Kommt halt darauf an, wie man zum Thema Staatsräson steht, und von der UN eine gewisse Proportionalität erwartet.
Proportionalität:
Die UN erlässt zigfach mehr Resolutionen gegen Israel als gegen weit schlimmere Regimes.
Staatsräson:
Deutschland sollte imo nur in clear cut Situationen gegen Israel stimmen. Es gibt ja auch sehr gute Gründe, dagegen zu stimmen, bspw dass man zur Bedingung macht (nicht dagegen zu stimmen) dass die Resolutionen balanciert sind und die Hamas auffordern, den Gazastreifen zu verlassen und alle Geiseln frei zu lassen.
Wir reden hier immer noch über eine UN-Resolution. Jeder weiß, dass sie nicht bindend und in der Realität (!) das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt werden. Der einzige Nutzen, den sie tatsächlich haben, ist eine Signalfunktion bzgl. politischer Positionierung der jeweiligen Länder. Ich denke jedem, der sich minimal mit dem Thema beschäftigt hat, ist klar dass der Umgang der Generalversammlung der UN mit Israel unfair ist. Aber wenn man so viel Einfluss auf den Text genommen hat, wie möglich war (was Deutschland ja behauptet), dann muss man letzten Endes nun mal über das Abstimmen, was vorgelegt wurde, weil keine Legislative ohne irgendeine Form von agenda setting power funktionieren kann (schon gar keine ohne zentrales Steuerungselement wie eine Regierung). Und dann sehe ich einfach nicht, warum man in eine imaginäre Konkurrenz mit der aus eigener Sicht bestmöglichen Resolution treten sollte und danach das eigene Abstimmungsverhalten ausrichtet, anstatt über das, was tatsächlich vorliegt: Was ist besser, der status quo oder die Resolution? In meinen Augen gibt es wenige Gründe dafür, den status quo zu wählen.
Das mit der "Staatsräson" ist so eine Sache: Ich finde es überhaupt nicht legitim, dass ein Satz von Angela Merkel en passant quasi Verfassungsrang (wenn nicht gar über Verfassungsrang) einnimmt*. Wenn man das Ernst meint dann braucht es dafür einen großen gesellschaftlichen Diskurs, bspw. was denn jetzt genau das Ziel ist (Existenzrecht? Sicherheit?), wie das konkretisiert werden kann und dann natürlich auch, je nach Ergebnis, irgendeine Art von Plan dafür, wie man sich selbst in die Lage versetzt, diese Ziele im Zweifelsfall auch erreichen zu können. Nach meiner Ansicht als Staatsbürger kann es jedenfalls nicht angehen, dass man Israel uneingeschränkte Solidarität zusichert, egal was vorgefallen ist und das ist in meinen Augen auch eine zutiefst undemokratische Sichtweise. Solidarität kann nur soweit gewährt werden, wie die Handlungen Israels in unseren Augen unterstützenswert sind. Dafür, dass die aktuellen Bombardements unterstützenswert sein sollen, genügt mir das Wort der IDF jedenfalls nicht, dafür hat auch die IDF uns schon zu oft absoluten Schwachsinn aufgetischt.
ch bin mir immer noch etwas unklar über deinen genauen Kenntnisstand bzgl. dieses Konflikts, aber ich würde dich dringend davor warnen, aus dem Vergleich zwischen der Hamas und Israel zu schließen, dass Israel völlig glaubwürdig ist, nur weil die Hamas völlig unglaubwürdig ist. Der Hamas kann man in der Tat nichts glauben, aber auch Israel tut sich nicht gerade als Hort der Ehrlichkeit hervor was diesen Konflikt angeht. Das kann ich aus taktischen Gründen zwar nachvollziehen, aber das heißt nicht dass wir darauf hereinfallen müssen. Schließlich wären es die IDF-Soldaten, die sterben müssen, wenn man statt Bombardements direkt in den Häuserkampf geht. Dass Israel das Leben eines ihrer Soldaten mehr wert ist als das Leben eines Zivilisten in Gaza ist zwar nicht schön, aber das würde wohl jedes Land der Welt so sehen (wenn auch sicherlich in unterschiedlichen Gradierungen, wie viel mehr). Aber ich sehe absolut keinen Grund, warum das für uns gelten soll.
Ich will nur mal Folgendes zu bedenken geben: Vor ca. 15 Jahren hatte das Bundesverfassungsgericht über einen Teil des Luftsicherheitsgesetzes zu entscheiden, das die Exekutive ermächtigt hätte im Fall eines zu befürchtenden Terrorangriffs ein als gekapert geltendes Flugzeug abzuschießen. Die Entscheidung lautete dahingehend, dass das nicht mit der Menschenwürde vereinbar sei, weil es die Insassen zu reinen Objekten macht, die zum Schutz der Menschen am Boden geopfert würden. Da reden wir von einer Situation, in der akute Gefahr für die eigenen Bürger besteht, Opfer eines (noch bevorstehenden) tödlichen Angriffs zu werden. Trotzdem ist es die Auffassung des Verfassungsgerichts, dass Menschen nicht einfach so für die Sicherheit anderer Menschen geopfert werden dürfen. Das ist das Staatsverständnis von Menschenwürde, die man wohl mit besserem Recht als "Staatsräson" bezeichnen kann. Nun ist Israel natürlich auch nicht Deutschland und man muss nicht unbedingt sehr spitzfindig sein, um auf die Endogenität von Verfassungsrecht und politischen Realitäten hinzuweisen, d.h. wäre Deutschland in der Situation Israels, würde es sein Grundgesetz wohl auch anders auslegen. Aber: Wenn das nun mal der Anspruch ist, den der deutsche Staat an sich selbst stellt, muss man es wirklich ablehnen, wenn die Vollversammlung andere Staaten dazu anhält, einen (deutlich weniger rigiden) Standard an sein eigenes Handeln anzulegen, nur weil der Terror gegen Israel nicht erwähnt wird?
*ich nehme an, dass du das mit blick auf andere Politikfeldern wohl auch nicht so geil fändest
@Gustavo
Mich würde übrigens nach wie vor interessieren, wo du denkst, dass es einen Unterschied gemacht hätte, wenn Israel 2005 den Gazastreifen nicht nur geräumt, sondern ihm volle Souveränität gewährt hätte.
Glaubst du, das hätte die Hamas vom Putsch abgehalten? Oder von Angriffen auf Israel?
Ich glaube das nicht. Und bei massiven Angriffen eines kleinen souveränen Nachbarstaates hätte Israel doch sogar härter reagiert / reagieren müssen.
Auch unklar was daran für die Zivilbevölkerung besser gewesen wäre. Einem souveränen Nachbarstaat musst du weder Wasser noch Strom liefern. Und wenn er dich dauernd angreift, hast du Fug und Recht, die Freiheit des Schiffsverkehrs einzuschränken.
Die Frage ist imho ziemlich "stacking the deck". Ich denke es ist schlicht unmöglich vorauszusagen, was passiert wäre, wäre die Geschichte anders verlaufen. Aber es ergibt halt auch wenig Sinn, sich einen diskreten Zeitpunkt in einem kontinuierlichen Prozess der beidseitigen Radikalisierung rauszusuchen. Das ist so spekulativ, dass es auf Märchenstunde hinausläuft. Ich kann dir dazu glaube ich nur so viel über meine Sicht sagen: Ich bin überhaupt nicht überzeugt davon, dass die Hamas primär ein Ausdruck des eliminatorischen Antisemitismus der Bevölkerung Gazas war und ist; die Hamas war ein Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Lebenssituation in den Palästinensergebieten: Wirtschaftlicher Niedergang (von einem bereits sehr niedrigen Ausgangsniveau), dauerhafte Regierung durch eine völlig korrupte Elite, ohne eine realistische Möglichkeit aus eigener Kraft irgendetwas an dieser Ausgangsposition zu ändern.
Wenn man die Hamas schwächen will, muss man Gaza eine realistische Entwicklungsperspektive geben. Dafür kann man keine Reziprozität einfordern; so läuft es einfach nicht, da ist Gaza keine Ausnahme, sondern einfach die Regel. Und eine realistische Entwicklungsperspektive existiert nun mal nur für einen eigenständigen Staat mit Kontrolle über seine eigene Grenze, insbesondere seine Seegrenze. Dass der Weg vom Ist-Zustand dorthin nicht einfach ist, Gaza mit der Hamas in die Unabhängigkeit zu entlassen stimmt natürlich. Das Problem ist aber, dass Israel in den letzten 20 Jahren keinerlei Schritte unternommen hat, um dem Ziel näher zu kommen, im Gegenteil.