Wie kann ein Land drei Generationen lang die Früherkennung von
Faschismus trainieren und ihn dann, wenn er Europa ins Gesicht springt, nicht als das benennen, was er ist? Kein deutsches Regierungsmitglied, kein prominenter Politiker spricht aus, was auf der Hand liegt: dass Putins Herrschaft sich zu einem faschistischen Regime entwickelt hat.
Das Zögern ist einfach zu erklären, einerseits. Die Bundesrepublik ist nicht nur auf dem heiligen Versprechen des "Nie wieder" gegründet, sondern hat auch zu Recht die Einzigartigkeit des Nationalsozialismus zur Grundlage ihres Geschichtsbildes gemacht. Andere des Faschismus zu bezichtigen kann also als Versuch der Selbstentlastung ausgelegt werden.
Andererseits: Welches Land, wenn nicht Deutschland, hat die Pflicht, auszusprechen, wenn Faschismus wiederersteht? Und wer, wenn nicht die Deutschen, müsste aus dieser Feststellung die entschlossensten Konsequenzen ziehen?
Der Vorwurf ist so schwerwiegend, dass man es sich auch mit der Begründung schwer machen muss. "Das faschistische Spiel lässt sich auf vielerlei Weise spielen", mahnte der italienische Philosoph
Umberto Eco. Er selbst vertrat eine recht weite Definition, in der schon wenige Merkmale ausreichten, um "Ur-Faschismus" auszumachen, etwa der Nationalismus oder die Ablehnung der Moderne. Heute geht es aber nicht um soziologische Frühwarnung, sondern um potenzielle teure Folgen, weshalb hier besser zu einer engen Begriffsbestimmung gegriffen werden soll.
Der Faschismus verdankt seinen Namen dem römischen Rutenbündel
(fasces). Eine Rute bricht schnell, viele Ruten zusammen hingegen bleiben unbeugsam. Was Faschismus so gefährlich macht, ist die sich selbst verstärkende, fanatisierende Wirkung, die diese Zusammenbindung aller Kräfte entfaltet. Der Faschismus steht damit in radikaler Feindschaft zum liberalen Individualismus. Letzterer muss sterben, damit Ersterer wachsen kann. In Deutschland hieß das schließlich: Du bist nichts, dein Volk ist alles.
Damit es so weit kommen kann, braucht es einen Kult um einen Führer, der als Beschützer einer als rein empfundenen Gemeinschaft verehrt wird, die sich von Feinden bedroht wähnt, sich für überlegen hält und glaubt, ihre Ansprüche mit Gewalt durchsetzen zu dürfen.
Trifft das alles auf das Regime von Wladimir Putin zu? Die kulthafte Verehrung des Präsidenten betreiben schon seit Langem das Staatsfernsehen, die orthodoxe Kirche, die Putin zum Schutzpatron gegen einen vermeintlich moralisch verrotteten Westen erhebt, und natürlich die Putin-Partei "Einiges Russland", die zuletzt Zehntausende Russen
in einem Moskauer Stadion versammelte, um dem Vorwärtsverteidiger des Vaterlandes im Flaggenmeer zu huldigen.
Bedroht sieht Putin das russische Volk von außen wie von innen. Ethnische Russen in der Ukraine seien Opfer eines "Genozids", das "Nazi-Regime" in Kiew entwickele Massenvernichtungswaffen, und in
Russland selbst versuche der "kollektive Westen (...) auf die sogenannte fünfte Kolonne zu setzen, auf Nationalverräter", sagte Putin in einer Rede am 16. März. Er verspricht: "Das russische Volk wird immer die echten Patrioten von den Lumpen und Verrätern unterscheiden können und sie einfach ausspucken wie eine in den Mund geflogene Mücke. Ich bin überzeugt, dass eine solche natürliche und nötige Selbstreinigung der Gesellschaft unser Land nur stärkt."
Die reine Gemeinschaft, die sich über ihre Gegner erhebt wie der Mensch übers Insekt, da ist sie. In diesem hyperbolischen Notwehrwahn wird der Streubombenbeschuss von Zivilisten ebenso zum gerechtfertigten, ja patriotischen Akt wie die Ermordung und Inhaftierung von Oppositionellen. Parlament, Justiz, Polizei, Medien, Wirtschaft, Schulen – alle wichtigen Stränge der Gesellschaft sind im Putin-Staat auf Kampf ausgerichtet, darauf, in einer manichäischen Ordnung von Freund und Feind das Kollektiv zu beschützen.
Der grüne Europa-Abgeordnete Sergey Lagodinsky postete vor wenigen Tagen auf Twitter ein russisches Propaganda-Video, in dem martialisch gepanzerte Polizisten auf eine Gruppe von Zivilisten zustürmen – aber nicht, um sie festzunehmen, sondern um sich mit ihnen unterzuhaken
und ein "Z" zu formen, das Symbol der Loyalität mit dem Präsidenten und seinem Krieg. Der gespenstische Clip ist die Botschaft des Bündels: Du bist mit uns, oder du bist gegen uns; du stärkst uns, oder du schwächst uns. Dissens ist Verrat.
Faschismus ist eben kein Epochenphänomen. Warum sollte er es auch sein, wenn das Russland von heute unter einem ganz ähnlichen Versailles-Syndrom von gefühlter Demütigung und Entrechtung leiden kann wie die Weimarer Republik vor hundert Jahren? Was Putin seit Jahren verbreitet, ist ja nichts anderes als eine Nato-Dolchstoß-Legende gegen das in Osteuropa unbesiegte Russland.
Die Argumentation könnte hier enden, mit der schlichten Feststellung, dass das Ding beim Namen genannt werden muss, um seine Gefährlichkeit zu begreifen. Die Frage ist also, was es nutzt, von Faschismus zu sprechen. Ist der Angriff auf die
Ukraine nicht schlimm genug? Wozu da noch ein "Kampfbegriff"? Es stimmt: Das Wort Faschismus ist nicht irgendein Name. Es wohnt eine Aufforderung darin. Das Wort in einer freiheitlichen Demokratie auszusprechen heißt zugleich, Widerstand mobilisieren zu müssen.
Darum geht es, tatsächlich.
Europa hat es eben nicht nur mit einem Kriegsverbrecher und Massenmörder zu tun, nicht also bloß mit einem mächtigen Kriminellen, sondern mit einem Feind der Grundfesten dessen, wofür Deutschland eine besondere Schutzverantwortung trägt. Der Totalitarismus nimmt auch in China zu, aber Putin propagiert einen auf Revanche gerichteten Imperialismus. Zu glauben, sein Expansionismus würde an der Westgrenze der Ukraine haltmachen, ist naiv. Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera nannte Mitteleuropa einmal "die größte Vielfalt auf dem kleinsten Raum", im Gegensatz zur Sowjetunion, die "geringste Vielfalt auf dem größten Raum" schaffen wollte. Das ist heute wieder wahr, es war ebenso wahr für Hitler-Deutschland, und es darf Europa kein drittes Mal passieren. Wenn historische Verantwortung heißt, eine annäherungsweise Wiederholung der Vergangenheit zu verhindern, dann wird Deutschland dieser Verantwortung gerade auf teils beschämende Weise nicht gerecht.
Der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck glaubt, der "soziale Frieden" wäre gefährdet, wenn die Heiz- und Energiepreise weiter stiegen. Vielleicht sollte sich Habeck fragen, was stattdessen gefährdet ist, wenn den Deutschen in dieser Stunde nicht mehr zugemutet (oder vielleicht sogar: ermöglicht?) wird. Unterhalb der Verpflichtungen zu bleiben, die das zivilisatorische Versprechen "Nie wieder" fordert, hat seinerseits zivilisatorische Folgen. Abstumpfung ist eine davon, die Unterlassungsschuld eine weitere. Auch eine moralische Unterforderung kann traumatisieren – fragen Sie Leute, die bei Verbrechen nicht helfen konnten.
Von einem liberalen Bundesfinanzminister Christian Lindner, der sich für einen Tankrabatt starkmacht, könnte man derweil erwarten, seinen Wählern gleichzeitig zu erklären, dass Deutschland leider einen noch viel größeren Faschismus-Rabatt gewährt, wenn es weiter Öl und Gas aus Russland kauft. Sicher, es wäre riskant, das Land von seinem wichtigsten Energieversorger zu kappen, die Folgen wären nur wenige Monate durchzuhalten.
Aber das Risiko muss Deutschland in Kauf nehmen, weil es die beste Chance bedeutet, einen Zerstörungsfeldzug zu beenden. Wie hoch wären denn die Kosten, wenn Putin nicht binnen Monaten gestoppt würde? Alle Kosten, die jetzt entstehen, entstehen, damit in Zukunft nicht mit noch mehr Menschenleben bezahlt werden muss.
Der Kanzler jener Partei schließlich, die mit ihrem Antifaschismus ansonsten bei jeder Gelegenheit auf der Barrikade ist, bleibt bei der passendsten Gelegenheit im Bundestag auf seinem Sessel sitzen. Nach dem dramatischen Hilferuf des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vergangene Woche hielt Olaf Scholz, SPD, eine Antwort nicht für nötig. Aus dem belagerten Kiew mit seinem eigenen Kleinmut konfrontiert, flüchtete sich das deutsche Parlament
ins offenbar allerhöchste Prinzip: die Tagesordnung.
Angemessen wäre das Gegenteil. Im Angesicht eines neuen Faschismus müsste Deutschland an der Spitze einer Bewegung stehen, die unablässig neue Ideen dazu produziert, wie sich Putins Kriegsmaschine bremsen lassen könnte, ohne einen Atomkrieg zu riskieren.
Warum nicht etwa Millionenbeträge auf Informationen aussetzen, die helfen, kriminell erworbenes Vermögen von Kreml-loyalen Oligarchen zu beschlagnahmen? Das würde Putins Hofstaat schwächen, während das Geld die Ukraine stärken könnte. Warum nicht desertierenden russischen Soldaten Asyl und Geld anbieten? Bei dem Versuch gäbe es nichts zu verlieren. Ein deutliches Signal von Wohlwollen sollte die Bundesregierung schließlich an alle potenziellen Putin-Gefährten senden, die mit dem Gedanken spielen, den Diktator zu stürzen: Beendet den Krieg, und ihr werdet belohnt – zumindest kommen die Gaseinnahmen zurück.
Wenn das Problem Faschismus heißt, dann heißt die Lösung, das Rutenbündel auszudünnen, bis es bricht.