https://amp.welt.de/wirtschaft/arti...erte-Infizierung-ist-die-beste-Strategie.html
Mal ne krasse minderheits Meinung. Den Ansatz kann ich ja als Ökonom verstehen
aber ist zu diesem Zeitpunkt doch etwas mutig. Nix über Langzeit Folgen bekannt etc.
Ich kann mir, ehrlich gesagt, vorstellen, dass das gar keine so krasse Minderheitsmeinung ist. Ich habe erst kürzlich von einem Freund gehört, dass sein Vater ungefähr dieselbe Strategie vertritt. Und der ist Professor für Epidemiologie und arbeitet gerade mit an der offiziellen Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie - in der sich davon natürlich nichts finden wird.
Das wichtigste Gegenargument ist, dass wir letztlich noch zu wenig über diese Krankheit wissen, etwa wie viele Infektionen außerhalb der Risikogruppe tatsächlich komplikationsfrei verlaufen, ob es eventuell unerwartete Langzeitfolgen gibt, wie es tatsächlich um die Immunität bestellt ist usw.
Auf der anderen Seite muss man sich fragen, ob wir überhaupt eine realistische Alternative haben. Denn das wäre ja eigentlich nur, die Ausbreitung so stark zu verzögern, dass sich nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Bevölkerung infiziert, bis ein Impfstoff da ist. Wenn wir dafür aber die nächsten Monate im Lockdown verbringen müssen, kommt wieder das Argument ins Spiel, das Stirling nochmal gebracht hat: Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Impact eines Lockdowns ist enorm und könnte am Ende sogar mehr QALYs kosten als die vorgeschlagene Alternative.
Soweit ich das sehe, gehen Drosten und einige andere Experten eh davon aus, dass diese Pandemie erst endet, wenn wir Herdenimmunität haben - und dass ein Impfstoff wahrscheinlich zu spät kommt. Da fragt sich dann schon, wie ratsam es ist, diesen Prozess unter Aufbietung extremer Einschränkungen länger zu strecken, als nötig.
das ist eben die natur einer exponentialfunktion: zwischen "rofl, corona - klar..." und "oh shit, corona!" liegen nur wenige tage.
die momentanen, sinnvollen anordnungen der regierung kamen rückblickend wohl eher noch zu spät.
Dieses Argument lasse ich nicht gelten: Eine Exponentialfunktion ist nicht unberechenbar und dass sich Epidemien in dieser Weise entwickeln, ist nun auch keine Neuigkeit. Halbwegs brauchbare Schätzungen für Parameter wie Basisreproduktionszahl, serielles Intervall usw. sind ja schon eine Weile vorhanden.
Ich möchte mich hier nicht am Blame Game beteiligen und glaube nicht, dass es realistisch war, den Karneval abzusagen. Aber spätestens, als sich der unentdeckte Infektionscluster in Italien abzeichnete, hätte man imo viele der weniger einschneidenden Maßnahmen, die wir jetzt haben, direkt beschließen können und sollen. Dazu fehlt mir bis heute eine konsequente Informationskampagne.
Was mich auch stutzig macht, ist, wie viele der jetzigen Maßnahmen mehr oder weniger ad hoc entschieden werden. Ich sage nicht, dass man im Januar oder Anfang Februar schon hätte handeln müssen, als noch gar keine unkontrollierten Infektionen in Deutschland bekannt waren. Aber man könnte imo schon erwarten, dass es einen klaren Plan mit mehreren festgelegten Eskalationsstufen und klar definierten Triggern gibt, die jede Eskalationsstufe auslösen.
Sowas könnte man dann auch durchaus dezentral implementieren. Durch die jetzigen flächendeckenden Maßnahmen bringt man sich imo um einen großen Vorteil unserer föderalen Struktur, deren Sinn ja gerade ist, dass man vor Ort entscheidet. Ich hatte auch irgendwann mal diese Studie gepostet, die zu dem Schluss kam, dass asynchrone, auf die örtliche Situation abgestimmte Maßnahmen viel effizienter sind als flächendeckende Maßnahmen, die darauf keine Rücksicht nehmen - obwohl mir die politischen Vorzüge der zentralen Lösung natürlich bewusst sind.
@tzui
Da es dich brennend zu interessieren scheint: Ich arbeite in Lehre und Forschung im Bereich angewandte Mathematik und würde daher ein gewisses Verständnis von Exponentialfunktionen für mich reklamieren.