Jein.
Einerseits ja, der Anker ist relevant.
Andereseits ist das Problem doch gerade, dass es ja kein Zufall ist, dass der Anker niedriger ist, weil sich den jemand ja bewusst überlegt hat, und es ja schon ein längerfristiger Trend ist, dass der BT größér wird.
Das Argument klingt außerdem etwas nach:
"Ja, 500 Morde sind nicht schön. Aber wirkt nur so schlimm weil es vorher 400 waren. Wenn es vorher 510 gewesen wären, würde jeder jubeln, weil es ja sogar weniger ist als vorher".
Na ja, das kannst du jetzt nicht wirklich vergleichen finde ich. Mord ist das klassischste Valenzissue: 490 wären besser als 500, 480 besser als 490 usw., Null wäre am besten, da sind wir uns wohl alle einig. Die Sitzzahl im Bundestag funktioniert aber nicht so: Ab einer bestimmten Sitzzahl wäre der Bundestag zu klein, einfach weil dann die ganze Ausschussarbeit nicht mehr erledigt werden könnte (und Repräsentation natürlich auch schwieriger wird). Du gehst einfach implizit davon aus dass größer als da wo wir jetzt sind schlechter ist. Wenn das stimmen würde wäre Wachstum negativ zu sehen, klar.
Aber für die Behauptung "größer = schlechter" gibt es doch keinerlei Begründung, wenn sie unabhängig vom Ist-Zustand getroffen wird. Vielleicht ist 598 nahe am Optimum, vielleicht auch nicht. Es ist lediglich die Zahl der Bundestagswahlkreise mal 2. Warum wir 299 Bundestagswahlkreise haben? Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Genauso sieht es mit der Vorbildfunktion aus: "Größer = schlechter" ist häufig selbst eine politische Frage, der eine Ideologie zugrunde liegt. Mein Eindruck ist beispielsweise, dass viele unserer (Bundes-)Behörden eher größer sein sollten als kleiner. Insofern sehe ich keine Notwendigkeit dafür, den Bundestag arbiträr zu verkleinern, um als "Vorbild" zu dienen (was ja an sich schon eher unsinnig ist, weil die Größe der Behörden durch die Legislative vorgegeben wird). So groß wie nötig, so klein wie möglich. Nur: Was nötig ist kann man imho nicht anhand solcher Heuristiken ermessen.
Ist wenig sinnvoll, das linear proportional zur Bevälkerungszahl zu sehen. Sonst müsste man ja in Indien 10k Leute im Parlament haben.
Warum genau braucht man für 80 Mio mehr Parlamentarier als für 15 Mio?
Und falls ja, warum linear statt bspw quadratisch?
Linear ergibt doch in jedem Fall mehr Sinn als quadratisch? Es gibt nur ein Indien aber es gibt haufenweise Demokratien auf der Welt, die deutlich weniger Einwohner haben als Deutschland. Die müssten bei quadratischem Wachstum ja winzige Parlamente haben. Und wie gesagt: In der Theorie (!) sind diese Kammern als Volksvertretung gedacht. Es ist einfacher, eine kleinere Zahl an Menschen in ihrem Willen zu vertreten als eine größere und nur weil man in einem größeren Land lebt wird es ja nicht einfacher, für einen einzelnen Parlamentarier mehr Leute zu vertreten. Ob das jetzt für 600, 700, 500 oder eine ganz andere Zahl spricht weiß ich natürlich auch nicht. Aber gemeinhin wird einfach davon ausgegangen 700 sei zu viel, ohne irgendeinen Grund dafür anzuführen.
Ja, vielleicht wären 400 besser.
Egal was aber das Optimium ist, das macht dch eine Diksussion nicht invalide, ob das wachsende Parlament problematisch ist?
Eine Diskussion darüber wäre eine Sache. Aber die sehe ich eigentlich nicht: Gemeinhin wird
a. davon ausgegangen, dass ein größeres Parlament als wir es jetzt haben ein Problem ist und
b. dass das ein echtes Policy-Problem ist.
a. müsste erst mal belegt werden (fairerweise führst du hier zumindest Argumente an, darauf wird aber gemeinhin auch verzichtet) und b. erscheint mir komplett künstlich erzeugt.
Und mir geht es unter Argument #1 ja gerade um die Vorbildfunktion, die exakt unabhängig von der Frage ist, was das Optimum ist.
Wenn das Parlament wächst, ohne das gut zu begründen, dann ist das halt kein geiles Vorbild für alle anderen Behörden.
Entweder nicht wachsen, oder halt gut begründen.
Na ja, die Begründung wird doch relativ klar kommuniziert? Das Parlament wächst, damit der Wählerwille exakt abgebildet werden kann. Ich weiß jetzt nicht was zusätzliche ca. 140 Bundestagsabgeordnete für die Legislaturperiode kosten, aber das wäre es mir alleine dafür wert, dass der Wählerwille (ausgedrückt in Zweitstimmen) nicht irgendwie verfälscht wird. Klar wäre es besser wenn man das Wahlsystem selbst ändern würde (ich wäre bspw. völlig offen für den Ampel-Vorschlag aus der FAZ), aber das war halt mit der Union in der Regierung bisher nicht zu machen.
Meinst du, dass der durchschnittliche Hinterbänkler wertvolle Arbeit in den Ausschüssen leistet?
(Ich weiß es nicht, mich interessert deine intuitive Schätzung.)
Ich weiß es auch nicht. Vermutlich ließe sich die selbe Expertise auch einfacher ins Boot holen, indem man statt zusätzlichen Parlamentariern ihre Büros besser ausstattet, bspw. mit mehr wissenschaftlichen Mitarbeitern. Das hätte wohl auch deutlich weniger Geschrei zur Folge, selbst wenn die Kosten letztendlich auf dasselbe hinausliefen.
Also das Repräsentationsargument finde ich mitteilgeil.
Ist ja jetzt auch nicht so, dass ein Abgeordneter irgendwie mit seinen 80-100k tatsächlich relevant in Austausch stünde & sie ernsthaft repräsentieren würde.
Wenn einem darum gelegen wäre, müsste man eh eine zusätzliche Ebene einführen, damit ein tatsähclich repräsentativer Dialog stattfindet.
Dritte Wurzel aus 80 Mio bspw sind 430 -- die kann man tatäshclich verstehen und repräsentieren (wären ca. 150 Haushalte).
Fairerweise muss man sagen dass mit Repräsentation meistens gemeint ist, dass die Bürger mit bestimmten Problemen zu ihrem Abgeordneten kommen, nicht dass die Abgeordneten auf die Bürger zugehen oder dauerhaft mit ihnen in Kontakt stehen. Ich kenne eine Person die als Büroleiterin bei einem Bundestagsabgeordneten arbeitet und du würdest dich wundern, wie viele solcher Anfragen die bekommen. Da sind natürlich auch Spinner dabei, aber vieles davon was sie so erzählt klingt jetzt nicht völlig unvernünftig.
€dit:
Zu deiner Ausgangsfrage:
"Übergewinnsteuer" ist Quark, da es auch keine "Untergewinnsteuer" gibt, wenn bspw jemand langfristige Lieferverträge oder Preisänderungen hat, und sich das nicht posiitv, sondern negativ auswirkt.
mMn reiner Populismus.
Damit machst du es dir aber doch etwas arg einfach. Die Frage ist ja, wer die "Übergewinnsteuer" zahlt und wann. Afaik fordert niemand eine allgemeine Steuer auf alle überdurchschnittlichen Profite. Es gibt keine "Übergewinnsteuer" für BioNTech/Pfizer, weil alle bis auf ein paar sehr linke Spinner wissen, dass hier etwas von Wert geschaffen wurde, das ohne die beiden Konzerne so einfach nicht existiert hätte und einen kolossalen gesellschaftlichen Nutzen hatte. Unternehmen, deren Profit hauptsächlich aus der Extraktion von Energieträgern besteht, die sie nicht selbst geschaffen haben, anders zu behandeln ist für mich erst mal nicht a priori "Populismus". Letztendlich vergemeinschaftet man damit Profite, was bspw. die Norweger mit ihrem Staatsfond genauso machen. Ist das für dich auch Populismus?