Na ja, Zeit und Klarheit. Mir scheint vor einem Monat waren die Konfidenzintervalle noch wesentlich breiter, sowohl politisch als auch medizinisch. Politisch sehen wir, dass auch Sterberaten am untersten Ende der Schätzungen von vor einem Monat momentan nicht durchzuhalten gewesen wären. Medizinisch haben wir gelernt, dass das Virus zumindest nicht die schlimmsten Erwartungen erfüllt hat, was seine Gefährlichkeit angeht, insbesondere was die Übertragung angeht. Es scheint sich ja herauszukristallisieren, dass man doch meistens relativ engen Kontakt haben musste, um angesteckt zu werden und dass viele der Ansteckungen durch völlig asymptomatische Personen erfolgen. Das können wir definitiv besser handeln als die Situation, die vor einem Monat beschrieben wurden. Man kann es zwar momentan leicht vergessen, aber vor nicht mal einem Monat sagte Merkel noch, dass sie mit 60-70% Ansteckungen rechnet, bis die Pandemie vorbei ist. Heute ist klar dass wir uns politisch eine Herdenimmunität-Strategie wohl nicht leisten wollen.
In vielen Punkten waren die Fakten schon vor vier Wochen bekannt - wenn auch zum Teil mit größerer Unsicherheit.
Zur Übertragung bspw. wissen wir seit der Auswertung des Münchner Clusters, dass die Attack Rate mit 5-15% deutlich niedriger liegt als bei Influenza und man im Durchschnitt einen relativ intensiven Kontakt für die Ansteckung benötigt.
Auch auf die präsymptomatische Übertragung gab es früh Hinweise, zumal sich anders die hohe Basisreproduktionszahl kaum erklären ließ. Wie stark dieser Effekt tatsächlich sein muss, wissen wir tatsächlich erst seit Kurzem.
Aber hier bin ich nicht ganz bei dir, dass uns das hilft. Es führt erstmal dazu, dass einige der am wenigsten invasiven Eindämmungsmaßnahmen - Fallverfolgung mit Kontaktquarantäne und Selbstisolation von Erkrankten - deutlich ineffektiver sind. Das heißt im Umkehrschluss gerade, dass alle sich präventiv vorsichtig verhalten müssen.
Zeit gewonnen haben wir in Bezug auf den Ausbau der Intensivkapazität und die Beschaffung von Schutzausrüstung - weniger in Richtung einer medizinischen Teillösung.
Wir haben aber Zeit verloren, in der wir Immunität in den weitgehend ungefährdeten Gruppen hätten aufbauen können.
Ob wir auf Herdenimmunität setzen oder nicht, spielt dabei nicht die entscheidende Rolle. Auch unter einer Eindämmungsstrategie ist es langfristig effizienter, wenn ein gewisser Anteil der Bevölkerung immun ist, weil du dann langfristig mit geringeren Einschränkungen die Situation stabil halten kannst.
Man sollte sich schon klar machen, dass die Politik momentan eine Art von Verantwortung für Menschenleben trägt, die es so seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Früher haben Leute wie Helmut Schmidt ihre Karriere damit begründet, dass sie eine Naturkatastrophe mit einer mittleren dreistelligen Todeszahl bewerkstelligt haben, so viele Leute sind am alleine am Mittwoch an Covid-19 gestorben. Ob man mit Geiselnehmern verhandelt wurde im deutschen Herbst zu einer extrem schwerwiegenden Gewissensfrage stilisiert, dabei ging es da nie um mehr als eine einstellige Zahl von Menschenleben. Todesraten, wie sie in der schwersten Epidemie der Geschichte der BRD (Asiatische Grippe in den 50ern) über den Zeitraum von fast einem Jahr erreicht wurden, erreichen moderne Länder wie Italien, Spanien oder Belgien trotz absolutem Lockdown innerhalb eines Monats.
Dass so ein Lockdown Opportunitätskosten hat muss man natürlich dagegen abwägen. Aber dann bitte auf demselben Niveau, auf dem die Gefahr hier auch spielt: Wenn die Wirtschaft abgewürgt wird, sterben auch Leute, das ist offensichtlich. Aber ob die Expertise der Fächer, die nicht rechnen wollen (oder es nicht können) da wirklich auch eine Rolle spielen muss, erscheint mir fragwürdig. Weder die der Demokratietheoretiker, die die "Alternativlosigkeit" kritisieren noch nie der Juristen, die sich um den Rechtsstaat sorgen, weil temporär die Versammlungs- oder Berufsfreiheit nicht mehr garantiert werden können. Dafür allerdings, dass das "die Demokratie" oder "den Rechtsstaat" in Frage stellen muss man sie dann aber immer beim Wort nehmen und mir sind ehrlich gesagt nicht viele Fälle bekannt, in denen "die Demokratie" oder "der Rechtsstaat" sich selbst gerettet haben. Hier wäre etwas mehr Demut von allen Seiten gegenüber der Politik angebracht, denn letztendlich fällt die Verantwortung immer dort an wo die Entscheidungen getroffen werden.
Ich halte das für eine abgeschmackte Floskel. Die Politik trifft die Entscheidungen, die sie treffen muss. Man kann darüber streiten, wie gut sie das tut.
Aber wenn wir mal ehrlich sind, haben die Verantwortlichen sich maximal lange aus der Affäre gezogen, ohne Verantwortung zu übernehmen, bis es allesamt mit der Angst bekamen, dass es richtig knallen könnte. Und genau ab dem Moment wurden dann auch Maß und Verhältnismäßigkeit direkt über Bord geworfen und man hat sich einfach an dem beteiligt, was plötzlich der Zeitgeist ist.
Inwiefern wir jetzt Hochachtung dafür schulden, dass jemand endlich mal so richtig über unser aller Leben entscheidet, entzieht sich meinem Verständnis.
Ich sehe es vielmehr umgekehrt so, dass man hier sehr bewusst den Weg des geringsten Widerstands geht. Und fürchten jemals zur Verantwortung gezogen zu werden muss sowieso niemand der Beteiligten. Oder glaubst du ernsthaft, dass in zwei Jahren noch ein überwiegendes öffentliches Interesse an der großen Aufarbeitung bestehen wird, von der jetzt öfter gesagt wird, es sei grad nicht an der Zeit dazu?
Selbst wenn es so kommt, glaube ich, dass in unser politischen Kultur der Respekt vor der Extremsituation stark ist und schon deshalb kaum jemand für das im Risiko steht, was er gerade verzapft.
Tatsächlich konnte man als Politiker wohl selten so wenig falsch machen wie jetzt, weil es selten weniger Spielraum gab, Kritik wegzuwischen.
Das ist die politische Perspektive. In der faktischen Bedeutung der Entscheidungen gebe ich dir durchaus Recht. Obwohl ich auch hier etwas relativieren würde.
Der Vergleich mit der asiatischen Grippe etwa, die heute kaum mehr als eine Randnotiz ist, lässt sich so direkt kaum ziehen: Die Prävalenz und Mortalität von Infektionskrankheiten war damals viel höher, die Bevölkerung jünger und viel weniger morbide. Das Niveau der medizinischen Versorgung war viel geringer. Und Pandemien liefen wegen der geringeren Mobilität langsamer ab. Darum kannst du die Exzessmortalität auch nicht gegeneinander stellen. Covid-19 wäre in den 50ern vermutlich auch eine Randnotiz geblieben.
Es gehört ja zur Crux der Situation, dass wir gerade aufgrund unserer historisch einmalig exzellenten Versorgung - sozial und medizinisch - besonders fragil sind.
Zur inhaltlichen Seite:
Interessanterweise wirken sich - wenigstens kurzfristig - wirtschaftliche Krisen eher günstig auf die Mortalität aus. Aus diesem Gesichtspunkt könnten wir hier also eine doppelte Dividende verbuchen.
Ich bin ganz bei dir, dass man auf disziplinübergreifende Beiträge aus dem theoretischen Wolkenkuckucksheim verzichten kann.
Aber eine effektive Rechnung über das, worum es geht, kann sich jeder selbst machen.
Nach meiner persönlichen Rechnung ist es in fast jeder Situation schwer einen Lockdown zu rechtfertigen, der mit so umfassenden Einschränkungen der persönlichen Freiheit einhergeht.
Als Beispiel:
Angenommen, wir können 500.000 Exzesstote durch 3 Monate Lockdown verhindern.
Klingt fantastisch und ich bezweifle, dass wir als Land gerade zögern würden, diesen Deal zu machen, wenn wir könnten.
Mich überzeugt das nicht, sobald ich anfange darüber nachzudenken. Denn wenn das Durchschnittsalter der Exzesstoten bei 80 Jahren liegt, haben die mit Vorerkrankungen vielleicht im Mittel noch 5 Jahre zu leben. Das bedeutet gerade mal 2,5 Mio. gewonnene Lebensjahre.
3 Monate Lockdown für 80 Mio. Menschen sind 20 Mio. Lockdownjahre.
Man kann jetzt darüber streiten, wie viel weniger dem Durchschnittsbürger ein Jahr im Lockdown wert ist verglichen mit einem gewöhnlichen Lebensjahr - und natürlich skaliert das eigentlich nicht homogen in der Zeit. Aber der Einfachheit halber kann man den Wert des Lebens im Lockdown gegenüber dem kontrafaktischen Status quo imo guten Gewissens um wenigstens 20% diskontieren - ich hab noch niemanden getroffen, der 5 Monate im Lockdown bereitwillig gegen 4 Monate ohne tauschen würde.
Dann hätten wir durch den Lockdown bereits den Gegenwert von 4 Mio. Lebensjahren verloren im Vergleich zu 2,5 gewonnenen Jahren.
Man kann diese Rechnung anders durchführen. Ich bin relativ überzeugt, dass sie in dieser extrem simplen Form die Kosten des Lockdowns eher noch unterschätzt.
Psychologisch fällt mir direkt auf, dass ich mich als Entscheidungsträger aus dem Bauch heraus wohl trotzdem ohne Zögern für den Lockdown entscheiden würde. Ich kann diese Präferenz also durchaus nachvollziehen. Sie entspricht sogar auf einer abstrakten metaethischen Ebene viel eher meinem persönlichen Standpunkt.
Das ändert aber wenig daran, dass es imo die aus rationaler Sicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit falsche Entscheidung ist.
Diese Analyse ist allgemein durchaus zutreffend. Speziell in dieser Situation halte ich die aber für irreführend, weil sich die Konfliktlinie auf den zweiten Blick gar nicht scharf zwischen den Generationen erstreckt.
Gerade die Alten und Kranken, insbesondere wenn sie noch dazu bereits hospitalisiert sind, leiden doch selbst am meisten unter der Situation.
Und ich bin gar nicht mal sicher, wie hoch der Anteil derer ist, die darauf gerne unter gewissen Bedingungen verzichten würden.
Ich finde in diesem Zusammenhang den Begriff der Solidarität überstrapaziert.
Meiner persönlichen Erfahrung nach haben gerade sehr alte und kranke Leute oft eine ziemlich nüchterne Einstellung zum Sterben, weil sie eh damit rechnen, dass es sie jederzeit treffen kann. Viele davon wollen ihr Leben vielleicht auch lieber selbstbestimmt zuende bringen, weiter ihre Skatrunde besuchen, ihre Kinder und Enkel sehen oder einfach noch raus in den Park oder ins Café unter Menschen, solange das noch geht.
Denen zu sagen: Das alles ist jetzt nicht mehr, da zu gefährlich, verbringt lieber mal einen signifikanten Teil eures Restlebens im Korkzimmer, halte ich nicht per se für den Gipfel der Solidarität.