Die Nord-Stream-Pipelines gesprengt von den USA? Die fragwürdige Recherche der Reporterlegende Seymour Hersh ist wenig glaubwürdig. Außer für die, die es glauben wollen.
Klar, hinter dem Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee steckt der Westen, das haben viele schon immer gewusst. Und dann kommt einer, der mal einen Ruf als Reporter zu verlieren hatte, und bestätigt all die Fantasien über die bösen
USA und ihre Vasallen. Geheimoperation mit Marinetauchern am Rande einer Nato-Übung, ferngezündete Sprengsätze, die Norweger sollen mitgeholfen haben, Schweden, Dänemark und Deutschland irgendwie auch – liest sich wie ein Thriller nach den Mustern des Kalten Kriegs: ein bisschen schlicht, aber doch sehr aufregend.
Explosiv jedenfalls ist das, was der sehr prominente Journalist
Seymour Hersh da recherchiert haben will. Der ist im Alter von 85 Jahren allerdings längst von der Legende investigativen Hinterfragens zum raunenden Schriftsteller geworden, dem nicht mehr viel zu glauben ist. Was überhaupt nichts aussagt über die Hintergründe der Pipeline-Sprengung, denn darüber weiß man so wenig wie zuvor. Bloß für Hershs Version spricht wenig, aus einigen Gründen.
Einer hat ihm also was erzählt, und dieser Jemand will seinen Namen damit nicht in Verbindung gebracht sehen. Alltägliches Reportergeschäft, daraus eine tragfähige Geschichte zu machen. Soll heißen: die Glaubwürdigkeit des Informanten prüfen, seine Behauptungen mit weiteren Belegen und Quellen erhärten, erst dann aufschreiben, was gesichert ist, nicht mehr. Und die Währung, die anonym bleibenden Protagonisten ihren Wert gibt, ist das Vertrauen in den Journalisten oder die Journalistin. Das gilt genauso für Dokumente, die zwar vorliegen, aber nicht vorgezeigt werden können. Hersh beruft sich auf eine einzige Person, der er offenbar einfach glaubt. Sein Misstrauen gilt von vornherein nicht seiner Quelle, sondern einzig dem vielfach begründeten, wenn auch nicht bewiesenen Verdacht, hinter der Sprengung der Pipelines würde Russland stecken. Trotz unzähliger Beteiligter konnte Hersh also nur einen finden, der "ziemlich viel darüber zu wissen scheint, was vor sich ging", wie er passenderweise der russischen Nachrichtenagentur Tass sagte. Kaum zu glauben.
Der Pulitzer-Preis ist lange her
Doch neben diesen handwerklichen Schwächen und ganz abgesehen von der Plausibilität dieser irren Geschichte, in die so viele Regierungen verstrickt sein sollen: Hersh ist schon lange kein Journalist mehr, der Vertrauen erwecken kann. Er zehrt von den Enthüllungen früherer Zeiten, als er etwa Ende der Sechzigerjahre das Massaker der US-Armee im vietnamesischen My Lai aufdeckte, wofür er 1970 den Pulitzer-Preis bekam. 2004 trug er dazu bei, die Folterpraktiken von US-Soldaten im irakischen Abu-Ghraib-Gefängnis an die Öffentlichkeit zu bringen. Das sind nur einige Beispiele für unzählige verdienstvolle Recherchen. Zuletzt aber zog dieser Ruf im Grunde nur noch bei jenen, die zuallererst und überall nur Lügen und Verschwörungen der USA sehen wollen. Weil Hersh in dieser Hinsicht zwar immer wieder Brisantes ablieferte, sich aber vielfach widerlegen lassen musste und große Zweifel an seiner Arbeit aufkamen.
Zuletzt vor allem mit Bezug auf Syrien: Einen Giftgasangriff auf Chan Scheichun habe es so nie gegeben, wollte Hersh 2017 herausgefunden haben. Das Regime habe vielmehr mit russischer Hilfe Dschihadisten bombardiert, in deren Keller dann diverse chemische Stoffe explodiert seien, für die Giftwolke sei also nicht der Diktator Baschar al-Assad verantwortlich – entkräftet von mehreren Ermittlungen, aber mit solchen Beweisen, die ihn widerlegten, wollte sich Hersh nicht beschäftigen. Einen Giftgasangriff in Damaskus 2013 stellte er gar als False-flag-Operation von Rebellen unter türkischer Anstiftung dar, um die USA in den Syrien-Krieg hineinzuziehen – etablierte Fakten, die dagegen sprachen, ignorierte Hersh. Und wie so oft: alles anonym und in der Präsentation äußerst selektiv. Dahinter schien ein Muster zu wachsen: Dem verlogenen Westen ist nichts zu glauben, eher jedem seiner Gegner.
Am sprechendsten ist wohl die kleine Anekdote um eindrückliche Aufnahmen eines elfjährigen syrischen Kindes zwischen Trümmern, von Staub überzogen – Hersh folgt der Assad-Propaganda und will darin ein Propagandatheater von Rebellenseite sehen, das nur dazu diene, das Regime als übermäßig brutal darzustellen. Weil das Mädchen ja auf so vielen Bildern vorkomme, immer wieder getragen von unterschiedlichen Männern, Jahr für Jahr, müsse sie eine Schauspielerin sein. Von dem Journalisten Steve Bloomfield darauf angesprochen, dass dies längst widerlegt sei – auf Videos wird das Kind von einem Helfer zum anderen weitergereicht, dann an ihren Vater, die Bilder sind alle nach demselben verheerenden Angriff entstanden – antwortet Hersh nur: "
Wenn Sie sich die Zeit nehmen, hinzuschauen, werden Sie eine Fülle derselben Vorwürfe finden, die ich erhoben habe." Die Beweise dagegen interessieren ihn nicht.
Weil es so schön passt
Für die knallige Geschichte um die Nord-Stream-Pipelines heißt das nichts Gutes. Sie wird mit dem besten Faktencheck, der hier zugegeben nur in wenigen Ansätzen erfolgt, nicht aus der Welt zu schaffen sein. Wer Hersh glauben will, weil er sich bestätigt sieht in seinen Verschwörungsfantasien, wird jedes Wort für die Wahrheit nehmen – einfach, weil es so schön passt.
Die sozialen Medien sind bereits voll davon. Die Dementis der beschuldigten Regierungen und laufende Ermittlungen ändern daran nichts, und dass der Kreml die Behauptungen als "sehr ernstzunehmend" adelt, russische Politiker den US-Präsidenten als "Terroristen" bezeichnen, erklärt sich von selbst. Ebenso wenig überraschend ist, welche Parteien sich in Deutschland nun an die Vorwürfe hängen, Untersuchungen und Rechenschaft der Bundesregierung fordern.
Hersh hat mit seiner eigensinnigen Veröffentlichung im eigenen Newsletter, die ihm verständlicherweise kein Medium abkaufen und publizieren wollte, tatsächlich selbst einige
Sprengsätze gelegt. Offensichtlich aus Überzeugung.
Eine Analyse von
Carsten Luther