Aber ich sehe halt das Problem mit Ausgangssperre nicht. Es bringt keinen um ein paar Wochen zuhause zu bleiben. Wer nicht von zuhause arbeiten kann, darf ja weiter zur arbeit gehen, ebenso einkaufen, zum Arzt usw. Insofern ist das ne Maßnahme die mE super niedrigschwellig ist und eigentlich keinen besonders stören dürfte und soweit sie auch nur ein bisschen was bringt, ist die Abwägung für mich eindeutig. Plus, dass es ne gewisse Evidenz hat, dass alle "erfolgreichen" Coronanationen ebenfalls schnell und extrem hart Ausgangssperren verhängt haben.
Ich warte immernoch auf den Nachweis zu Ausgangssperren außerhalb Hubeis. In Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong hatten afaik gar keine Ausgangssperren, schon gar nicht landesweit.
Soweit ich das sehe, ist der Schnitt zwischen "erfolgreichen Coronanationen" und solchen, die Ausgangssperren verhängt haben, leer.
Das Argument, es seien ja nur "ein paar Wochen" ist auch irgendwie Nonsens, denn je kürzer eine Maßnahme dauert, desto weniger bringt sie auch. Zur Verhältnismäßigkeit trägt das also nicht gerade bei.
Woran machst du denn die fehlende Verhältnismäßigkeit fest? Laut den öffentlichen Äußerungen von RKI, führenden Virologen etc. sind die aktuellen Maßnahmen ja durchaus verhältnismäßig und müssen ggf. sogar noch angepasst werden. Verstehe nicht, woher du die Expertise nimmst, die Maßnahmen als sinnlos/zu harsch abzukanzeln und dich dabei gegen führende Experten auf dem Gebiet stellst.
Problematisch ist meines Erachtens nach, dass die weitere Ausbreitung des Virus und die Reduktion durch Absonderungsmaßnahmen aktuell noch überhaupt nicht abgeschätzt werden kann. Das einzige was man weiss, ist dass ohne ausreichende Maßnahmen die exponentielle Zunahme der Fallzahlen droht.
Nun steht man vor der Wahl:
Beschließt man zu einschneidende Maßnahmen, müssten diese ggf. nachkorrigiert werden. Dadurch entstehen zusätzliche wirtschaftliche Schäden (wobei ein Grundschaden sowieso nicht vermeidbar ist).
Beschließt man zu lasche Maßnahmen, sprengt das Virus innerhalb von kurzer Zeit das Gesundheitssystem und es kommt zum Katastrophenfall.
Die Ausbreitung ganz zu stoppen ist btw. unmöglich. Auch mit Ausgangssperre werden die Fallzahlen weiter zunehmen (Arbeiter in der kritischen Infrastruktur infizieren sich, Leute beim Lebensmittelkauf infizieren sich, behinderte Leute laufen auf der Straße rum weil Corona "Fake News" ist, das wird in die Familien getragen etc.), nur halt (hoffentlich) nicht so stark, dass es italienischen Verhältnissen mit beinharter Triage kommt.
Ich lasse mich bei allem, was ich vertrete gern berichtigen. Aber meine Analyse ist eine andere: Viele der Maßnahmen, hinter denen ich auch voll stehe, kamen zu spät. Wie das wirkliche Meinungsbild unter Experten derzeit ist, wissen wir gar nicht. Die Schulschließungen z.B. wurden in Italien und bei uns gegen oder wenigstens ohne den Rat der Experten beschlossen. Das RKI und fast alle Einzelmeinungen, die ich Ende letzter Woche dazu gelesen habe, waren dazu skeptisch bis ablehnend. Die Risikobewertung des RKI stand zu diesem Zeitpunkt noch auf "mäßig".
Die steigende Zustimmung zu harten Maßnahmen ist der politischen Entscheidung nachgelagert, was viele andere Gründe als eine objektive wissenschaftliche Einschätzung haben kann.
Vor allem sehe ich aber nicht, inwiefern unsere Vorgehensweise zur Strategie passt. Einig sind sich nämlich die Experten darin, dass wir den Stopfen nicht wieder auf die Flasche kriegen. Jetzt geht es um Verzögerung, aber das RKI spricht zutreffend von einem Zeitraum von Monaten oder Jahren, nicht Wochen. Warum also jetzt Maßnahmen, die wir gar nicht länger als wenige Woche durchhalten können? Das bringt allenfalls eine Verzögerung um genau die Dauer, für die man die Maßnahmen aufrecht erhält.
Zum Thema Verhältnismäßigkeit:
Ich will gar nicht sagen, dass man nicht auch extreme Maßnahmen rechtfertigen kann. Aber dann soll man sie bitte auch rechtfertigen. Dazu gehört für mich, dass konkret dargelegt wird, was man erreichen will und warum mildere Maßnahmen dazu nicht hinreichend sind.
Derzeit reden wir aber nur über Verlangsamung. Und da ist jetzt die Frage: Wie viel Verlangsamung brauchen wir? Hier wird zum Teil so getan, als ginge es jetzt darum, die Ansteckungen quasi auf null zu bringen. Das ist aber einerseits unrealistisch und zweitens auch überhaupt nicht das Ziel, wenn die Strategie flattening the curve ist. Wir wollen, dass R0 möglichst nahe an 1 liegt oder darunter, damit die Epidemie beherrschbar bleibt. Je nachdem, wo man R0 gänzlich ohne Maßnahmen verortet - afaik zwischen 2,5 und 4 - genügt also eine Reduktion der Ansteckungsrate um 60% bis 75%. Bei vielen anderen Erkältungskrankheiten erreicht schon der Frühling eine Reduktion um 25% und mehr. Der Rest muss durch Verhaltensänderung herbeigeführt werden, aber ich sehe nicht, warum das nicht durch Aufklärung und entsprechende individuelle Verhaltensanpassung zusammen mit weniger drakonischen politischen Maßnahmen erreicht werden soll, als wir sie derzeit in Europa sehen.
Und dann ist da, wenn man die Verhältnismäßigkeit kollektiv denkt, auch noch ein anderer Punkt, über den ich vorhin zufällig gestolpert bin:
Is everyone in a high-risk group supposed to withdraw themselves from society for six months [...]?
(Bitte den Kontext des Artikels einfach mal ignorieren.) Wenn wir die Frage auf unsere jetzige Situation übertragen, dann lautet die einzige wahre Antwort, die mir einfällt: Selbstverständlich können und sollten wir das, wenn die Alternative ist, dass sich
alle für Monate aus der Gesellschaft zurückziehen müssen.
Es mag auf den ersten Blick unsolidarisch wirken, aber wir laufen hier auch Gefahr in eine Wirtschaftskrise epochalen Ausmaßes zu schliddern. Ökonomisch ist es einfach nicht effizient die gesamte Gesellschaft lahmzulegen, wenn sich die tatsächlich primär betroffene Gruppe am effektivsten selbst schützen kann. Wenn ich weiß, dass ich mich auf keinen Fall infizieren darf, dann kann ich durch individuelles Verhalten das Risiko einer Infektion fast auf null bringen - insbesondere wenn ich dabei unterstützt werde und nicht auf Selbstversorgung angewiesen bin. Am Ende profitieren insbesondere auch die Betroffenen aus der Risikogruppe davon, wenn der Rest der Gesellschaft möglichst gut weiterfunktioniert.