Wenn Wladimir Putin nicht über Gott und Berge nachdenkt, denkt er an Pizza. Genauer, an die Form eines Pizzastsücks. Das spitze Ende dieses Keils ist Polen. Hier ist die weite nord-europäische Tiefebene, die sich von Frankreich bis zum Ural (der über 2000 Kilometer von jenseits des Polarkreises bis nach Kasachstan verläuft und eine natürliche Grenze zwischen Europa und Asien bildet) erstreckt, zwischen Ostsee und Karpaten nur knapp 500 Kilometer breit. Die nordeuropäische Tiefebene umfasst den gesamten Westen und Norden von Frankreich sowie Belgien, die Niederlande, Norddeutschland und fast ganz Polen. Aus russischer Perspektive ist das ein zweischneidiges Schwert. Polen stellt einen relativ schmalen Korridor dar, in den Russland im Bedarfsfall seine Armee schicken kann, um einen Gegner daran zu hindern, Richtung Moskau vorzurücken. Doch ab da wird der Keil breiter: An der russischen Grenze ist er bereits über 3200 Kilometer breit, und das Land ist bis nach Moskau und dahinter nur flach. Selbst mit einer riesigen Armee hätte man seine Schwierigkeiten, sich entlang dieser Linie erfolgreich zu verteidigen. Allerdings wurde Russland nie aus dieser Richtung erobert, was zum Teil seiner strategischen Tiefe zu verdanken ist. Bis eine Armee Moskau erreicht, müsste sie Nachschublinien bedienen, die unhaltbar lang sind – ein Fehler, den Napoleon 1812 machte und Hitler 1941 wiederholte.
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Man könnte also meinen, dass niemand vorhat, nach Russland einzumarschieren, aber die Russen sehen das anders. Aus gutem Grund. In den vergangenen 500 Jahren wurde Russland mehrfach vom Westen her überrannt. 1605 kamen die Polen durch die nordeuropäische Tiefebene, es folgten 1708 die Schweden unter Karl XII., 1812 die Franzosen unter Napoleon und die Deutschen zweimal, in beiden Weltkriegen, 1914 und 1941. Oder wenn man es anders betrachtet und von der Napoleonischen Invasion 1812 bis zum Zweiten Weltkrieg 1945 rechnet und den Krimkrieg1853–1856 diesmal einbezieht, waren die Russen durchschnittlich alle 33 Jahre in Kämpfe in oder an der nordeuropäischen Tiefebene verwickelt.
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Dann sind da die prowestlichen Länder, die früher Mitgliederdes Warschauer Pakts waren, jetzt aber alle zur NATO und/oderEU gehören: Polen, Lettland, Litauen, Estland, die Tschechische Republik, Bulgarien, Ungarn, die Slowakei, Albanien und Rumänien. Es ist kein Zufall, dass viele davon zu jenen Staaten gehören, die am stärksten unter der sowjetischen Tyrannei gelitten haben. Zu diesen sind Georgien, die Ukraine und Moldawien hinzuzufügen, die sich gern beiden Organisationen anschließen würden, aber auf Abstand gehalten werden, weil sie geographisch zu nah an Russland liegen und sich auf dem Boden aller drei Länder russische Truppen oder prorussische Milizen befinden. Eine NATO-Mitgliedschaft auch nur eines dieser drei Länder könnte einen Krieg auslösen.
Russland denkt wie alle Großmächte in Zeiträumen wie den nächsten 100 Jahren und geht davon aus, dass in dieser Zeit alles passieren kann. Wer hätte vor 100 Jahren gedacht, dass amerikanische Streitkräfte nur einige Hundert Kilometer von Moskau entfernt in Polen und im Baltikum stationiert sein würden? Bereits 2004, nur 15 Jahre nach 1989, war jeder einzelne ehemalige Mit-gliedsstaat des WarschauerPakts außer Russland selbst Mitglied der NATO oder der Europäischen Union geworden. Davon und von der russischen Geschichte wird das Denken der Moskauer Regierung geleitet