Herr Bundeskanzler, war die Entscheidung, der Ukraine Leopard-Kampfpanzer zu liefern, Ihre bislang schwerste?
Jede Entscheidung, die ich seit Beginn des furchtbaren russischen Angriffskriegs getroffen habe, war schwer. Russland hat mit seinem Überfall auf die Ukraine eine Verständigung aufgekündigt, die für viele Jahrzehnte Sicherheit in Europa garantiert hatte: nämlich, dass mit Gewalt keine Grenzen verschoben werden dürfen. Darin besteht die
Zeitenwende. Deswegen unterstützen wir die Ukraine nicht nur finanziell, humanitär und militärisch, sondern stärken auch unsere eigene Verteidigungsfähigkeit. All diese Entscheidungen haben wir sorgfältig abgewogen und uns dabei stets an das Prinzip gehalten: Wir handeln nicht allein, sondern gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern.
Sie haben es als Gratwanderung beschrieben, die Ukraine bestmöglich zu unterstützen und gleichzeitig Deutschland nicht in Gefahr zu bringen. Wie groß ist Ihre Sorge vor einer Eskalation und einer nuklearen Reaktion Russlands?
Ein deutscher Kanzler, der seinen Amtseid ernst nimmt, muss alles dafür tun, dass aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine kein Krieg wird zwischen Russland und der Nato.
… der automatisch ein Weltkrieg wäre?
Deshalb folgen wir jenen nicht, die fast leichtfertig empfehlen, Deutschland solle voranmarschieren. Wir handeln immer international eng abgestimmt und koordiniert. Alles andere würde die Eskalationsgefahr erhöhen und wäre unverantwortlich. Viele Bürgerinnen und Bürger hoffen jeden Abend beim Nachrichtenschauen, dass der Kanzler die Nerven behält. Das tue ich.
Bereiten Ihnen die Entscheidungen, die Sie treffen müssen, nie schlaflose Nächte?
Es gehört zu meinem Amt, Druck aushalten zu können. Dieser Krieg in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ist eine sehr ernste und gefährliche Angelegenheit. Eine Lage, in der es keine Gewissheiten gibt. Man kann sich die richtige Entscheidung nicht von einem Mathematikprofessor errechnen lassen, keinen Algorithmus fragen. Wir gehen deshalb Schritt für Schritt vor und wägen mögliche Folgen einer Entscheidung genau ab. Das zeichnet Standfestigkeit und Besonnenheit aus – auch wenn manche meinen, das als Zögerlichkeit verunglimpfen zu müssen.
In Ihren Reden verweisen Sie auf die Ängste in der Bevölkerung. Wie nehmen Sie die Stimmung im Land wahr?
Die allermeisten Bürgerinnen und Bürger sind auf der Seite der Ukraine und wissen: Dieses Land hat jedes Recht, sich gegen die russische Aggression zu verteidigen. Deshalb sind sie dafür, die Ukraine zu unterstützen. Natürlich gibt es auch einige, die unsicher sind, ob es richtig ist, der Ukraine auch Waffen zu liefern. Andere fordern, wir sollten noch mehr machen. Aber die allermeisten Deutschen finden es richtig, dass die Regierung alle Entscheidungen sorgfältig abwägt.
Bei der Kampfpanzer-Entscheidung haben Sie darauf beharrt, dass Deutschland nur liefert, wenn die USA ebenfalls Abrams-Kampfpanzer schicken. Hatte dieses Beharren etwas mit der Sorge zu tun, Deutschland könnte ansonsten zu exponiert sein und würde womöglich im Ernstfall nicht mehr unter den nuklearen Schutzschirm der Amerikaner fallen?
Wer unsere Entscheidungen betrachtet, wird feststellen: Wir haben immer gemeinsam mit anderen gehandelt, insbesondere mit den USA. Das ist nicht neu, sondern das Prinzip, nach dem wir von Beginn an handeln.
Aber eine rein europäische Panzerallianz wollten Sie nicht? Das hätte die Gespräche, gerade was die Lieferung der Leopard-Kampfpanzer betrifft, deutlich verkürzt.
Für mich gilt, dass wir keine nationalen Alleingänge machen, sondern uns eng abstimmen mit den internationalen Partnern, allen voran mit den USA. Es ist für die Sicherheit Europas von größter Bedeutung, dass wir uns eng mit den USA absprechen. Ohne die Vereinigten Staaten wäre Sicherheit in Europa nur schwer zu gewährleisten.
Wie passt das zusammen mit dem Ziel, dass Europa souveräner werden muss?
Wir brauchen ein geopolitisch souveränes und starkes Europa. Was darunter zu verstehen ist, habe ich in meiner Prager Rede skizziert – eine starke europäische Rüstungsindustrie zum Beispiel und Mehrheitsentscheidungen in der EU zu Fragen der Außenpolitik. Das ist unser Ziel, da sind wir aber längst noch nicht.
Ist für Sie mit der Lieferung von Leopard-Panzern eine rote Linie erreicht, was die militärische Unterstützung für die Ukraine anbelangt?
Die Situation in einem solchen Krieg ist hochdynamisch, die Lage wandelt sich. Das zeigt sich schon daran, wie sich unsere Waffenlieferungen verändert haben: anfangs schultergestützte Panzerabwehrwaffen, dann Systeme zur Luftverteidigung, schwere Artillerie, nun sogar Kampfpanzer. Zugleich haben wir immer wieder auch Forderungen abgelehnt, wie etwa die nach Schaffung einer Flugverbotszone über der Ukraine. US-Präsident Joe Biden und ich waren uns einig, dass das zu einer unmittelbaren Beteiligung der Nato an diesem Krieg geführt hätte. Und die darf es nicht geben. Vergangene Woche im Bundestag habe ich auch klar gesagt, dass wir keine Bodentruppen in die Ukraine schicken werden.
Es kommen aber jetzt bereits die nächsten Forderungen aus der Ukraine: Kampfflugzeuge. Die USA und Frankreich schließen das nicht aus. Sie haben sich klar dagegen ausgesprochen. Ist der nächste Ärger programmiert?
Nein, die Frage der Kampfflugzeuge stellt sich doch gar nicht. Ich kann nur davon abraten, in einen ständigen Überbietungswettbewerb einzusteigen, wenn es um Waffensysteme geht. Wenn, kaum dass eine Entscheidung getroffen ist, in Deutschland die nächste Debatte beginnt, wirkt das wenig seriös und erschüttert das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in staatliche Entscheidungen. Solche Debatten sollten nicht aus Gründen der innenpolitischen Profilierung geführt werden. Mir ist jetzt wichtig, dass alle, die angekündigt haben, Kampfpanzer an die Ukraine liefern zu wollen, das jetzt auch tun.
Können Sie ausschließen, dass es am Ende bei Kampfflugzeugen wieder so sein wird: Es kommt die Forderung, Deutschland zögert die Entscheidung heraus, der Druck steigt – und am Ende liefern wir doch?
So war es ja nicht, ich teile schon Ihre Darstellung ausdrücklich nicht. Wir orientieren uns stets an dem, was die Ukraine einerseits braucht und was andererseits auch unsere wichtigsten Verbündeten liefern – allen voran die USA, aber auch Großbritannien, Frankreich und andere. Deshalb haben wir die Entscheidung über die Kampfpanzer nun getroffen.