Also Gefallen finde ich an dem Urteil auch nicht. Aber nur mal zur Klarstellung: Hältst du diese Trennung von Parteipolitik und Regierungsamt an sich für sinnvoll und wenn ja, dann nur als Gebot der politischen Kultur, aber nicht als verbindliches Rechtsprinzip oder auch als Rechtsprinzip, aber du bist der Meinung, dass das hier vom BVerfG zu scharf ausgelegt wurde?
Ich halte die Trennung prinzipiell schon für sinnvoll, im Sinne dass du keine Regierungsressourcen für die Parteipolitik einsetzen solltest, soweit das irgendwie möglich ist. Imho ist der Mehrwert eines Verfassungsgerichts gerade sowas: Wenn die Regeln des Spiels geändert werden, damit eine Seite (normalerweise die Regierung) bevorzugt wird. Es ist total illusorisch dass das alleine die Wähler abstrafen sollen, weil die halt noch andere Erwägungen verfolgen als demokratische Fairness, insofern finde ich das schon wichtig. Aber hier schießt das BVerfG imho meilenweit übers Ziel hinaus und nimmt auch eine Differenzierung vor, die imho keinen Sinn ergibt. Niemand glaubt ja wirklich, dass Merkels Aussagen jetzt deutlich mehr Beachtung gefunden haben, weil sie zufällig gerade auf Auslandsreise war oder gar, dass die Veröffentlichung auf der Seite der Bundeskanzlerin ernsthaft dazu beiträgt, die Aussagen zu ventilieren, obwohl das eine Reise war die von einem ganzen Tross an Presse begleitet wurde, die über die Aussagen aus erster Hand berichtet haben.
Die einzige echte Regierungsressource, die Merkel verwendet hat, war die Tatsache, dass alles was sie parteipolitisch so sagt qua Amt hochrelevant ist, weil sie halt die Bundeskanzlerin war. Es ist schlicht realitätsfern zu glauben, wenn Merkel sagt "ich als Privatperson denke, dass" würden Leute das ernsthaft anders wahrnehmen als wenn sie es weglässt, solange sie Kanzlerin ist nehmen die Leute sie halt als Kanzlerin wahr und nicht anders.
Es ist natürlich im Jahr 14 der Regierungszeit nicht mehr ganz SO relevant, aber Politik funktioniert halt nun mal so, dass die Komplexität der ganzen Geschichte durch Personalisierung reduziert werden muss, weil es für den Durchschnittsbürger einfach nicht zu leisten ist, eine fundierte politische Entscheidung alleine aufgrund von Parteiprogrammen zu fällen. Und ganz unabhängig davon, ob man einfaches CDU-Mitglied ist oder Vorsitzende, wenn man gleichzeitig (!) Kanzler ist dann ist man im öffentlichen Ansehen ziemlich untrennbar mit der eigenen Partei und ihrem Schicksal verbunden. Und das wird sich auch nicht ablegen lassen, weil die Verfassung nun mal nicht die Wähler zwingen kann, ihre Entscheidungen auf eine bestimmte Art zu treffen. Und weil alles was wir über Wahlentscheidungen wissen in die Richtung zeigt, dass Personen wichtig sind, muss man halt Personen die Möglichkeit lassen, politisch zu agieren, selbst wenn sie ein Staatsamt bekleiden.
Das BVerfG verlangt außerdem gar keine scharfe Trennung. Die Spruchlinie war immer - nicht erst seit dieser Geschichte - dass die Trennung jedoch umso schärften sein muss, je näher ein Wahlkampf ist. Und hier hat Merkel einfach mittel im Wahlkampf reingelabert. War dumm, soll man einfach nicht machen und fertig. Du kannst Dich nicht als Kanzlerin hinstellen und behaupten, dass irgend ne Wahl wiederholt werden "muss". Das ist nicht deine Kompetenz und Du hast auch kein Recht dazu irgendwelche Aufforderungen zu formulieren. Also mE völlig richtiges Urteil des BVerfG, wie immer
Was sie gesagt hat war aber nicht der hauptsächliche Punkt. Ich persönlich fand Wallrabensteins Argumentation deutlich überzeugender, aber auch die Mehrheit hat klar gesagt, dass Merkel durchaus diese Meinung zusteht, sie möge sie halt nur nicht als Regierungsmitglied äußern, sondern als Parteipolitikerin oder Privatperson. Und das ergibt ja nun keinen Sinn: Wenn es hier wirklich um demokratische Fairness gehen würde, warum sollte es dann unfairer sein, dass Merkel sich als Kanzlerin dazu äußert*, dass die Wahl rückgängig gemacht werden soll, als wenn AKK sich als Parteivorsitzende äußert (und Druck auf die Landtagsfraktion ausübt) oder Lindner Kemmerich de facto durch eine Drohung dazu zwingt, vom Amt wieder zurückzutreten? Dadurch werden die Stimmen der AfD doch tatsächlich entwertet, nicht durch Merkels Aussage. Aber keine dieser Handlungen wurde oder wird verfassungsrechtlich beanstandet, eben weil klar ist, dass das parteipolitische Handlungen sind, wie sie nun mal der Politik inhärent sind. Wenn DAS beanstandet worden wäre fände ich das Urteil immer noch falsch, aber es wäre immerhin in sich kohärent. Aber dieses Konstrukt, dass Merkel hier Amt und Parteipolitik nicht getrennt hat, überzeugt mich so ziemlich Null.
*deren Beliebtheit in der Thüringer CDU ja, wie alle wussten, nicht unbedingt himmelhoch war und ist
€dit: Btw: Ich würde die Geschichte mit der Gewaltenteilung übrigens fast exakt gegenteilig sehen - hier wird die Gewaltenteilung imho verletzt, weil die Judikative der Exekutive viel ZU strenge Regeln gibt, die der politischen Realität einfach nicht angemessen sind.
€dit2: Ich bin dann doch etwas überrascht, was für Müll ich unter den Kommentaren in den Zeitungen zu dem Thema lese. Man kann ja glücklich oder unglücklich mit dem Ausgang der Wahl sein, aber weder hatte Angela Merkel die Kompetenz dazu, die MP-Wahl zurückzudrehen, noch spiegelte die MP-Wahl in irgendeiner Form den Wählerwillen wider. Wenn man sich auf den Standpunkt gestellt hätte "es gibt eine konservative Mehrheit in Thüringen", würde ich das auch für falsch halten, aber immerhin wäre es nicht offensichtlich schwachsinnig. Aber dass die FDP, die mit 5,00% gerade so in den Landtag gekommen ist den Ministerpräsidenten stellen soll, kann ja wohl niemand ernsthaft als das ansehen, was Wähler im Jahr 2019 wollten. Zu einer demokratischen Wahl gehört auch, dass man halbwegs weiß, was genau man wählt und MP von der FDP in Thüringen hatte wohl so ziemlich niemand auf dem Zettel.
Aus demselben Grund fände ich es allerdings auch illegitim, einen MP zusammen mit der AfD zu wählen, wenn er aus der Union käme. Wenn man das machen will okay, aber dann sollte man es vorher auch sagen. Die ganzen Leute, die so en passant "CDU+FDP+AfD" > "Linke+SPD+Grüne" zählen und dann sagen "aha, konservative Regierung war also der Wählerwille" unterschlagen immer schön, dass die Wahlentscheidung gerade unter der Annahme getroffen wurde, die Union würde NICHT mit der AfD kooperieren. Dass das Ergebnis immer noch so aussieht, wenn die Union das vorher nicht ausschließt, ist alles andere als offensichtlich.