Russlands strategische Position
Um sich in die geostrategische Position Russlands hinein zu versetzen, wäre es ideal, wenn Sie an ein Computerspiel oder auch an ein klassisches, taktisches Brettspiel denken. Die „Total War“- oder auch „TripleA- Serie“ (Shogun, Medieval, Empire, Napoleon und TripleA – World at War), „Axis & Allies“ oder auch das gute alte „Risiko“ eignen sich hervorragend hierfür. Alles Strategiespiele, bei denen es darauf ankommt, die Schwächen und Stärken der eigenen Position anhand geografischer Begebenheiten zu erkennen und zu nutzen.
Angenommen, Sie haben die russische Seite in Ihrem Spiel übernommen, wird Ihnen bei genauerer Betrachtung Ihrer strategischen Lage folgendes auffallen: Russland ist von Bergen, Meer und Eis umgeben, bis auf eine offene Flanke, die nordeuropäische Tiefebene. Sie ist die Achillesferse der russischen Verteidigung und erstreckt sich von Frankreich bis zum Ural-Gebirge, das eine natürliche Grenze zwischen Europa und Asien bildet. An ihrer schmalsten Stelle zwischen der Ostsee und den Karpaten ist die Ebene ca. 500 Kilometer breit. Von da an wird der schmale Keil, den sie dort bildet, immer breiter, bis er an der russischen Grenze zu einer riesigen Fläche wird, die in ihrer Breite über 3200 Kilometer misst. Von der Länge her betrachtet steht für einen Invasor tatsächlich bis ins russische Kernland hinein, bis nach Moskau, ebenfalls kein natürliches Hindernis mehr im Weg. Das Land bleibt flach. Selbst eine sehr große Armee hätte Schwierigkeiten, solch offene Flanken zu verteidigen. Das sind die geopolitischen Fakten, mit denen sich jeder russische Anführer seit Jahrhunderten konfrontiert sah, sei er Zar oder Diktator gewesen oder aber wie derzeit Präsident!
Die ideale strategische Verteidigungs- und Angriffsposition war mit Ende des Zweiten Weltkrieges erreicht. Ab den Karpaten spannte sich ein Bogen zur Ostsee hinauf; Moldawien, das zweite Nadelöhr für eine Invasion mit seiner Ebene südöstlich der Transsilvanischen Alpen, die zum Schwarzen Meer führt, war Teil der UDSSR. Seit dem Zerfall der UDSSR ab 1989 brach ein Stein nach dem anderen aus dieser idealen strategischen Position heraus. Bereits 2004, also nur 15 Jahre nach Ende des Warschauers Paktes, war jeder ehemaliger Mitgliedsstaat entweder Teil der NATO und/oder der Europäischen Union geworden. Dieser Umstand prägt natürlich das Denken der Moskauer Regierung.
Die nordeuropäische Tiefebene östlich Polens steht immer wieder aus anderen Gründen in den Schlagzeilen (z.B. Demokratiebewegung in Minsk, Proteste in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020, die Krise um die Ukraine). Tatsächlich manövrieren dort NATO Einheiten und russisches Militär auf engstem Raum. Es geht um die russische Enklave Kaliningrad, ehemals Königsberg, die wie ein Pfahl im Fleisch der jüngsten NATO Mitgliedsländer steckt. In Kaliningrad sind 15.000 russische Soldaten stationiert, die über schwere Artillerie und ballistische Raketen verfügen. Die dazwischen verlaufene Grenze wird die „Suwalki Lücke“ genannt. Sie liegt zwischen Polen, Litauen und Weißrussland und ist die einzige Landverbindung zwischen Polen und den Baltischen Staaten. An ihrer breitesten Stelle ist sie gerade mal 80 Kilometer breit. Die NATO Generäle wissen, dass sie die Verbindung im Kriegsfall maximal 24 Stunden offenhalten können. In den Baltischen Staaten sind zwar NATO-Soldaten in Bataillonsstärke stationiert, diese dienten aber nur als Stolperdraht im Falle eines russischen Einmarsches. Sie signalisieren, ohne Verluste der NATO wird dieser Korridor nicht zu erobern sein, was wiederum den sogenannten Bündnisfall auslösen würde (Artikel 5 des Nordatlantikvertrages). Eine sofortige militärische Antwort der NATO wäre unumgänglich, sonst wäre die gesamte NATO als Verteidigungsbündnis obsolet.
Diese Karte veranschaulicht die Problematik in dieser Region:
Zudem beheimatet Weißrussland das sogenannten „Smolensker Gate“, das „Tor zu Russland“. Die Polen 1605, Napoleon 1812 und Hitler 1941, alle mussten auf ihrem Vormarsch Richtung Moskau ihre Armeen durch diesen Trichter fließen lassen, der zwischen den Flüssen Dnjepr und Düna liegt. Wer immer im Kreml das Sagen hat, muss deshalb Weißrussland unter seinem unmittelbaren Einfluss haben wollen, koste es, was es wolle. Weißrussland und die Ukraine sind die direkten Pufferzonen vor der russischen Hauptstadt.
Russland und die Ukraine
In der Ukraine ist aus geopolitischer Perspektive heraus das Gebiet östlich des Dnjepr von herausragender Bedeutung für die Verteidigung des russischen Kernlandes um Moskau herum. Zudem ist dieser Teil der Ukraine prorussisch und wirtschaftlich sehr stark an Russland angebunden. Die Krim, die 2014 von Russland annektiert wurde, war 1954 ein Geschenk von Chruschtschow an die Sowjetrepublik Ukraine. Zum damaligen Zeitpunkt war es unvorstellbar, dass die Sowjetunion jemals zerfallen könnte.
Im Hafen von Sewastopol liegt die russische Schwarzmeerflotte vor Anker. Der Hafen ist der einzige, der ganzjährig eisfrei ist und den Russland nutzen kann. Alleine die Vorstellung, die Ukraine könnte EU- und/oder NATO-Mitglied werden und eines Tages sogar eine NATO-Marinebasis beheimaten, muss Putin um den Schlaf gebracht haben. Sicherlich wollte er auch auf keinen Fall als der Präsident in die Geschichte eingehen, der die Krim verloren hat.
Die logische Konsequenz war die Annektion ab dem Zeitpunkt, wo die Lage in Kiew nicht mehr kontrollierbar war (22. Februar 2014). Seit der Annexion investiert Moskau hunderte Millionen Rubel in die Modernisierung des Marinestützpunktes und in den Ausbau und die Nachrüstung der eigenen Flotte. Putin will unbedingt die Kontrolle über die Ukraine behalten, und auf gar keinen Fall eine wirkliche Annäherung der Ukraine an die EU oder gar NATO sehen. Ähnliche strategische Bedeutung haben Moldawien und Georgien, beides sind Grenzgebiete, die einen Zugang nach Russland ermöglichen. Sollte nur eines der beiden Länder eine NATO Mitgliedschaft anstreben, wäre ein Krieg sehr wahrscheinlich die Folge. In Georgien kam es bereits 2008 zu einem solchen.
Die geostrategische Lage Russlands
Versetzen wir uns nochmal auf die Ebene der Strategiespiele zurück. Sie spielen die russische Seite und zwar in einer Situation, die der aktuellen politischen Lage gleicht. Natürlich würden Sie Ihre Grenze verstärken. Vor ihrer Haustür manövriert eine NATO, die von einem Verteidigungsbündnis zu einer Angriffsorganisation zu mutieren scheint und ballistische Kurzstrecken-Waffensysteme in ihren Vorgarten stellen will – im Namen der Demokratie und weiterer westlicher Werte.
Natürlich würden auch Sie weiterhin beteuern, keine Angriffsabsichten zu haben. Schließlich investieren Sie gerade mal bescheidene 62 Milliarden US-Dollar in Kriegsausrüstung, um ein Land zu schützen, dass doppelt so groß ist wie die USA. Unter Militärexperten gibt es zum Thema Rüstung eine ziemlich einfache Faustformel. Wer einen Angriffskrieg beabsichtigt, rüstet bis zu drei mal so viele Waffen wie seine Gegner. Rüstungsausgaben muss man immer im Verhältnis zu den anderen beteiligten Nationen sehen. Laut Statistik der weltweiten Rüstungsausgaben sind die USA absoluter Spitzenreiter. Sie rüsten soviel wie die nächsten acht Länder zusammen, darunter Russland, China, Indien, Vereinigtes Königreich, Japan, Saudi Arabien, Deutschland und Frankreich. Allein von der Materialmenge her betrachtet, scheint für Russland selbst eine indirekte militärische Konfrontation mit en USA wegen der Ukraine nicht anstrebenswert zu sein.