In vielen Punkten waren die Fakten schon vor vier Wochen bekannt - wenn auch zum Teil mit größerer Unsicherheit.
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Ob wir auf Herdenimmunität setzen oder nicht, spielt dabei nicht die entscheidende Rolle. Auch unter einer Eindämmungsstrategie ist es langfristig effizienter, wenn ein gewisser Anteil der Bevölkerung immun ist, weil du dann langfristig mit geringeren Einschränkungen die Situation stabil halten kannst.
Da bin ich mir keineswegs so sicher. Mir ist aus eigener Erfahrung durchaus bewusst, dass was man in den Medien liest keineswegs dem Stand der Forschung entsprechen muss, dementsprechend schließe ich zwar nicht aus dass die Jungs in der Virologie tatsächlich bereits vor vier Wochen relativ genau wussten, was ungefähr zu tun ist, aber mir kommt es nicht unbedingt so vor. Wenn man Drosten mit einer Studie zu einer Pandemie von vor 100 Jahren noch überzeugen kann, als er schon einen Podcast hatte, bin ich mir da gar nicht sicher ehrlich gesagt. Mir kommt es eher so vor als lernen wir (zumindest in den Medien) dauernd irgendwas Neues: Übertragungsstudien aus den frühen Clustern, Gefährlichkeit von Schmierinfektionen, gewünschte Durchseuchung, Wichtigkeit von Masken zur Prävention, Wichtigkeit von Beatmungsgeräten, Parameter der Simulationsmodelle zur Durchseuchung, da scheint mir wahnsinnig viel im Fluss zu sein.
Dementsprechend denke ich, dass du den Gewinn von Sicherheit unterschätzt, den eine Minimax Strategie in dieser Situation bringt. Letztendlich ist der Gewinn, dass wir nicht in den nichtlinearen Bereich der Ausbreitung kommen: Ab einem gewissen Grad hast du keinen Tradeoff mehr zwischen ein bisschen weniger Lockdown --> ein paar mehr Tote, sondern die Toten steigen unverhältnismäßig, weil das Gesundheitssystem überlastet ist. Ich habe nicht das Gefühl, dass es Anfang März bereits eine ausgemachte Sache war, dass wir das werden vermeiden können. Jetzt wissen wir, dass wir uns im Zweifelsfall von unten an diese Grenze herantasten können. Das erscheint mir für die Stabilität des Systems auf Dauer durchaus sehr wichtig zu sein. Siehe dazu:
Ich halte das für eine abgeschmackte Floskel. Die Politik trifft die Entscheidungen, die sie treffen muss. Man kann darüber streiten, wie gut sie das tut.
Aber wenn wir mal ehrlich sind, haben die Verantwortlichen sich maximal lange aus der Affäre gezogen, ohne Verantwortung zu übernehmen, bis es allesamt mit der Angst bekamen, dass es richtig knallen könnte. Und genau ab dem Moment wurden dann auch Maß und Verhältnismäßigkeit direkt über Bord geworfen und man hat sich einfach an dem beteiligt, was plötzlich der Zeitgeist ist.
Inwiefern wir jetzt Hochachtung dafür schulden, dass jemand endlich mal so richtig über unser aller Leben entscheidet, entzieht sich meinem Verständnis.
Ich sehe es vielmehr umgekehrt so, dass man hier sehr bewusst den Weg des geringsten Widerstands geht. Und fürchten jemals zur Verantwortung gezogen zu werden muss sowieso niemand der Beteiligten. Oder glaubst du ernsthaft, dass in zwei Jahren noch ein überwiegendes öffentliches Interesse an der großen Aufarbeitung bestehen wird, von der jetzt öfter gesagt wird, es sei grad nicht an der Zeit dazu?
Wenn du das für eine abgeschmackte Formel hältst habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Mir geht es nicht darum, dass der Seehofer Horst mit der Verantwortung dafür einschlafen muss, dass ein paar Hundert Bürger mehr oder weniger über den Jordan gegangen sind, ich glaube bis zu einem gewissen Grad zieht gerade der Gedanke an solche Entscheidungen Leute in die Politik.
Mir ging es um die POLITISCHEN Auswirkungen: Niemand zieht das Bundesverfassungsgericht oder die Kolumnisten der Welt zur Rechenschaft, wenn sie bspw. denken das Versammlungsrecht dürfe nicht beschränkt werden, weil das eine Gefahr für die Demokratie ist. Die Politik aber WIRD zwangsläufig zur Rechenschaft gezogen: Klar ist es die einfachere Antwort, erst mal dicht zu machen. Aber es ist eben auch die sicherere Antwort: Selbst wenn die Chance nicht sonderlich hoch ist, dass es wirklich zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kommt, wenn die kleine Chance eintritt während alle anderen Länder dicht machen hast du es schnell mit einer massiven Staatskrise zu tun, die die Legitimation des ganzen Systems in Frage stellt. Das wäre zumindest mir ein zu hohes Risiko. Und genau da glaube ich auch nicht für eine Sekunde daran, dass jemand wie Oliver Lepsius, der neulich in einem Welt-Artikel damit zitiert wurde, dass das Einschränken der Versammlungsfreiheit auf lange Sicht eine größere Gefahr für die Demokratie darstellen könnte als das Virus, weiß wovon er redet. Sowas ist gefährliches Geschwätz von Leuten, die keine Ahnung davon haben, wie die reale Demokratie funktioniert. Deren Legitimation speist sich nämlich zu einem großen Teil aus Performanz und nicht aus abstrakten Konzepten wie Grundrechten und die Performanz werden die Leute momentan hauptsächlich daran festmachen, dass das Virus nicht zu einer übermäßigen Zahl von Exzesstoten führt. Das kriegt man aber nur raus, wenn man tatsächlich empirische Sozialwissenschaft betreibt, nicht normative.
Zur inhaltlichen Seite:
Interessanterweise wirken sich - wenigstens kurzfristig - wirtschaftliche Krisen eher günstig auf die Mortalität aus. Aus diesem Gesichtspunkt könnten wir hier also eine doppelte Dividende verbuchen.
Ich bin ganz bei dir, dass man auf disziplinübergreifende Beiträge aus dem theoretischen Wolkenkuckucksheim verzichten kann.
Aber eine effektive Rechnung über das, worum es geht, kann sich jeder selbst machen.
Nach meiner persönlichen Rechnung ist es in fast jeder Situation schwer einen Lockdown zu rechtfertigen, der mit so umfassenden Einschränkungen der persönlichen Freiheit einhergeht.
Als Beispiel:
Angenommen, wir können 500.000 Exzesstote durch 3 Monate Lockdown verhindern.
Klingt fantastisch und ich bezweifle, dass wir als Land gerade zögern würden, diesen Deal zu machen, wenn wir könnten.
Mich überzeugt das nicht, sobald ich anfange darüber nachzudenken. Denn wenn das Durchschnittsalter der Exzesstoten bei 80 Jahren liegt, haben die mit Vorerkrankungen vielleicht im Mittel noch 5 Jahre zu leben. Das bedeutet gerade mal 2,5 Mio. gewonnene Lebensjahre.
3 Monate Lockdown für 80 Mio. Menschen sind 20 Mio. Lockdownjahre.
Man kann jetzt darüber streiten, wie viel weniger dem Durchschnittsbürger ein Jahr im Lockdown wert ist verglichen mit einem gewöhnlichen Lebensjahr - und natürlich skaliert das eigentlich nicht homogen in der Zeit. Aber der Einfachheit halber kann man den Wert des Lebens im Lockdown gegenüber dem kontrafaktischen Status quo imo guten Gewissens um wenigstens 20% diskontieren - ich hab noch niemanden getroffen, der 5 Monate im Lockdown bereitwillig gegen 4 Monate ohne tauschen würde.
Dann hätten wir durch den Lockdown bereits den Gegenwert von 4 Mio. Lebensjahren verloren im Vergleich zu 2,5 gewonnenen Jahren.
Man kann diese Rechnung anders durchführen. Ich bin relativ überzeugt, dass sie in dieser extrem simplen Form die Kosten des Lockdowns eher noch unterschätzt.
Psychologisch fällt mir direkt auf, dass ich mich als Entscheidungsträger aus dem Bauch heraus wohl trotzdem ohne Zögern für den Lockdown entscheiden würde. Ich kann diese Präferenz also durchaus nachvollziehen. Sie entspricht sogar auf einer abstrakten metaethischen Ebene viel eher meinem persönlichen Standpunkt.
Das ändert aber wenig daran, dass es imo die aus rationaler Sicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit falsche Entscheidung ist.
Na ja, das erscheint mir dann doch eine etwas einseitige Sicht der Dinge zu sein. Zwei wichtige Punkte:
- Die Kosten von einem nicht durchgeführten Lockdown fallen ja nicht gleichmäßig an, sondern konzentriert: Bei denen die schwer krank werden, dauerhafte Lunkenschädigungen davontragen, sterben. Es ist eine Sache zu sagen, ich würde fünf Monate im Lockdown gegen vier Monate ohne Lockdown tauschen, aber würde ich tatsächlich eine geringe, aber doch nicht ernstzunehmende Chance akzeptieren wollen, dass ich fünf Jahre früher sterbe? Ich wäre mir da zumindest nicht so sicher.
- Genauso wenig wie wir vor einem Monat wussten, was ohne Lockdown passiert wäre, wussten wir auch nicht wirklich, was die spezifischen Kosten des Lockdowns sind. Ich würde behaupten, wir wissen es immer noch nicht so richtig. Was die psychischen Kosten sind, kann ich nicht einschätzen, aber "persönliche Freiheiten" ist mir dann doch ein wenig zu abstrakt. Mir persönlich scheint es zumindest erst mal plausibel, dass die Bürger in Umfragen äußern würden, dass ihnen die Freiheitsbeschränkungen zu weit gehen und sie sich übermäßig belastet fühlen. Das scheint aber momentan nicht der Fall zu sein.
Gerade bei sowas wie Schulschließungen finde ich auch, dass da doch etwas unehrlich argumentiert wird: Wir haben sechs Wochen Sommerferien, in denen genau dieselben Probleme auftreten, die wir jetzt bzgl. des Stoffs und der schwächeren Schüler auch sehen und das könnte man getrost in diesen sechs Wochen nachholen. Ebenso die Frage nach dem wirtschaftlichen Abschwung: Das erscheint mir noch mit großen Unsicherheiten behaftet, zumal wir ja nicht in einer Welt leben würden, in der alle anderen ihre Volkswirtschaften auch offen halten, sondern eben in der Welt wie sie tatsächlich ist. Wenn wir es wirklich mit einer Rezession in Form eines Vs zu tun haben, finde ich auch einen Wirtschaftseinbruch um 6% (was die jüngste Prognose war, die ich gesehen habe) erst mal nicht so dramatisch, wenn wir dadurch 500.000 Exzesstote verhindern. Und wie gesagt: Die Schaden für das politische System sind da noch drin.