Die Behauptung, dass die entscheidungsrelevanten Parameter bekannt waren, erscheint mir nicht wirklich belegbar. Nun weiß ich natürlich nicht, wer was wann wusste, aber auf der medizinischen Seite erscheint es mir unklar, woher die Politik die belegbaren Informationen über den Verlauf hätte haben sollen. Es ist eine Sache zu wissen, wie sich das Virus verbreitet, wobei ich selbst da nicht so sicher bin, ob wirklich die Relationen zwischen Schmierinfektionen und interpersonellem Kontakt klar waren (und wie stark dieser sein muss) oder etwa die Relation zwischen Infektionen durch asymptomatische Fälle und symptomatische Fälle; es ist aber noch mal eine ganz andere Sache, belastbare Daten zum Krankheitsverlauf zu haben. Im Gegensatz zu tzui lese ich nun keine "Preprints" auf Medrxiv wie tzui, aber mir scheint dass wir da selbst jetzt noch nicht wahnsinnig belastbare Daten haben, insbesondere was Krankheitsverläufe jenseits von CFRs angeht. Da hat sich imho seit Mitte März einiges getan und tut sich anscheinend immer noch. Behandlungsformen, Behandlungsdauer, Langzeitschäden (soweit einschätzbar) einer Erkrankung usw. usf. Ob die Chinesen da belastbares Material rausgerückt haben erscheint mir von außen sowieso schwer einschätzbar. Insofern: Das erscheint mir ALLES entscheidungsrelevant und ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie du da so gelassen an diese Einschätzung rangehen kannst.
Was direkt zu meinem zweiten Punkt führt: Wir reden hier ja nicht von Minimax in demselben Sinn wie bei den Vergleichen, die du ziehst. Für die meisten dieser Fragen* haben wir relativ starke Priors und dementsprechend relativ genaue Konfidenzintervalle: Bspw. wissen wir ziemlich genau, wie viele Tote durch mangelhafte Krankenhaushygiene pro Jahr ungefähr verursacht werden. Wenn unsere Schätzung für das Mittel sowas wie 15.000 ist, wissen wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass es wohl auch in einem besonders schlimmen Jahr keine 25.000 werden. Dann können wir relativ leicht einen Preis pro Menschenleben festlegen, den wir bereit sind für bessere Hygiene zu zahlen, in dem Bewusstsein dass der Grenznutzen sinkt. Wir würden mit Minimax auf den Erwartungswert zielen. Dementsprechend ergibt Minimax wenig Sinn.
Aber wenn du es wie hier mit einem Phänomen zu tun hast, wo niemand brauchbare Priors hat, zielst du mit Minimax nicht auf den Erwartungswert (der sowieso extrem unsicher ist), sondern auf das obere Ende des Konfidenzintervalls. Im Nachhinein kann natürlich niemand sagen, was die (korrekte) subjektive Wahrscheinlichkeit war, dass wir in eine echte Katastrophe steuern (sechsstellige Zahlen), aber ich bin der Meinung selbst wenn sie relativ klein aber nicht verschwindend gering ist kommt mir der Lockdown wie eine absolut vertretbare Entscheidung vor, zumal man den Lockdown wie gesagt lockern kann.
*wohl minus Klimaschutz, aber da haben wir es auch mit ganz anderen Zeiträumen zu tun, weshalb das Problem anders liegt
Ich glaube du unterschätzt massiv, was für einen Unterschied es macht, ob die Politik aussieht als tut sie alles was in ihrer Macht steht oder nicht. Wenn 20.000 Menschen sterben wie in Italien, aber Conte aussieht als tut er alles was in seiner Macht steht dann gehen seine Zustimmungswerte sogar noch hoch, obwohl die italienische Politik am Anfang der Krise sicher nicht sonderlich geschickt agiert hat. Wenn allerdings dieselbe Zahl Menschen stirbt, aber Conte einen Lockdown verweigert weil er glaubt dessen Konsequenzen sind schlimmer wird er in Italien ans Kreuz genagelt. Zu glauben dass das in Deutschland nicht auch passieren könnte halte ich für naiv. Zumal wir alle vorher ja nicht wissen konnten, was für Auswirkungen der Virus in Deutschland hat. Deshalb hatte ich hier auch mehrfach auf Länder wie die Niederlande oder Belgien hingewiesen: Die sind uns keineswegs unähnlich, haben aber das Vielfache unserer Todesraten. Wie du das mit "aber der Lockdown hätte noch schlimmere Folgen, stellt euch nur mal die Einschränkungen des alltäglichen Lebens vieler Menschen vor" rechtfertigen willst entzieht sich mir völlig. Gibt es dir nicht zu denken, dass fast keine westliche Demokratie eine Politik durchgezogen hat, die ohne massive Einschränkungen auskam, selbst so "wirtschaftsfreundliche" Länder wie die USA? Mir scheint selbst Schweden, die von einem offiziellen Lockdown abgesehen haben (und dazu geografisch im Vergleich zu einem Land wie Deutschland extreme Vorteile genießen), nennt es lediglich nicht Lockdown weil es auf die Vernunft seiner Einwohner vertraut, das richtige zu tun, was eben größtenteils dieselben Maßnahmen sind, die ein Lockdown auch nach sich zieht. Und selbst da ist nicht klar, ob das in Schweden nicht nur deshalb geht, weil alle anderen Länder im Lockdown sind.
Edit: Gerade gelesen, dass in Schweden laut Handydaten das Menschenaufkommen an Bahnhöfen und im öffentlichen Verkehr um 35% runter ist, in Deutschland um 50%, in Italien aber um 85%. Ich habe ehrlich gesagt das Gefühl, so massiv sind die Freiheitseinschränkungen gar nicht, was möglicherweise begründet, warum der Lockdown so hohe Zustimmungswerte hat.
Na ja, die Argumentation besteht mehr oder weniger aus zwei Teilen:
1. Dass wir schon wussten oder hätten wissen können, dass es nicht so schlimm wird. Das halte ich aber für keineswegs belegt, insbesondere wenn ich mir die Modelle aus der Zeit anschaue. Möglicherweise war der Erwartungswert nicht katastrophal, aber mit was für einer Varianz? Ich weiß nicht woher du deine Sicherheit nimmst. Mir scheint auch Leute wie Drosten sahen es damals anders. Ich habe gerade neulich ein Modell gesehen, das behauptet hat, in NYC hätten 90% der Todesfälle durch einen zwei Wochen früheren Lockdown verhindert werden können. Das wären aktuell 18.000 Tote.
2. Der Kernpunkt ist aber, dass du ein Problem mit der Verhältnismäßigkeit der Einschränkungen der Freiheitsrechte hast. Das verstehe ich durchaus. Aber in meinen Augen ist das letztendlich eine Erwägung, die eben die Politik zu treffen hat, weil nur die Politik auf die Schnelle die Expertise akquirieren kann, die nötig ist, um eine ungefähre Einschätzung bezüglich der gesamten Verteilung (!) der möglichen Verläufe zu treffen und lediglich die Politik der Bevölkerung verantwortlich ist. Und da zeigt sich in meinen Augen SEHR deutlich, dass die Bevölkerung diese Einschränkungen mehrheitlich befürwortet hat und wohl auch immer noch befürwortet. Und das spricht für mich dafür, dass du eher ein Outlier bist, was die Einschätzung bzgl. der Drastik der Einschränkungen bist. Im Nachhinein werden wir besser einschätzen können, was für psychologische Kosten zu den ökonomischen Kosten kommen, aber bis hierher ist mir deine Argumentation ein bisschen arg solipsistisch. Was für die Bevölkerung weniger erträglich ist sollte sie doch schon selbst entscheiden.
Einzelne Punkte:
- Mit einseitig meinte ich wie gesagt, dass die Kosten einseitig anfallen, nämlich bei denen die ernsthaft erkranken. Niemand verliert einen Durchschnitt seiner Lebenserwartung, entweder man verliert eine Menge oder (vermutlich) sehr wenig (und selbst dass das bei einer Erkrankung sehr wenig ist war nicht trivial). Du kannst auch nicht einfach sagen, dass 10 Leute sich einschränken müssen, damit einer überlebt, dann aber im gleichen Abschnitt schreiben, dass die Einschränkungen für die meisten Menschen überschaubar sind, aber die Kosten für den Lockdown bei von einigen wenigen getragen werden. Im Zweifelsfall würde ich lieber wenigen starke Einschränkungen zumuten als einer noch kleineren Zahl eine Erkrankung, die für sie den Tod bedeutet.
- Ich würde davor warnen, revealed preferences einfach als wahre Präferenzen zu nehmen. Ich wette mit dir die wenigsten derjenigen, die so übergewichtig sind, dass es ihre Lebenserwartung beeinträchtigt, wünschen sich das so. Sie können es nur einfach nicht ändern, für die meisten sicherlich weil ihnen die Disziplin fehlt. Dass sie nicht glücklicher wären, wenn sie es könnten, lässt sich imho überhaupt nicht daraus schließen, dass sie es nicht sind. Hier sind wir aber in der glücklichen Position, dass das eben nicht jeder für sich entscheiden muss, weil der Staat offensichtlich durchaus starken Einfluss darauf hat, ob das passiert.
- Bei vielen der Fragen ist völlig unklar, wie das kontrafaktische Szenario aussähe: Weder wissen wir, wie viele Leute unter einem "Nicht Lockdown, aber etwas anderes" Szenario gestorben wären, noch wissen wir wie viel weniger Einschränkungen in Kauf genommen worden wären, noch wissen wir was es für die Langzeittodesraten bedeutet (sind sie niedriger oder einfach nach hinten verschoben), noch wissen wir wie lange der Lockdown andauert, noch wissen wir wie ernst die Bevölkerung die Maßnahmen ohne Lockdown genommen hätte, noch wissen wir wie hoch die Langzeitkosten für Kinder und Jugendliche genau sind usw. usf., insofern kommen wir bei diesem Thema nicht zusammen denke ich.
Mir fällt es schwer zu sagen, was für Folgen das kontrafaktische Szenario gehabt hätte, weil wir keinen annähernd vergleichbaren Fall haben, den wir als Richtwert nehmen können. Hätten wir Sterberaten wie Schweden gehabt? Wie Belgien? Mehr? Wenn Schweden wäre ich wohl auch der Meinung, dass das ex post facto (!) keinen Lockdown gerechtfertigt hätte; bei Belgien wäre ich mir schon sehr unsicher. Aber was für mich die Frage relativ eindeutig macht, ist die Tatsache, dass ich dir einfach nicht abkaufe, dass du vor über einem Monat schon eine halbwegs reliable Schätzung bezüglich der gesamten PDF der Auswirkungen machen konntest, in der Katastrophenszenarien eine vernachlässigbare Masse hatten. Was ich von Virologen in den Medien gesehen habe klang allerdings nicht danach, dass die sich das zutrauen würden, dementsprechend hat die Politik dann entschieden. Beispiel: Selbst wenn sowas wie >500.000 Tote über einen Zeitraum bis Ende des Jahres ohne Lockdown Stand März eine 2% Wahrscheinlichkeit gehabt hätte, wäre das für mich kein vertretbares Risiko gewesen, weil ich mir absolut sicher bin, dass es zu extremen gesellschaftlichen Verwerfungen geführt hätte, wenn die Bürger gesehen hätten, dass andere Länder mit Lockdown deutlich besser durch die Krise kommen. Weil ich nicht weiß woher deine Sicherheit kommt diskontiere ich sie. Dass wir im Nachhinein glimpflich durch die Krise kommen ist dagegen kein Argument, das ich akzeptieren würde, denn das hätte tatsächlich auch einfach Glück sein können, wir wissen es nicht. Ich glaube dass ich jetzt als Mensch nicht übermäßig vorsichtig bin, aber hier sehe ich einfach die überragenden Nachteile nicht, die du skizzierst, um nicht auf Nummer sicher zu spielen. Den Lockdown kannst du jederzeit lockern, ein Katastrophenszenario ist bei einer Infektionskrankheit sehr viel schwerer zu bremsen.