus, weil sie wissen, dass der Platz dann nicht reicht und dass deren Prognose das auch vertretbar macht. Wir haben übrigens auch schon dasselbe gemacht bei den Ausbrüchen in Heimen. Offenbar ist es kein indiskutabler Zustand und qualifiziert auch nicht notwendigerweise als Katastrophe.
Natürlich kann ich die Verteilung der Auswirkungen nicht annähernd gut abschätzen. Das muss ich aber auch nicht, weil ich das Problem überhaupt nicht rein konsequentialistisch denke.
Meine Heuristik von oben ist eher ein Gegenargument, weil gerade viel mit einem Um-zu gerechtfertigt wird und mir wichtig ist, dass wir hier nicht trivialerweise einen guten Deal machen, nur weil mit Lockdown weniger Menschen sterben.
Utilitarismus ist hier aber nicht mein Lieblingsansatz. Wir haben hier das lehrbuchmäßige Problem, dass wir weder auf der einen noch der anderen Seite der Ungleichung gut quantifizieren können.
Ich wollte mit meiner Rechnung vor allem zeigen, dass eine Abschätzung der Folgen hier gerade keine überwältigende Kraft entfaltet und wir daher andere Maßstäbe anlegen müssen. Und da bin ich sehr skeptisch, ob ein ausgedehnter Lockdown tatsächlich eine Form der Hilfe ist, zu der man die Gesellschaft über längere Dauer verpflichten kann. Freiheit ist ein robustly demanding good und darf imo nicht einfach so zur Disposition gestellt werden. Nach meiner Überzeugung darfst du nicht dem Lebensmodell einer substantiellen Zahl von Menschen die Grundlage entziehen, um andere Menschen zu retten. Damit bricht man das Versprechen, das unsere Gesellschaft und unser Staat jedem Einzelnen gegeben haben. Man degradiert damit Menschen zum bloßen Mittel.
Bildlich gesprochen: Ich sehe diese Pandemie eher wie einen Trolley, der auf die Alten und Vorerkrankten zurast. Ich halte es für absolut richtig, ihn zu bremsen und so viele wie möglich von denen vom Gleis zu schaffen. Ihn aber ungebremst aufs Nachbargleis umzulenken, wo gemäß meiner Überschlagsrechnung nicht deutlich weniger Menschen festgebunden sind, halte ich für falsch. Genau das tut aber ein Lockdown.
Um abschließend nochmal meine Position deutlich zu machen: Ich war und bin skeptisch gegenüber dem Instrument des Lockdowns, außer in absoluten Notsituationen, wo wir andernfalls die von dir genannten gesellschaftlichen Verwerfungen fürchten müssen.
Eine Ausnahme stellt der Fall dar, wo der Lockdown in eine Strategie eingebunden ist, die einen großen langfristigen Gewinn verspricht. Bei sowas wäre ich dabei.
Aber diese Strategie ist niemals so ausgegeben und erklärt worden und wir sehen jetzt, dass es darüber auch nie eine politische Einigung gab.
Sämtliche wesentlichen Befürchtungen, die ich im Vorfeld geäußert hatte, sind eingetreten: Der Lockdown kam im Sinne einer Notmaßnahme zu früh. Strategisch hat er uns nicht viel weitergebracht, weil wir ihn nicht lange genug durchhalten. Tatsächlich kehren wir gerade zum Status quo ante zurück, während die Neuinfektionen sich weiterhin auf einem ähnlichen Niveau bewegen, wie als wir den Lockdown angefangen haben. Auch wenn die Änderungsrate noch negativ ist, heißt das im Wesentlichen, was ich bereits vorher zu bedenken gab: Wir haben den Pandemieverlauf um etwa die Länge des Lockdowns auf der Zeitachse nach hinten verschoben. Das ist angesichts der entstandenen Kosten ein niederschmetterndes Ergebnis.
Auch die Auswirkungen entsprechen ganz gut meinen Erwartungen, auch wenn du mir auf Grundlage von Meinungsumfragen unterstellst, ein Outlier zu sein. Dazu mal folgendes: Ob ich eine Maßnahme befürworte oder nicht ist nicht allein dadurch erklärt, wie stark sie mich trifft. Wenn der mediale Tenor eintönig lautet, dass das alles dringenden erforderlich sei, um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden, wundert es erstmal nicht, dass eine große Mehrheit dafür ist. Dann hast du den Effekt der Salamitaktik: Den meisten Menschen wirs erst allmählich bewusst, dass kurzfristige Maßnahmen hier auch nur kurzfristig wirken und wir, falls drastische Maßnahmen jemals erforderlich waren, diese auch über einen langen Zeitraum tragen müssen.
Man sieht ja schon, wie radikal die Stimmung sich z.B. in den Familien gedreht hat. Das war vor ein paar Wochen noch relativ entspanntes: Man muss halt Opfer bringen. Inzwischen kippt Stimmung schnell in Richtung: Wir schaffen das nicht. Und wie auch? Dass man Familien nicht einfach mal die Dreifachbelastung von Erwerbsarbeit, Betreuung und Lockdown aufbürden kann, ohne dass das zu massiven Wohlfahrtsverlusten führt, war vorhersehbar.
Wie es denen geht, die gar keine Stimme haben, nämlich den wirklich benachteiligten und teils vernachlässigten Kindern, können wir nur ahnen. Gleiches gilt für die alten Menschen, die gerade in Heimen isoliert leben, dabei geistig abbauen, teils überhaupt nicht verstehen, wie ihnen geschieht. Ob denen jetzt wirklich damit geholfen ist, sie auf die Art vor einem, wenn auch signifkanten, Sterberisiko zu schützen, oder ob die sich das überhaupt so aussuchen würden, da bin ich mir nicht so sicher. Meiner persönlichen Erfahrung nach sind gerade alte und kranke Menschen oft skeptisch ihre Lebenserwartung zu maximieren, wenn das für sie bedeutende Einschränkungen des Alltags mit sich bringt.
Ich glaube schon, dass manches davon gut vermeidbar gewesen wäre, wenn man auch im Angesicht steigender Infektionszahlen entschieden hätte, eine Festung zu halten, statt direkt die weiße Fahne zu hissen.
Und ich halte es auch nicht für Zufall, dass wir die Belange von Familien, Frauen und Kindern gerade hier in Deutschland ganz hintenan stellen. In Skandinavien und den Niederlanden interpretiert man die wissenschaftliche Grundlage beispielsweise ganz anders.