A state Supreme Court justice—recently elected in a landslide—may be impeached before she ever hears a case.
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Eine kleine Geschichte, die imho anschaulich zeigt, wohin Polarisierung im Endstadium führen kann: Irgendwann ist es einem so wichtig, seinen eigenen Willen durchzusetzen, dass man mehr und mehr anfängt demokratische Strukturen zu demontieren, um seinen Willen zu bekommen.
Kurzfassung: Es geht um den Bundesstaat Wisconsin. Traditionell eher demokratisch, Trend aber seit ungefähr 15 Jahren zu nahezu ausgeglichen. Alle 10 Jahre müssen in den USA wegen ihres Wahlsystems (Mehrheitswahlrecht in Wahlkreisen in denen jeweils eine Person gewählt wird) die Wahlkreise neu zugeschnitten werden. Wie das genau funktioniert ist von Staat zu Staat unterschiedlich, in Wisconsin müssen sich die Legislative und die Exekutive (in Form des Gouverneurs) eigentlich auf eine Reform einigen. 2010 hatten die Republikaner zum ersten Mal seit Ewigkeiten sowohl die Mehrheit in der Legislatur als auch das Gouverneursamt und haben die Wahlkreise konsequent so zugeschnitten, dass effektiv für die Legislative nur noch republikanische Mehrheiten rauskommen können, was dann auch die nächsten 10 Jahre lang passiert ist. Die Demokraten haben gegen den Zuschnitt der Wahlkreise geklagt und vor dem obersten Gericht in Wisconsin, dessen Richter ebenfalls durch das Volk gewählt werden, verloren, wobei alle republikanischen Richter für die Verfassungsmäßigkeit der Wahlkreise gestimmt haben und alle demokratischen Richter dagegen.
Anfang dieses Jahrzehnts mussten die Wahlkreise dann wieder neu zugeschnitten werden und mittlerweile hatten die Demokraten wieder das Gouverneursamt gewonnen, d.h. in der Theorie hätte sich die republikanische Legislative mit der demokratischen Exekutive einigen müssen. Nun war klar dass ein demokratischer Gouverneur keiner Wahlkreisreform zustimmen würde, die seine eigene Partei so extrem benachteiligt wie der status quo es tut und die republikanische Legislative keinen Wahlkreisen, die ihren eigenen Vorteil irgendwie schmälern würden. Letztendlich wurde dementsprechend keine Einigung erzielt, d.h. auch dieser Sachverhalt landete vor dem obersten Gericht. Hier hatten die Republikaner immer noch eine 4-3 Mehrheit und mit genau dieser Mehrheit urteilten die Richter jetzt, dass die neuen Wahlkreise "möglichst wenig Änderungen" im Vergleich zu denen von 2010 enthalten sollen, was hieß der enorme Vorteil der Republikaner bei der Wahl zur Legislative wäre für weitere 10 Jahre zementiert.
Jetzt gab es 2020 allerdings auch die Präsidentschaftswahl, von der Trump felsenfest behauptet hatte, sie nicht verloren zu haben. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Staaten war man in Wisconsin für seine Klagen relativ empfänglich: Die Behörde, die in Wisconsin die Wahlen durchzuführen hat, hatte es erlaubt, öffentliche Boxen aufzustellen, in denen Menschen ihre Briefwahlstimmzettel werfen konnten (wohlgemerkt: November 2020 war natürlich mitten in der Pandemie). Weil dafür jedoch keine explizite Ermächtigung im Wahlgesetz steht, wollten Trumps Anwälte alle Stimmen, die in solchen Boxen abgegeben wurden, für ungültig erklären lassen. Weil die Boxen hauptsächlich in Städten zum Einsatz kamen (wo die Demokraten stark sind), hätte das die Zahl der Wahlstimmen so stark verschoben dass Trump den Staat deutlich gewonnen hätte (die Präsidentschaftswahl insgesamt hätte er allerdings trotzdem verloren). Auch dieser Sachverrhalt landete vor dem obersten Gericht in Wisconsin und diesmal hat tatsächlich einer der Republikaner gegen Trump entschieden, die anderen drei allerdings für ihn. Obwohl Biden damit vor Gericht 4-3 gewonnen hat, führte die Entscheidung unter Demokraten zu großer Empörung, denn effektiv hätte das Gericht, wäre es der Argumentation der drei republikanischen Gegenstimmen gefolgt, damit den Wählerwillen komplett unterlaufen, denn die Wähler konnten ja bei Stimmabgabe nicht wissen, dass sie ihre Stimme wegwerfen würden, wenn sie in den Boxen abstimmen statt ihre Briefwahlunterlagen jeweils einzeln per Post wegzuschicken. Das alleine führte schon zu enorm viel Widerstand. Dazu kam dann noch, dass der Supreme Court auf Bundesebene das Abtreibungsrecht einkassierte, was bedeutete dass jetzt wieder die Bundesstaaten Abtreibung regeln. Weil aber die Republikaner-Mehrheit in der Legislative de facto nicht abgewählt werden kann und nicht bereit ist, irgendwelche Regelungen zu treffen, ist in Wisconsin aktuell wieder ein Gesetz aus den 1840ern in Kraft, welches so gut wie alle Abtreibungen verbietet. Auch dagegen wird in anderen Bundesstaaten gerne geklagt, aber weil das oberste Gericht in Wisconsin bisher eine republikanische Mehrheit hatte, haben die Demokraten davon abgesehen, weil sie der Meinung waren sie würden sowieso verlieren, was wohl auch eine ziemlich realistische Einschätzung war.
Im Sommer 2023 musste allerdings eine Stelle am obersten Gericht in Wisconsin neu besetzt werden und weil diese Stelle bisher republikanisch besetzt war, wurde effektiv über die Kontrolle am Gericht abgestimmt. Der Wahlkampf um eine Richterstelle hat dann die absurde Summe von etwa 42 Millionen Dollar gekostet und am Ende haben die Demokraten mit zehn Prozentpunkten gewonnen, d.h. die Mehrheit änderte sich von 4-3 für die Republikaner zu 4-3 für die Demokraten. Daraufhin haben die Demokraten direkt am nächsten Tag gegen die Wahlkreisreform geklagt. Jetzt drohen die Republikaner gegen die neu gewählte Richterin, welche noch nicht im Amt ist, ein Amtsenthebungsverfahren anzustrengen, sollte sie nicht versprechen sich der Stimme enthalten, weil sie im Wahlkampf gesagt hatte, die Wahlkreise seien "rigged" (eine Tatsache, die niemand ernsthaft bestreiten würde, das ist letztendlich immer das Ziel der Neuzuschnitte, wenn man sie Politikern selbst überlässt). Dass Amtsenthebungsverfahren in Wisconsin nur wegen krimineller Verfehlungen erlaubt sind und dass mehrere der eigenen Richter mit Äußerungen zu allen möglichen Themen (u.a. Abtreibung) auffällig geworden sind: Geschenkt. Tatsächlich gab es in Wisconsin sogar einen Fall, in dem das oberste Gericht (wieder mit den Stimmen von Republikanern gegen die Stimmen der Demokraten) entschieden hat, dass Richter sich NICHT der Stimme enthalten müssen, wenn eine der Prozessparteien einer ihrer Wahlkampfspender ist.