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@Gustavo
(1)
Ich will die einzelnen Punkte jetzt nicht ausdiskutieren. Natürlich gab es in den letzten Wochen einen Erkenntnisgewinn auf vielen Ebenen und wir können jetzt durchaus informiertere Entscheidungen treffen.
Aber meine Frage wäre: Was davon ist gegenwärtig wirklich policy-relevant? Oder besser: Was davon beeinflusst tatsächlich unsere politischen Entscheidungen?
Da sehe ich nicht viel. Wir wussten schon vorher, dass es um eine Atemwegserkrankung geht, die sich primär über Tröpfcheninfektion verbreitet. Auch die grundlegenden Parameter, insofern sie für politische Entscheidungen relevant sind, waren bekannt. Drosten hat dazu schon in den ersten Folgen im Prinzip alles Wichtige gesagt und daran hat sich afaik auch nichts grundlegend geändert - auf der virologischen Seite.
Nun ist Drosten halt nicht in erster Linie Epidemiologe und auch kein Experte für die Modellierung. In dem Bereich sind die Fortschritte afaik größer, aber auch hier kann ich nicht erkennen, inwieweit das für unsere Politik eine große Rolle spielt. Mein Eindruck ist, dass da trotz aller Floskeln vom Primat der Wissenschaft sehr frei nach Schnauze agiert wird.
Man versteckt sich im Wesentlichen hinter Allgemeinplätzen wie Gesundheitsschutz, Kontaktreduzierung und Herunterfahren des öffentlichen Lebens.
Mit diesem Vokabular kann man fast beliebige Maßnahmen rechtfertigen, weil "Menschenleben retten" gegenüber jeder einzelnen Einschränkung verhältnismäßig erscheint.
Im Einzelfall treibt das absurde Blüten, bei denen mich durchaus wundern würde, wenn jemand wie du sie guthieße.
Ich finde auch nicht, dass man legitimerweise von einer Minimax-Strategie sprechen kann, wenn man wesentliche Aspekte des Zielkonflikts ausblendet bzw. sie pauschal als nachrangig deklariert.
Wir verfahren in quasi keinem anderen Fall nach diesem Prinzip, egal obs um Gesundheitsschutz allgemein gilt, um Klimaschutz, Umweltschutz, Abgase und Feinstaub, Krankenhaushygiene, Massentierhaltung usw.
Ich bin a priori einfach skeptisch, wenn man ad hoc eine Alternativlosigkeit verordnet, die einem in anderen Situationen nie in den Sinn käme.
Ich möchte nur mal an die jüngste Diskussion um Organspende erinnern, wo Moralapostel aller Couleur uns vorgebetet haben, dass es halt kein Recht auf Spenderorgane gebe und doch niemandem zugemutet werden könne der Organentnahme aktiv zu widersprechen.
Klar war der Einsatz da deutlich geringer - afaik um die 1000 Tote pro Jahr? -, aber der diskutierte Freiheitseingriff nahm sich im Vergleich zu dem, was wir gerade sehen, auch geradezu lächerlich aus.
(2)
Ich verstehe hier weiterhin nicht, was genau du meinst. Bisher sehen wir, wie die Politik für eklatantes Versagen nicht im Ansatz zur Verantwortung gezogen wird.
Unser Gesundheitsminister hat knapp zwei Monate lang in jede Kamera gesagt, wie gut wir vorbereitet seien, nur damit wir dann innerhalb von zwei Wochen von "volle Stadien sind keine so gute Idee" bis zu "bleibt zu Hause und schottet euch ab" kommen. Offenbar bestand unsere Vorbereitung darin, dass wir ohne Weiteres Teile der FDGO außer Kraft setzen können. Trotzdem bescheinigen selbst professionelle Journalisten Herrn Spahn, die Krise gut zu managen. Von der Rolle des RKI will ich gar nicht erst sprechen.
Insbesondere kann ich in anderen Ländern, die es viel schlimmer erwischt hat, keineswegs beobachten, dass denen eine Staatskrise ins Haus steht oder das politische Systeme an sich in Frage gestellt wird. Du müsstest schon genau begründen, weshalb unser System so viel fragiler sein soll als das in USA, UK, Frankreich, Spanien, Schweden und den Niederlanden.
Ich sehe nicht mal im Ansatz, wie man hier die Notwendigkeit konstruieren will, durch übertriebene Vorsicht das politische System zu stützen.
Abstrakte Freiheitsrechte wie Religionsfreiheit, Demonstrationsrecht und dergleichen - übrigens auch Datenschutz - sind gar nicht mein Problem. Auf die kann man getrost eine Weile verzichten - obwohl ich durchaus den Punkt des BVerfG sehe, dass es ein Problem ist, wenn eine Politik die Möglichkeiten gegen diese Politik zu demonstrieren massiv einschränkt.
Mir geht es aber um die Einschränkungen des alltäglichen Lebens vieler Menschen.
(3)
Meine Meinung war und ist, man solle in erster Instanz mit all den Maßnahmen beginnen - bzw. hätte beginnen sollen -, von denen man sich vorstellen kann, dass man sie wenigstens für ein oder anderthalb Jahre durchhält. Denn mindestens so lange, sagen uns die Experten, wird es wohl dauern, bis wir diese Krise endgültig bewältigen können.
Du sagst, es sei gut, erstmal den worst case auszuschließen und sich an das, was möglich ist, dann langsam ranzutasten.
Ich gehe da nicht mit und zwar aus empirischen und normativen Gründen.
Der empirische Grund ist erstmal der, dass meine Konfidenz auch vor dem Lockdown extrem groß war, dass wir hier keine Situation wie in Italien erleben werden.
Wir waren nach übereinstimmender Meinung der meisten Experten mehrere Wochen hinter Italien im Pandemieverlauf und haben ein um einen Faktor von etwa zwei leistungsfähigeres Gesundheitssystem, das sich einige Wochen gezielt vorbereiten konnte.
Und es geht hier ja nicht um den Unterschied zwischen Lockdown und nichts tun, sondern darum, die Spitzen rauszunehmen. Mit dem Sachstand vom 16. März wären wir sehr sicher unterwegs gewesen, ohne der Bevölkerung grundlos die Zusatzbelastung eines Lockdowns aufzubürden.
Das war meine Überzeugung und ich hatte sie auch ex ante zum Ausdruck gebracht. Und mir waren zu diesem Zeitpunkt auch keine anderslautenden Expertenmeinungen bekannt, die darauf gedrängt hätten, man müsse sofort noch drastischer vorgehen.
Dann konnte man sich die Situation zwischen dem 16. und 23. März (Beginn des Lockdowns) angucken. Da konnte man sehen, dass die Maßnahmen und Aufrufe eine starke Wirkung entfaltet hatten, wenn auch mit einigen Tagen Verzögerung.
Aber was hat die Politik daraus gemacht? Sich über Ausnahmeerscheinungen wie Coronapartys aufgeregt und so getan, als müsse man jetzt sofort härtere Bandagen anlegen.
Erst hat man eineDrohkulisse gegenüber der eigenen Bevölkerung aufgebaut. Dann hat man die rhetorische Vorbereitung ungeachtet der tatsächlichen Situation genutzt, um zu verkünden, dass ein Lockdown erforderlich sei. Und die Presse ist voll mitgelaufen, wie offenbar immer, wenn die Politik in diesem Land etwas als alternativlos ausgibt.
Das war die finsterste Stunde unserer Demokratie, die ich persönlich erlebt habe. Bei Lichte betrachtet war die Verhältnismäßigkeit hier absolut nicht gegeben, da es bereits an der Erforderlichkeit fehlte. Es gab zu diesem Zeitpunkt keine Grundlage für einen Lockdown. Die Kliniken waren leer, die Infektionszahlen an den meisten Orten noch sehr niedrig.
Selbst wenn die Maßnahmen ihr Ziel - die Ausbreitung zu stoppen - relativ deutlich verfehlt hätten, wäre genug Zeit gewesen, um noch nachzuschärfen.
Wir sind ein großes Land mit einem in der Breite gut aufgestellten Klinikbestand. Überlastungen des Systems wären nicht flächendeckend aufgetreten, sondern hätten sich auf einzelne Hotspots konzentriert
Die hätte man dann überregional unterstützen können, bis die verschärften Maßnahmen greifen.
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/AktuelleAusgaben/aktuelleAusgaben_table.html
Wenn du mal in das Bulletin vom 15. April schaust, dann siehst du, dass anhand des RKI-Modells die Reproduktionszahl ca. am 21. März das erste Mal unter 1 gesunken ist - zwei Tage vor dem Lockdown - und seitdem hat sich nicht mehr viel getan.
Was hat der Lockdown also genau bewirkt? Davon scheint bisher kaum jemand Notiz zu nehmen.
Auf der normativen Seite unterscheiden sich meine Prämissen in wenigstens zwei wichtigen Punkten von denen, unter denen die Politik gerade agiert.
Zum einen halte ich es nicht per se für katastrophal, wenn man sich bei der Eindämmung etwas verkalkuliert und an manchen Orten vorübergehend zur Triage übergehen muss. Nach meinem Verständnis bedeutet das erstmal nur, dass man den Patienten mit der schlechtesten Prognose keine optimale Versorgung mehr bieten kann.
Solange so eine Situation örtlich und zeitlich eng begrenzt auftritt, sehe ich darin, ehrlich gesagt, kein großes Problem. Dass ökonomische Restriktionen verhindern, dass jeder immer und überall medizinisch optimal versorgt werden kann, ist in unserem System keine Ausnahme, sondern Alltag. Dass das in letzter Konsequenz an vielen Stellen auch Menschenleben kostet, ist ebenfalls keine Überraschung.
Darum sehe ich nicht ganz, was diese Situation hier so besonders macht, dass man sie von sämtlichen Effizienzerwägungen entkoppeln müsste. Dass der psychologische Effekt hier stärker zu Buche schlägt, weil die Folgen eine extreme Aufmerksamkeit bekommen, sehe ich ein. Aber das ist letztlich nur eine Umformulierung von: "Aber die Bilder!"
Mein Instinkt weist hier mehr in die umgekehrte Richtung: Angesichts der Tatsache, dass unsere einzige effektive Präventionsmaßnahme sehr kostspielige Lockdown-Maßnahmen sind, ist es für mich ein Zeichen von Ineffizienz, wenn das Gesundheitssystem zu keinem Zeitpunkt an seine Belastungsgrenze kommt.
Und genau das beobachten wir gerade: In vielen Kliniken dreht das Personal Däumchen und würde gerne wieder Hüft-OPs machen.
Zum anderen versuche ich die Situation vom Ende her zu denken: Was tun wir, wenn die Epidemie langfristig gar nicht ohne Lockdown zu kontrollieren ist? Machen wir den Lockdown dann beliebig lange?
Ungeachtet pragmatischer Überlegungen - halten wir eh nicht durch - und eines Kosten-Nutzen-Kalküls lautet die Antwort für mich ganz eindeutig: nein, und zwar aus fundamentalen ethischen Gründen: Es gibt keine moralische Pflicht, sein Leben langfristig in dem Maße dem Schutz anderer zu unterwerfen, wie das in einem Lockdown der Fall ist. Eine Rücksichtspflicht gibt es zweifellos, aber diese muss sich in dem Bereich dessen abspielen, was sich mit dem eigenen Leben substantiell vereinbaren lässt oder sie muss eng befristet sein. Mehr an Solidarität darf man in einer Gesellschaft, in der die Freiheit letztlich ein höheres Gut ist als das Leben, imo nicht verlangen.
Ich hab grundsätzlich gar kein Problem mit einem Lockdown. Er kann z.B. die Ultima Ratio sein, wenn sie Situation sonst unerträglich wird; wenn es gilt eine kurze Zeitspanne zu überbrücken, in der sich unsere Wehrfähigkeit enorm verbessert; oder wenn er in eine Strategie eingebunden ist, die einen besonders großen langfristigen Nutzen verspricht.
Und grundsätzlich sollte wegen der Effizienz immer gelten: so gezielt, also in Ort, Zeit und Stärke begrenzt wie möglich.
An dieser Stelle sollte ich bemerken: All diese Überlegungen stehen unter der Prämisse, dass unser primärer Constraint ist, das Gesundheitssystem zu schützen. Man kann natürlich von Priors ausgehen, die den Schutz von Gesundheit und Leben per se viel höher gewichten. So argumentiert beispielsweise der von mir geschätzte Karl Lauterbach sehr stringent.
In diesem Fall wird die Argumentation schnell sehr messy, weil es dann tatsächlich auf ein reines Kalkül von Leben gegen Leben hinausläuft, das man kaum realistisch durchführen kann.
Mein ethischer Standpunkt ist allerdings ein anderer, wie oben skizziert.
(4)
Meine kleine Rechnung war nicht dazu gedacht, direkt zu überzeugen. Es sollte mehr ein Extremfall sein, der zeigt: Selbst bei einem prima facie absurd guten Kosten-Nutzen-Verhältnis muss der Lockdown keine triviale Wahl sein.
Tatsächlich sparen wir durch 3 Monate Lockdown nicht im Traum 500.000 Tote. Das würde bedeuten, die Sterblichkeit quasi auf null zu senken. Der reale Nutzen so einer Maßnahme ist viel geringer.
Ich finde es übrigens nicht ganz fair, die Rechnung einseitig zu nennen. Sie ist offensichtlich extrem simpel, insbesondere ist sie rein deterministisch. Darum kommt ein Konzept wie Risiko gar nicht vor.
Ich denke aber nicht, dass eine Erweiterung sich direkt pro Lockdown auswirkt, sogar eher im Gegenteil.
Bezüglich der Risikoaversion scheinst du mir zu überschätzen, wie stark Menschen ihre Lebenserwartung maximieren. Darauf weist schon die hohe Prävalenz lebensstilbedingter Krankheiten hin. Offenbar sind Menschen so stark genuss- bzw. gewohnheitsfixiert, dass sie signifikante Einbußen der Lebenserwartung regelmäßig in Kauf nehmen.
Grundsätzlich bin ich ganz bei dir, dass die Verteilung von Lasten und Risiko von großer Bedeutung ist, schon allein aus Gründen der Gerechtigkeit.
Ich glaube aber nicht, dass mein Argument dadurch verliert.
Denn einerseits ist es doch so: Die Masse des Risikos liegt größtenteils auf den sehr Alten und mehrfach Vorerkrankten. Wenn wir in QALYs rechnen würden, statt in Lebensjahren, müssten wir den Nutzen des Lockdowns deutlich diskontieren.
Die Konzentration des Risikos ist imo nicht unbedingt ein Problem, sondern Teil der Lösung. Denn es ist ja nicht so, als sei das persönliche Risiko völlig fremdbestimmt. Wer weiß, dass er ein hohes persönliches Risiko trägt, der kann durch individuelles Verhalten ganz wesentlich die Chance der Ansteckung minimieren. Das ist letztlich viel effizienter, als wenn sich zehn Menschen massiv einschränken müssen, um einen zu schützen.
Staat und Gesellschaft sind in der Pflicht, diese Wahl zu ermöglichen.
Andererseits ist es umgekehrt so, dass sich die Kosten des Lockdowns auch extrem ungleichmäßig verteilen.
Sie treffen weit überproportional z.B. Familien und Kinder, speziell solche im prekären Umfeld, sowie Hospitalisierte, psychisch Labile usw.
Natürlich kann man die Kosten des Lockdowns nicht genau angeben. Daraus ergibt sich aber nicht, dass man sie gering schätzen sollte. Und im Übrigen ist auch der Nutzen im Einzelnen keineswegs klar.
Die in Umfragen gespiegelte Gemütslage würde ich übrigens mit einem großen Fragezeichen versehen. Das ist eine Momentaufnahme, die schnell kippen kann. Ich sehe zudem ein echtes Spaltungspotential gerade durch die Lockerungen, weil ein großer Teil der Bevölkerung bald wieder mit verhältnismäßig kleinen Einschränkungen leben könnte, während andere auf lange Zeit massiv beeinträchtigt sind.
Das Thema Schulschließungen bspw. scheinst du mir stark zu verharmlosen. Vorab sollte man schon mal festhalten, dass gerade die langen Sommerferien durchaus ein Problem sind - sowohl für berufstätige Eltern, als auch für benachteiligte Kinder. Trotzdem ist die Situation da ganz anders, weil du eine Palette von Ausweichangeboten hast: Es gibt an den meisten Orten Ferienbetreuung. Du hast eine soziale Einbindung über Freunde und Verwandte, insbesondere Oma und Opa. Sport- und Spielplätze, Freibäder usw. sind geöffnet, Urlaub ist möglich usw. Alles oder vieles davon fehlt während eines Lockdowns.
Bei den Kitas schiebt sich grad ein politischer Kurs abzuzeichnen, der die bis August für die meisten Kinder geschlossen halten soll. Das ist für sich schon eine Katastrophe für viele Familien - und wer sagt uns, dass die Situation bis dahin so viel entspannter ist als jetzt?
Wenn die Pandemie sich deutlich länger zieht, was viele Experten für überwiegend wahrscheinlich halten, dann bahnt sich hier ein historischer Sündenfall an der nachfolgenden Generation an, deren Impact viele erst dann begreifen werden, wenn es längst zu spät ist.
Und das geht unter anderem auf die von dir favorisierte Minimax-Strategie zurück, weil man ganz am Anfang ohne wirkliche Not gesagt hat: Wir machen vorsichtshalber mal alles dicht.
(1)
Ich will die einzelnen Punkte jetzt nicht ausdiskutieren. Natürlich gab es in den letzten Wochen einen Erkenntnisgewinn auf vielen Ebenen und wir können jetzt durchaus informiertere Entscheidungen treffen.
Aber meine Frage wäre: Was davon ist gegenwärtig wirklich policy-relevant? Oder besser: Was davon beeinflusst tatsächlich unsere politischen Entscheidungen?
Da sehe ich nicht viel. Wir wussten schon vorher, dass es um eine Atemwegserkrankung geht, die sich primär über Tröpfcheninfektion verbreitet. Auch die grundlegenden Parameter, insofern sie für politische Entscheidungen relevant sind, waren bekannt. Drosten hat dazu schon in den ersten Folgen im Prinzip alles Wichtige gesagt und daran hat sich afaik auch nichts grundlegend geändert - auf der virologischen Seite.
Nun ist Drosten halt nicht in erster Linie Epidemiologe und auch kein Experte für die Modellierung. In dem Bereich sind die Fortschritte afaik größer, aber auch hier kann ich nicht erkennen, inwieweit das für unsere Politik eine große Rolle spielt. Mein Eindruck ist, dass da trotz aller Floskeln vom Primat der Wissenschaft sehr frei nach Schnauze agiert wird.
Man versteckt sich im Wesentlichen hinter Allgemeinplätzen wie Gesundheitsschutz, Kontaktreduzierung und Herunterfahren des öffentlichen Lebens.
Mit diesem Vokabular kann man fast beliebige Maßnahmen rechtfertigen, weil "Menschenleben retten" gegenüber jeder einzelnen Einschränkung verhältnismäßig erscheint.
Im Einzelfall treibt das absurde Blüten, bei denen mich durchaus wundern würde, wenn jemand wie du sie guthieße.
Ich finde auch nicht, dass man legitimerweise von einer Minimax-Strategie sprechen kann, wenn man wesentliche Aspekte des Zielkonflikts ausblendet bzw. sie pauschal als nachrangig deklariert.
Wir verfahren in quasi keinem anderen Fall nach diesem Prinzip, egal obs um Gesundheitsschutz allgemein gilt, um Klimaschutz, Umweltschutz, Abgase und Feinstaub, Krankenhaushygiene, Massentierhaltung usw.
Ich bin a priori einfach skeptisch, wenn man ad hoc eine Alternativlosigkeit verordnet, die einem in anderen Situationen nie in den Sinn käme.
Ich möchte nur mal an die jüngste Diskussion um Organspende erinnern, wo Moralapostel aller Couleur uns vorgebetet haben, dass es halt kein Recht auf Spenderorgane gebe und doch niemandem zugemutet werden könne der Organentnahme aktiv zu widersprechen.
Klar war der Einsatz da deutlich geringer - afaik um die 1000 Tote pro Jahr? -, aber der diskutierte Freiheitseingriff nahm sich im Vergleich zu dem, was wir gerade sehen, auch geradezu lächerlich aus.
(2)
Ich verstehe hier weiterhin nicht, was genau du meinst. Bisher sehen wir, wie die Politik für eklatantes Versagen nicht im Ansatz zur Verantwortung gezogen wird.
Unser Gesundheitsminister hat knapp zwei Monate lang in jede Kamera gesagt, wie gut wir vorbereitet seien, nur damit wir dann innerhalb von zwei Wochen von "volle Stadien sind keine so gute Idee" bis zu "bleibt zu Hause und schottet euch ab" kommen. Offenbar bestand unsere Vorbereitung darin, dass wir ohne Weiteres Teile der FDGO außer Kraft setzen können. Trotzdem bescheinigen selbst professionelle Journalisten Herrn Spahn, die Krise gut zu managen. Von der Rolle des RKI will ich gar nicht erst sprechen.
Insbesondere kann ich in anderen Ländern, die es viel schlimmer erwischt hat, keineswegs beobachten, dass denen eine Staatskrise ins Haus steht oder das politische Systeme an sich in Frage gestellt wird. Du müsstest schon genau begründen, weshalb unser System so viel fragiler sein soll als das in USA, UK, Frankreich, Spanien, Schweden und den Niederlanden.
Ich sehe nicht mal im Ansatz, wie man hier die Notwendigkeit konstruieren will, durch übertriebene Vorsicht das politische System zu stützen.
Abstrakte Freiheitsrechte wie Religionsfreiheit, Demonstrationsrecht und dergleichen - übrigens auch Datenschutz - sind gar nicht mein Problem. Auf die kann man getrost eine Weile verzichten - obwohl ich durchaus den Punkt des BVerfG sehe, dass es ein Problem ist, wenn eine Politik die Möglichkeiten gegen diese Politik zu demonstrieren massiv einschränkt.
Mir geht es aber um die Einschränkungen des alltäglichen Lebens vieler Menschen.
(3)
Meine Meinung war und ist, man solle in erster Instanz mit all den Maßnahmen beginnen - bzw. hätte beginnen sollen -, von denen man sich vorstellen kann, dass man sie wenigstens für ein oder anderthalb Jahre durchhält. Denn mindestens so lange, sagen uns die Experten, wird es wohl dauern, bis wir diese Krise endgültig bewältigen können.
Du sagst, es sei gut, erstmal den worst case auszuschließen und sich an das, was möglich ist, dann langsam ranzutasten.
Ich gehe da nicht mit und zwar aus empirischen und normativen Gründen.
Der empirische Grund ist erstmal der, dass meine Konfidenz auch vor dem Lockdown extrem groß war, dass wir hier keine Situation wie in Italien erleben werden.
Wir waren nach übereinstimmender Meinung der meisten Experten mehrere Wochen hinter Italien im Pandemieverlauf und haben ein um einen Faktor von etwa zwei leistungsfähigeres Gesundheitssystem, das sich einige Wochen gezielt vorbereiten konnte.
Und es geht hier ja nicht um den Unterschied zwischen Lockdown und nichts tun, sondern darum, die Spitzen rauszunehmen. Mit dem Sachstand vom 16. März wären wir sehr sicher unterwegs gewesen, ohne der Bevölkerung grundlos die Zusatzbelastung eines Lockdowns aufzubürden.
Das war meine Überzeugung und ich hatte sie auch ex ante zum Ausdruck gebracht. Und mir waren zu diesem Zeitpunkt auch keine anderslautenden Expertenmeinungen bekannt, die darauf gedrängt hätten, man müsse sofort noch drastischer vorgehen.
Dann konnte man sich die Situation zwischen dem 16. und 23. März (Beginn des Lockdowns) angucken. Da konnte man sehen, dass die Maßnahmen und Aufrufe eine starke Wirkung entfaltet hatten, wenn auch mit einigen Tagen Verzögerung.
Aber was hat die Politik daraus gemacht? Sich über Ausnahmeerscheinungen wie Coronapartys aufgeregt und so getan, als müsse man jetzt sofort härtere Bandagen anlegen.
Erst hat man eineDrohkulisse gegenüber der eigenen Bevölkerung aufgebaut. Dann hat man die rhetorische Vorbereitung ungeachtet der tatsächlichen Situation genutzt, um zu verkünden, dass ein Lockdown erforderlich sei. Und die Presse ist voll mitgelaufen, wie offenbar immer, wenn die Politik in diesem Land etwas als alternativlos ausgibt.
Das war die finsterste Stunde unserer Demokratie, die ich persönlich erlebt habe. Bei Lichte betrachtet war die Verhältnismäßigkeit hier absolut nicht gegeben, da es bereits an der Erforderlichkeit fehlte. Es gab zu diesem Zeitpunkt keine Grundlage für einen Lockdown. Die Kliniken waren leer, die Infektionszahlen an den meisten Orten noch sehr niedrig.
Selbst wenn die Maßnahmen ihr Ziel - die Ausbreitung zu stoppen - relativ deutlich verfehlt hätten, wäre genug Zeit gewesen, um noch nachzuschärfen.
Wir sind ein großes Land mit einem in der Breite gut aufgestellten Klinikbestand. Überlastungen des Systems wären nicht flächendeckend aufgetreten, sondern hätten sich auf einzelne Hotspots konzentriert
Die hätte man dann überregional unterstützen können, bis die verschärften Maßnahmen greifen.
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/AktuelleAusgaben/aktuelleAusgaben_table.html
Wenn du mal in das Bulletin vom 15. April schaust, dann siehst du, dass anhand des RKI-Modells die Reproduktionszahl ca. am 21. März das erste Mal unter 1 gesunken ist - zwei Tage vor dem Lockdown - und seitdem hat sich nicht mehr viel getan.
Was hat der Lockdown also genau bewirkt? Davon scheint bisher kaum jemand Notiz zu nehmen.
Auf der normativen Seite unterscheiden sich meine Prämissen in wenigstens zwei wichtigen Punkten von denen, unter denen die Politik gerade agiert.
Zum einen halte ich es nicht per se für katastrophal, wenn man sich bei der Eindämmung etwas verkalkuliert und an manchen Orten vorübergehend zur Triage übergehen muss. Nach meinem Verständnis bedeutet das erstmal nur, dass man den Patienten mit der schlechtesten Prognose keine optimale Versorgung mehr bieten kann.
Solange so eine Situation örtlich und zeitlich eng begrenzt auftritt, sehe ich darin, ehrlich gesagt, kein großes Problem. Dass ökonomische Restriktionen verhindern, dass jeder immer und überall medizinisch optimal versorgt werden kann, ist in unserem System keine Ausnahme, sondern Alltag. Dass das in letzter Konsequenz an vielen Stellen auch Menschenleben kostet, ist ebenfalls keine Überraschung.
Darum sehe ich nicht ganz, was diese Situation hier so besonders macht, dass man sie von sämtlichen Effizienzerwägungen entkoppeln müsste. Dass der psychologische Effekt hier stärker zu Buche schlägt, weil die Folgen eine extreme Aufmerksamkeit bekommen, sehe ich ein. Aber das ist letztlich nur eine Umformulierung von: "Aber die Bilder!"
Mein Instinkt weist hier mehr in die umgekehrte Richtung: Angesichts der Tatsache, dass unsere einzige effektive Präventionsmaßnahme sehr kostspielige Lockdown-Maßnahmen sind, ist es für mich ein Zeichen von Ineffizienz, wenn das Gesundheitssystem zu keinem Zeitpunkt an seine Belastungsgrenze kommt.
Und genau das beobachten wir gerade: In vielen Kliniken dreht das Personal Däumchen und würde gerne wieder Hüft-OPs machen.
Zum anderen versuche ich die Situation vom Ende her zu denken: Was tun wir, wenn die Epidemie langfristig gar nicht ohne Lockdown zu kontrollieren ist? Machen wir den Lockdown dann beliebig lange?
Ungeachtet pragmatischer Überlegungen - halten wir eh nicht durch - und eines Kosten-Nutzen-Kalküls lautet die Antwort für mich ganz eindeutig: nein, und zwar aus fundamentalen ethischen Gründen: Es gibt keine moralische Pflicht, sein Leben langfristig in dem Maße dem Schutz anderer zu unterwerfen, wie das in einem Lockdown der Fall ist. Eine Rücksichtspflicht gibt es zweifellos, aber diese muss sich in dem Bereich dessen abspielen, was sich mit dem eigenen Leben substantiell vereinbaren lässt oder sie muss eng befristet sein. Mehr an Solidarität darf man in einer Gesellschaft, in der die Freiheit letztlich ein höheres Gut ist als das Leben, imo nicht verlangen.
Ich hab grundsätzlich gar kein Problem mit einem Lockdown. Er kann z.B. die Ultima Ratio sein, wenn sie Situation sonst unerträglich wird; wenn es gilt eine kurze Zeitspanne zu überbrücken, in der sich unsere Wehrfähigkeit enorm verbessert; oder wenn er in eine Strategie eingebunden ist, die einen besonders großen langfristigen Nutzen verspricht.
Und grundsätzlich sollte wegen der Effizienz immer gelten: so gezielt, also in Ort, Zeit und Stärke begrenzt wie möglich.
An dieser Stelle sollte ich bemerken: All diese Überlegungen stehen unter der Prämisse, dass unser primärer Constraint ist, das Gesundheitssystem zu schützen. Man kann natürlich von Priors ausgehen, die den Schutz von Gesundheit und Leben per se viel höher gewichten. So argumentiert beispielsweise der von mir geschätzte Karl Lauterbach sehr stringent.
In diesem Fall wird die Argumentation schnell sehr messy, weil es dann tatsächlich auf ein reines Kalkül von Leben gegen Leben hinausläuft, das man kaum realistisch durchführen kann.
Mein ethischer Standpunkt ist allerdings ein anderer, wie oben skizziert.
(4)
Meine kleine Rechnung war nicht dazu gedacht, direkt zu überzeugen. Es sollte mehr ein Extremfall sein, der zeigt: Selbst bei einem prima facie absurd guten Kosten-Nutzen-Verhältnis muss der Lockdown keine triviale Wahl sein.
Tatsächlich sparen wir durch 3 Monate Lockdown nicht im Traum 500.000 Tote. Das würde bedeuten, die Sterblichkeit quasi auf null zu senken. Der reale Nutzen so einer Maßnahme ist viel geringer.
Ich finde es übrigens nicht ganz fair, die Rechnung einseitig zu nennen. Sie ist offensichtlich extrem simpel, insbesondere ist sie rein deterministisch. Darum kommt ein Konzept wie Risiko gar nicht vor.
Ich denke aber nicht, dass eine Erweiterung sich direkt pro Lockdown auswirkt, sogar eher im Gegenteil.
Bezüglich der Risikoaversion scheinst du mir zu überschätzen, wie stark Menschen ihre Lebenserwartung maximieren. Darauf weist schon die hohe Prävalenz lebensstilbedingter Krankheiten hin. Offenbar sind Menschen so stark genuss- bzw. gewohnheitsfixiert, dass sie signifikante Einbußen der Lebenserwartung regelmäßig in Kauf nehmen.
Grundsätzlich bin ich ganz bei dir, dass die Verteilung von Lasten und Risiko von großer Bedeutung ist, schon allein aus Gründen der Gerechtigkeit.
Ich glaube aber nicht, dass mein Argument dadurch verliert.
Denn einerseits ist es doch so: Die Masse des Risikos liegt größtenteils auf den sehr Alten und mehrfach Vorerkrankten. Wenn wir in QALYs rechnen würden, statt in Lebensjahren, müssten wir den Nutzen des Lockdowns deutlich diskontieren.
Die Konzentration des Risikos ist imo nicht unbedingt ein Problem, sondern Teil der Lösung. Denn es ist ja nicht so, als sei das persönliche Risiko völlig fremdbestimmt. Wer weiß, dass er ein hohes persönliches Risiko trägt, der kann durch individuelles Verhalten ganz wesentlich die Chance der Ansteckung minimieren. Das ist letztlich viel effizienter, als wenn sich zehn Menschen massiv einschränken müssen, um einen zu schützen.
Staat und Gesellschaft sind in der Pflicht, diese Wahl zu ermöglichen.
Andererseits ist es umgekehrt so, dass sich die Kosten des Lockdowns auch extrem ungleichmäßig verteilen.
Sie treffen weit überproportional z.B. Familien und Kinder, speziell solche im prekären Umfeld, sowie Hospitalisierte, psychisch Labile usw.
Natürlich kann man die Kosten des Lockdowns nicht genau angeben. Daraus ergibt sich aber nicht, dass man sie gering schätzen sollte. Und im Übrigen ist auch der Nutzen im Einzelnen keineswegs klar.
Die in Umfragen gespiegelte Gemütslage würde ich übrigens mit einem großen Fragezeichen versehen. Das ist eine Momentaufnahme, die schnell kippen kann. Ich sehe zudem ein echtes Spaltungspotential gerade durch die Lockerungen, weil ein großer Teil der Bevölkerung bald wieder mit verhältnismäßig kleinen Einschränkungen leben könnte, während andere auf lange Zeit massiv beeinträchtigt sind.
Das Thema Schulschließungen bspw. scheinst du mir stark zu verharmlosen. Vorab sollte man schon mal festhalten, dass gerade die langen Sommerferien durchaus ein Problem sind - sowohl für berufstätige Eltern, als auch für benachteiligte Kinder. Trotzdem ist die Situation da ganz anders, weil du eine Palette von Ausweichangeboten hast: Es gibt an den meisten Orten Ferienbetreuung. Du hast eine soziale Einbindung über Freunde und Verwandte, insbesondere Oma und Opa. Sport- und Spielplätze, Freibäder usw. sind geöffnet, Urlaub ist möglich usw. Alles oder vieles davon fehlt während eines Lockdowns.
Bei den Kitas schiebt sich grad ein politischer Kurs abzuzeichnen, der die bis August für die meisten Kinder geschlossen halten soll. Das ist für sich schon eine Katastrophe für viele Familien - und wer sagt uns, dass die Situation bis dahin so viel entspannter ist als jetzt?
Wenn die Pandemie sich deutlich länger zieht, was viele Experten für überwiegend wahrscheinlich halten, dann bahnt sich hier ein historischer Sündenfall an der nachfolgenden Generation an, deren Impact viele erst dann begreifen werden, wenn es längst zu spät ist.
Und das geht unter anderem auf die von dir favorisierte Minimax-Strategie zurück, weil man ganz am Anfang ohne wirkliche Not gesagt hat: Wir machen vorsichtshalber mal alles dicht.
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