Grundsätzlich ist das ein unglaublich komplexes Thema, in dem keiner von uns Experte ist, und dass es Seiten gibt die unbedingt einen genetischen Zusammenhang sehen wollen, und andere die ihn unbedingt nicht sehen wollen, macht eine objektive Recherche nicht gerade einfach.
Damit gehe ich mit und schon sind wir durch, das Thema gab's oft genug, egal aus welcher Perspektive. Wenn man das diskutieren wollte gäbe es sicher bessere Threads.
Ansonsten, pro Forma und als wohl letzter Eintrag (weil Derail):
Ich finde schon "den" IQ als problematisch. Mir persönlich sind diverse Tests aus dem Bereich bekannt, deswegen das Abstellen auf eine Definition. In dem obigen Paper taucht mehrfach der Wert 85 auf. In der Diagnostik zur Leistungsfeststellung wäre ein solcher Wert bereits die Grenze zur Lernbehinderung, ergo wären 50% der Bevölkerung lernbehindert. Die Studie selbst zitiert zu Anfang schlauerweise, dass entsprechend unterschiedliche Verfahren angeschaut werden, was die logische Konsequenz ist, denn der Wert wäre
extrem krass, tatsächlich so krass, das er so nicht ohne Weiteres stimmen kann.
Nur ist schon schwierig unterschiedliche Tests zu vergleichen. Wenn man denn den IQ wirklich brauchen kann, dann eigentlich wirklich nur für eine Diagnostik, einen anderen Verwendungszweck sehe ich kritisch. Bei der Diagnostik will ich wissen, wie weit die Testperson von der Grundgesamtheit entfernt ist, nachgelagert, was genau die Entfernung darstellt. Beispielsweise, ob die Schulform geeignet wäre, oder ob jemand die Konsequenzen seiner Handlungen versteht (siehe Schuldfähigkeit). Je nach Aufgabenstellung teste ich anders, stelle andere Fragen, usw. usf. Die Messverfahren (Tests) sind Legion.
Hier ist grundsätzlich das nächste Problem verortet, denn was wirklich getestet wird, ist die Möglichkeit der Testperson die Antworten des Testerstellers zu liefern - auf welchem Weg die Antwort gefunden wird, ist
meistens* egal. Und hier setzt bereits die erste Kritik an einer Messung eines
objektiven "kognitiven Talents" oder einer Begabung an, macht Vergleiche über die Zeit und bei sehr unterschiedlichen Ausgangslagen schwierig.
Das mag unter anderem Dinge wie den Flynn-Effekt erklären, weil ein Test ständig geeicht werden muss und sich der Kontext des Tests inkrementell verändert. Würden alle konstant schlauer werden, wären wir längst deutlich weiter - ich glaube zumindest nicht, dass "die Menschheit" so signifikant schlauer geworden ist, wie es die ungeeichten Tests suggerieren.
Für jeden Test gibt es ein hintergründiges Ziel ("Kann das Kind auf eine normale Schule?", "Kann der Straftäter seine Handlungen einschätzen?"), das allerdings im Kontext der jeweiligen Grundgesamtheit (Gesellschaft) definiert wurde. Für diesen Kontext ergibt das Verfahren Sinn, außerhalb nicht. Je "allumfassender" ein Test wird, desto willkürlicher sind die Messungespunkte, bzw. Testfragen und desto schwieriger finde ich die Interpretation. Beispielsweise wäre bei dem üblichen 0815-Pseudo-Tests auch Sprachfragen dabei. Würde hier jemand niedrig scoren, sonst überall gleich, so hat diese Person urplötztlich 10-15 Punkte insgesamt weniger. Könnte aber auch an einer Leseschwäche liegen, nicht am Intellekt als solchen.
In der Studie werden wieder mehr Variablen außer dem IQ verglichen, was auch logisch ist. Wenn da steht, der IQ wäre vererbar, ist das etwas versimplifiziert. Als Soziologe würde ich über die Bildungshomogenität der Heiratsmärkte argumentieren, was auch erklären würde, warum etwa gleich scorende Personen heiraten und somit der IQ stabil wäre und sich die Differenzen manifestieren können, weil eine soziale Durchmischung eher selten passiert. Soziale Stratfikation würde permanent reproduziert. Da es jeder Schicht über die Zeit besser geht, würde auch das einen Teil des Flynn-Effekts erklären.
Selbstverständlich gibt es auch genetische Dispositionen, die Doku aus Norwegen sollte bekannt sein. Mir würde sich auch erschließen, warum gerade in Entwicklungsländern der IQ niedriger wäre, wenn dort die Bevölkerung seit jeher mit Mangelernährung und sonstigen widrigen Umständen zu kämpfen hat. Das gleicht auch eine super versorgte Folgegeneration nicht sofort aus, sondern wird mehrere Generationen brauchen. Nur hätte das nichts mit Ethnie zu tun, da der kulturelle Effekt nichts mit den Genen zu tun hätte. Selbst eine aufgeklärte, westliche Kultur hätte in dieser Umwelt keine Chancen den Druck auszugleichen.
Nun, wie dem auch sei, ich glaube weder nur an nurture noch nur an nature. Insgesamt sind mir die Vergleiche über Regionen hinweg zu naiv, weil es - wie du auch sagst - zu viele Variablen zu schwammig erfasst werden. Ich glaube auch nicht, dass diese Vergleiche überhaupt geliefert werden können, oder dadurch irgendwas geklärt werden könnte. Daher reagiere ich immer etwas miesepetrig, wenn der IQ für viele Dinge als Erklärung genutzt wird, für die er nicht gedacht würde. Macht die Dinge zu einfach und hilft in ein schwarz/weiß-Denken abzurutschen.
Ich sehe allerdings auch ein, dass man nicht die Nazi-Keule rausholen muss, wenn die Statistik eine Sprache spricht. Ich lehne mich aber aus dem Fenster und sage, dass wir uns als Gesellschaft dann nicht auf "tja, sind halt Untermenschen" ausruhen sollten, sondern der Anspruch ein anderer sein sollte.
*Wobei der Lösungsweg manchmal Priorität hat, um beispielsweise Autismus oder ADHS diagnostizieren zu können