saistaed: Ich sehe ja durchaus den Punkt an deiner Argumentation, aber mir erschließt sich auch nicht so ganz, warum man hier nicht im Zweifelsfall eher übervorsichtig sein sollte. Selbst wenn wir es mit relativ unwahrscheinlichen Fällen zu tun haben, kann man Ausgangssperren im Zweifelsfall zurücknehmen, aber selbst eine punktuelle Überlastung des Gesundheitssystems in einigen Regionen nicht mehr.
Du suggerierst, dass Ausgangssperren ohne Risiko oder reale Kosten sind. Das Argument mit der Übervorsicht kann ich auch umdrehen und sagen: Man kann die negativen Effekte einiger Maßnahmen nicht gut genug abschätzen und sollte sie daher vorsichtshalber unterlassen.
Ich habe an anderer Stelle schon mal erwähnt, dass ich persönlich bereit wäre eine punktuelle Überlastung des Gesundheitssystems in Kauf zu nehmen. Und ich empfinde es, ehrlich gesagt, als ziemlich kurzsichtig, die Verneinung dieser Aussage zum kategorischen Imperativ zu erheben.
Wir treffen andauernd politische Entscheidungen, bei denen es In letzter Konsequenz um Menschenleben geht. Wann wäre es an anderer Stelle jemals unser einziges moralisches Prinzip gewesen, jedes Menschenleben zu retten - whatever it takes?
Das machen wir nicht so in der Außenpolitik. Das machen wir nicht so, wenn Gesundheitsinteressen mit denen der Industrie kollidieren - oder mit denen von Autofahrern. Wir tun es nicht mal im Gesundheitssystem selbst. Wie viele Menschenleben Rationalisierungsmaßnahmen oder zu schlechte Vorschriften uns in den letzten Jahren gekostet haben, lässt sich nicht genau beziffern. Aber es könnten am Ende mehr bleiben, als an Covid-19 sterben - und viele davon zu retten hätte uns vielleicht weniger gekostet als uns diese Krise kostet.
Ich bin durchaus dafür, dass wir darum kämpfen, dass unser Gesundheitssystem nicht überlastet wird - aber nicht um jeden Preis. Am Ende des Tages gibt es kein unbedingtes Recht auf künstliche Beatmung und ein Land kann größere Katastrophen verkraften, als dass man durch Triage entscheiden muss, dass ein 85-Jähriger mit mehreren Vorerkrankungen und 30% Überlebenswahrscheinlichkeit im Extremfall hier und da nicht mehr beatmet werden kann.
Und das ist nicht als Verharmlosung zu verstehen. Mir ist durchaus bewusst, dass eine solche Situation einen gewaltigen Schaden anrichtet - bei den Betroffenen und ihren Angehörigen, beim medizinischen Personal und in der Gesellschaft als Ganzes. Aber das gilt nun mal auch für die Medizin, die wir uns gerade verabreichen.
Wenn man meint, jetzt ein paar Wochen den Ausnahmezustand verhängen zu müssen, um die Situation irgendwie unter Kontrolle zu kriegen und einige dringend benötigte Vorbereitungen noch zu treffen, soll man das tun. Ich hätte mir gewünscht, dass man das Problem rechtzeitiger und systematischer angeht und das besser kommuniziert. Aber menschlich kann ich natürlich nachvollziehen, dass alle Beteiligten letztlich mit dieser Situation überfordert sind. Und ich habe hier mehrfach dafür argumentiert, dass die meisten politisch Verantwortlichen einen sehr respektablen Job machen.
Man wird jetzt schauen müssen, wie die Lage sich entwickelt, um es besser zu beurteilen. Wenn man nach der Atempause, die der jetzige Lockdown zweifellos bringt, mit kühlem Kopf eine gute Strategie für die nächsten 12 bis 18 Monate entwickelt, dann werde ich nicht mit dem hadern, was gerade passiert.