Es gibt diese Daten aber, siehe oben. Du weigerst dich nur beharrlich das zu akzeptieren.
Und sie sagen erstaunlicherweise das Gegenteil von dem, was du willst: Dass Schließung von Gastro und Einzelhandel sogar mehr bringen als Schließung aller(!) Bildungseinrichtungen.
Natürlich kann man darüber streiten, inwiefern diese groben Erkenntnisse übertragbar sind. Aber sie einfach wegzuwischen und so zu tun als sei deine persönliche Risikobewertung aussagekräftiger, bringt es nicht.
Wenn wir wissen, dass gewisse Öffnungen dem Infektionsgeschehen im Grundsatz zuträglich sind, dann gebietet die Vorsicht imo hohe Anforderungen daran zu stellen, dass sie unter bestimmten Umständen doch erlaubt werden oder sie eben zu unterlassen, bis wir uns wenigstens in einer stabilen Situation beifnden.
Niemand hier hat per se etwas gegen Öffnungen oder dagegen mal was auszuprobieren. Aber wenn wir einmal mehr kurz davor stehen, dass die Intensivstationen überlaufen und jeden Tag hunderte Menschen schwer erkranken, dann ist eben nicht die Zeit für Experimente.
Anderes Thema: Warum wird eigentlich die nächste MPK abgesagt? Ist ja OK, dass man versucht, mehr über den Bundestag zu machen (wenn auch viel zu spät), aber was soll der Vorteil sein, bis dahin nicht mit den jetzigen Entscheidern zu diskutieren?
Afaik gibt es derzeit inhaltlich keine Grundlage für gemeinsame Beschlüsse.
Na ja, mir fällt eine unvorhergesehene Sache durchaus ein, die allerdings mit den Menschen in Deutschland nur indirekt etwas zu tun hatte: Die Mutation. Ich fand und finde es immer noch töricht, so zu tun als könne man sagen, wie die Sache in drei Monaten aussieht, einfach weil bestimmte Parameter uns einfach fehlen. Selbst wenn wir es als gegeben annehmen, dass sich irgendeine Mutation durchsetzen würde war ja keineswegs klar, dass die zu schwereren Krankheitsverläufen führt. Was die Compliance angeht halte ich es für extrem schwer prognostizierbar, wie sich ein richtig harter Lockdown mit anschließend konsequent niedrigen Zahlen ausgewirkt hätte, das wäre natürlich Spekulation. Allerdings sehe ich durchaus deinen Punkt: Mit diesem Compliance-Argument wird in Deutschland unendlich viel Schindluder getrieben. Habe gerade Tobias Hans gesehen, der mehr oder weniger nur zwei Argumente hatte:
1. Die Gerichte haben ihn gezwungen (warum man da nicht mal nachfragt "ok, und wenn sie die freie Wahl hätten, würden sie dann also nicht öffnen?") und
2. Die Compliance der Bevölkerung würde so viel besser, wenn man ihnen Lockerungen anbietet, dass das die Mehransteckungen durch die Lockerungen aufwiegt. Komplett unbewiesene Behauptung, für die ich auch noch nirgendwo einen ernsthaft geführten Beleg gesehen habe. Dass man Leute damit durchkommen lässt ist journalistische Arbeitsverweigerung. DAS ist, wo ich mich tatsächlich wundere, dass fast immer nur Lauterbach auf diese Zusammenhänge hinweist, während da auch die Virologen regelmäßig nicht auf die Schwäche dieser Argumentation eingehen.
Niemand erwartet exakte Vorhersagen, aber sowas wie einen Plan oder eine Strategie kann man imo erwarten - das Fehlen habe ich von Anfang an kritisiert. Wenn dann so etwas wie B117 dazwischen kommt, wird das niemand der Politik anlasten. Aber wenn ich mir, abgesehen davon, den Verlauf der Pandemie angucke, dann ähnelt das fast schon einem Uhrwerk. Man konnte im Groben erwarten, dass wir die erste Welle gut in den Griff kriegen und es im Sommer leichter wird. Man konnte absolut erwarten, dass es eine zweite Welle im Herbst geben würde, auf die man sich vorbereiten muss. Es war klar, dass der Winter schwer wird, weil harte Maßnahmen über lange Zeit politisch schwer zu vermitteln sind und die Bevölkerung sich langfristig nicht gleich vorsichtig verhalten wird - insbesondere bei niedrigen Fallzahlen. Es war dann ab Herbst ziemlich klar, dass wir gute Impfungen bekommen und es ein Spiel auf Zeit wird. Sogar die Timeline der Impfkampagne entspricht relativ genau dem, was man sich von Anfang an schon vorgestellt hat.
Es ist tatsächlich fast verblüffend, wie exakt fast alles ziemlich genau so gekommen ist, wie man das rationalerweise erwarten konnte.
Einzig die Mutanten waren ein unvorhergesehener Gamechanger. Aber hier muss man auch mal klar sagen: Wer die ganze Zeit über eine gute Strategie fährt, kann auch auf solche unvorhergesehenen Ereignisse wesentlich besser reagieren. Das sieht man ja an den Ländern, die die Pandemie insgesamt gut gemanagt haben. Für die sind letztlich selbst Verzögerungen der Impfkampagne ein sehr viel kleineres Ärgernis, weil sie über einen viel längeren Atem verfügen.
Was mich an deiner Aussage massiv gestört hat, ist die Suggestion, dass "die Bevölkerung" das redliche Bemühen der Politik unterminiert habe. Das ist eine Auffassung, die ich normativ nicht teile und die sich imo auch in der Realität nicht widerspiegelt. Dass die Compliance bei detaillierten Infektionsschutzmaßnahmen, die den Alltag der Menschen durchziehen, insgesamt eher mäßig bleibt, ist ein No-Brainer. Darum braucht man effektive Maßnahmen, die klar, unmissverständlich und einer gewissen Kontrolle zugänglich sind.
Was wir stattdessen seit dem Herbst beobachten sind immer neue Beschwörungen der politischen Verantwortungsträger, dass man ja fundamental auf die Compliance der Bevölkerung angewiesen und sonst im Grunde genommen machtlos sei. Der wahre Anteil dieser Aussagen ist so trivial, dass man ihn nicht 24/7 auf allen Kanälen verbreiten muss. Der Rest ist genau die Flucht vor der Verantwortung, die sich im politischen Handeln insgesamt zeigt. Mal ganz davon abgesehen, dass es eine fundamentale politische Führungsschwäche symbolisiert. Hat es in der Geschichte jemals einen großen Menschenführer, Staatsmann, General, was auch immer gegeben, dessen Key Message war: "Helft mir doch bitte, ich bin auf euch angewiesen"? So reden Eltern manchmal mit ihren Kindern, Eheleute, Partner, Freunde untereinander und selbst da könnte man sicherlich diskutieren, inwiefern da Empowerment oder das Gegenteil ist.
Wenn ein Politiker sowas tut, dann kommt er damit nicht seiner Pflicht zu effektivem Handeln nach, sondern hält ein Zeichen hoch, auf dem steht: Seht her, ich appelliere doch schon nach Kräften - aka: zu mehr bin ich nicht zu gebrauchen.
Btw, bei Lanz diese Woche fiel über Portugal die Bemerkung, so einen Lockdown könne man sich in Deutschland nicht vorstellen - da seien wir vielleicht einfach ein anderes Volk. Hallo? Ich hab noch deine These aus dem Frühjahr im Gedächtnis - von der ich damals nichts hielt -, dass Deutschlands Erfolg vielleicht darauf zurückzuführen sei, dass wir die Bevölkerung sich einfach besser an Regeln halte. Jetzt sind wir plötzlich das Volk der Waschlappen, dem man nichts zumuten kann, ohne dass die Seele zerbricht?
Natürlich besteht ein Zusammenhang zwischen der Härte von Maßnahmen und dem Ausmaß der Verzweiflung in Bevölkerung und politischer Führungsebene. Wir haben im Verlauf der Pandemie irgendwie eine Mitte getroffen: Nicht so richtig rational und vorausschauend agiert, um das prevention paradox in voller Blüte zu sehen, aber auch nie so völlig vergeigt, dass das Gegenteil offensichtlich wurde.
Bevor man aber die mangelnde Compliance der Bevölkerung in den Mittelpunkt rückt, sollte man erstmal auf das schauen, was die Politik gemacht oder unterlassen hat. Und da ist es nun mal so, dass wir schon allein von der Regelstrenge her nie wieder das Niveau des Frühjahrs erreicht haben - obwohl wir wussten, dass wir aufgrund gesunkener Compliance eher stärkere Einschränkungen brauchen. Das ist das Versagen, das sich allein die Politik zuzuschreiben hat, wovor sie sich aber in weiten Teilen bis heute wegduckt.