Diese Wirtschaftspolitikdebatte wirkt auf mich nur noch dröge: Hier die Helden der Praxis, dort die Seite, die deutlich geübter darin ist in abstrakten Zusammenhängen zu denken und zu argumentieren.
Als kleine Anmerkung zum Thema Insolvenz: Soweit ich das richtig mitbekommen habe, ist gesetzlich bereits geregelt, dass man bis auf Weiteres nicht pleite gehen soll, weil man wegen der Krise seine Miete bzw. sogar Strom, Internet usw. nicht mehr bezahlen kann.
Ich finde das eine sinnvolle Regelung, die am Ende des Tages auch über reine Stundung hinausgehen sollte, denn sie würde dann wirken wie eine Steuer auf passives Einkommen, was mir vollkommen angemessen erscheint.
Im Übrigen ist Benraths und Gustavos Beiträgen nichts hinzuzufügen.
Nicht wirklich. Vor drei Wochen war es wohl noch vertretbar zu denken, dass Italien und Spanien einfach weniger testen und deshalb die Ausbreitung einfach weiter vorangeschritten ist als bei uns. D.h. der Mechanismus ist mehr Kranke als Deutschland --> mehr Todesopfer als Deutschland, das ist soweit nachvollziehbar. Die Tote/Einwohner-Statistik ist allerdings unabhängig von der Zahl der Getesteten, da man ja auch ohne Test an der Krankheit sterben kann*. Warum sollten Länder wie Belgien, die Niederlande oder Schweden so viel höhere Todeszahlen pro Million Einwohner haben als Deutschland? Dass überall in Europa die Durchseuchung stärker fortgeschritten ist als in Deutschland würde ich dir nicht abkaufen, gleichzeitig ist die Zahl der Fälle nahezu überall in Westeuropa (einzige nennenswerte Ausnahme ist Norwegen) deutlich geringer als in Deutschland. Dass die medizinische Versorgung in Spanien oder Italien schlechter ist als in Deutschland akzeptiere ich als Argument, aber das gilt vermutlich nicht für Dänemark, Schweden oder die Schweiz? Ebenso ist nicht wirklich glaubhaft, warum wir, trotz ähnlicher Maßnahmen und anfänglicher Raten, mittlerweile 10 Tage hinter Frankreich liegen sollen. Imho ist die naheliegendere Antwort, dass Deutschland sich in der Krise vergleichsweise sehr gut schlägt, auch wenn ich nicht (und vermutlich auch sonst niemand) genau weiß weshalb. Aber "Glück" ist bei den Fallzahlen, in denen wir uns bewegen, statistisch ausgeschlossen und dass das Alter der Bevölkerung (zumindest alleine) den Ausschlag gibt ebenfalls, denn der Anteil von alten (65+) und sehr alten (80+) Menschen ist in Italien und Spanien nur unwesentlich höher als in Deutschland.
*de facto macht es die Knappheit der Tests in den anderen Ländern sogar deutlich wahrscheinlicher, dass sie die Zahl der Gestorbenen STÄRKER unterschätzen als Deutschland
Fallzahl und Todeszahl pro Bevölkerungseinheit sind imo ein trügerisches Maß, weil sich eine Epidemie niemals homogen innerhalb der Bevölkerung verbreitet. Größere Länder haben grundsätzlich eine langsamere Ausbreitung. Bevölkerungsdichte und soziale Segmentierung spielen auch eine Rolle. Die zu unterschiedlichen Zeitpunkten ergriffenen Maßnahmen verzerren dieses Bild zusätzlich. Dabei gehts aber nicht allein darum, wie viele Fälle es national bis dahin gibt, sondern auch wo diese auftreten. Es ist was anderes, ob du eine Menge Infektionscluster über das Land verteilt hast oder einen lokal stark konzentrierten Ausbruch, der für einen großen Teil der Fälle verantwortlich ist.
Zu deinem Sternchen: Das hängt auch vom Testregime ab. Italien testet afaik Tote standardmäßig, während das in Deutschland, so glaube ich, weiterhin im Ermessen des für die Leichenschau zuständigen Arztes liegt.
Es könnte z.B. sein, dass in Italien mehr Covid-19-Tote erfasst werden, die eigentlich nur mit milden Symptomen oder sogar symtpomlos an irgendwas anderem gestorben sind.
Wirklichen Aufschluss darüber wird erst eine nachträgliche statistische Betrachtung der Exzessmortalität geben - wo es dann allerdings auch wieder einige confounder gibt.
Grundsätzlich scheint es schon so zu sein, dass die Infektion bei uns noch nicht so stark in die Risikogruppen eingesickert ist wie etwa in Italien. Ob das an der sozialen Struktur liegt, wir aufgrund des früh erkannten Ausbruchs besser isolieren konnten und wie viel dem Zufall geschuldet ist, kann ich schlecht beurteilen.
Ich gehe unterm Strich davon aus, dass unsere Todesrate noch etwas nachziehen wird, wir aber auf einem deutlich besseren Niveau bleiben - weil wir auch verhältnismäßig früh interveniert haben.
Dabei sollte man nicht vergessen, dass wir ja nicht untätig waren, bevor die bundesweiten Maßnahmen beschlossen wurden. In den stark betroffenen Regionen gab es teils deutlich früher starke Einschränkungen, was man jetzt auch am früheren Einbruch der Fallzahlen dort sieht.
Hier erweist sich imo schon, dass einerseits unser System im internationalen Vergleich gut aufgestellt ist, in Diagnostik und Versorgung, und die Gesundheitsämter durchaus gut arbeiten. Die viele Tests führen ja nicht nur zu einer Reduktion der Dunkelziffer, sondern beeinflussen auch die Verbreitung, weil sie zur Isolation von Infizierten und deren Kontakten beitragen.
(1)
Es wurde in dem Video von Mai die Aussage gemacht das R unter 1 sinken muss, die 0,5 an der du dich nun festbeißt ist lediglich ein "krasses" Beispiel gewesen.
Alles unter R=1 (somit auch 0,9) ist fein und es wird in dem Video nirgends bestritten, dass wir auch mit R = 0,9 gut klar kommen könnten. Deswegen versteh ich deine Kritik nicht so ganz.
(2)
Dass wir dafür nur zwei Monate bräuchten ist meiner Meinung nach eher Wunschdenken. Ob man den Lockdown zwei Monate politisch durchhält kann ich/dir keiner beantworten, man sollte es zumindest versuchen.
(3)
In der Tat eine Risiko, da stimme ich zu.
Da laut der DGEpi Stellungnahme selbst im besten Fall ein jahrelanges "flaten the curve" nicht ausreicht um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Was wäre denn dein Vorschlag? Der schwedische Weg? Den finde ich wesentlich riskanter.
(4)
Bei einer exponentiellen Funktion jetzt schon von "stagnieren" zu sprechen, finde ich von einem Mathematiker, zumindest recht gewagt. Noch einmal die Frage, was wäre denn deine Lösung? Oder stimmst du dem Konzept Grundsätzlich zu, und störst dich lediglich an dem oben angesprochenen R = 0,5 als Zielvorgabe?
Ich denke nicht dass man sowas jetzt schon "als in Stein gemeißelt" ansehen kann.
Und natürlich braucht man alle drei Säulen
"Es gibt 3 Komponenten: A) Verhinderung der Ausbreitung durch Fallfindung und Absonderung von engen Kontaktpersonen, B) soziale Distanz schaffen und C) gezielter Schutz von vulnerablen Gruppen, die aktiviert und intensiviert werden müssen entsprechend der jeweils aktuellen Lage."
Der Schwerpunkt sollte aber bei A liegen weil mit B allein braucht man Jahre (C ist ein nettes Gimmick nicht mehr und nicht weniger).
(1)
Das kam für mich nicht so rüber, denn sie spricht explizit davon, dass man so schnell wie möglich eindämmen muss. Alles andere würde sich auch nicht Hammer nennen, sondern eher Hämmerchen.
(2)
Es wäre in meinen Augen töricht, das zu versuchen, wenn absehbar ist, dass es nicht funktioniert, weil man dann sehr viel opfert ohne den erwünschten Erfolg zu erzielen.
(4).
Das mit der exponentiellen Funktion scheinst du nicht so richtig verstanden zu haben. Wenn die Neuinfektionen stagnieren oder sogar abnehmen bedeutet das nicht, dass du keinen exponentiellen Prozess mehr hast - der ist im natürlichen Prozess angelegt.
Trotzdem kann jederzeit eine Stagnation eintreten. Das wäre der Fall R = 1 bzw. näherungsweise. Diesen Zustand scheinen wir bereits erreicht zu haben - plus/minus ein paar Tage. Ob das ein gesicherter und stabiler Befund ist, lässt sich natürlich noch nicht sagen, weil sowohl der Infektionsverlauf als auch die Meldungen Schwankungen unterworfen sind. Aber ich lehne mich afaik nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage: Es sieht danach aus und als nächstes sollten wir erwarten, dass die Zahlen sichtbar abnehmen. Es könnte gut sein, dass sie das bereits jetzt tun, wir es aber nicht sehen, weil wir immer mehr testen und damit die Dunkelziffer sinkt als Anteil der tatsächlichen Infektionen.
Auf die Frage, was ich vorschlage und was mein Problem ist: Ich habe keine Lösung in der Tasche. Das Problem hat, soweit ich das beurteilen kann, keine triviale Lösung.
Grundsätzlich halte ich unseren Weg damit umzugehen für richtig: Wir versuchen zu verlangsamen, um mehr zu erfahren, uns besser vorzubereiten und unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu schützen.
Ich würde dabei aber gewisse Prioritäten anders setzen. Bisher folgen wir einem Paradigma, das einseitig das Ziel verfolgt, Belastung vom Gesundheitssystem fernzuhalten. Das ist imo nicht gut, weil wir damit unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu sehr belasten. Die sind aber unterm Strich viel bedeutsamer als unser Gesundheitssystem bzw. die Teile des Gesundheitssystems, die hier im Feuer stehen.
Konkret: Ich denke, wir können und sollten uns erstmal damit begnügen R in der Nähe von 1 zu halten. Der genaue Wert ist nicht besonders wichtig und es geht letztlich auch nicht um die Zahl der Fälle, sondern um die Zahl derer, die schwer erkranken.
Wichtig ist aber, dass wir dieses Ziel nicht "irgendwie" erreichen sollten, sondern mit so wenig Eingriffen wie möglich. Das wäre auch verhältnismäßig - einfach zu sagen, wir müssen was tun und darum quasi alles zu tun, ist unverhältnismäßig.
Genau das passiert aber gerade: Man baut einen enormen Druck auf und versucht mit Mahnung und Zwang zu erreichen, dass die Menschen möglichst auf jeden Kontakt verzichten. Wo ist das verhältnismäßig, wenn eine Reduktion der Ansteckung um 60 bis 70% hinreicht, wovon nicht mal alles durch individuelles Handeln erreicht werden muss?