Herr Neumann, Sie erforschen Radikalisierungsprozesse. Der 24 Jahre alte Somalier, der in Würzburg drei Menschen erstach, war offenbar psychisch krank und rief bei der Tat angeblich „Allahu akbar“. Haben wir es wohl mit einem gestörten Amokläufer zu tun? Oder mit einem Dschihadisten?
Neumann: Das schließt sich nicht aus. Wir wissen aus empirischen Studien, dass es besonders bei Einzeltätern sowohl auf islamistischer als auch auf rechtsextremistischer Seite eine ganz große Überschneidung gibt mit Leuten, die psychisch krank sind. Paul Gill und Emily Corner haben herausgefunden, dass psychologische Krankheitsgeschichten bei terroristischen Einzeltätern 13,5 Mal so häufig vorkommen wie bei Angehörigen von Terrorgruppen.
Dann war der Würzburger Täter kein Einzelfall?
Ich würde sogar mittlerweile sagen, dass dies der dominante Typus der terroristischen Attentäter in Europa ist. Und er stellt die Sicherheitsbehörden wie die Öffentlichkeit vor ganz neue Probleme. Denn es wird noch einmal schwieriger, diese Taten überhaupt noch einzuordnen und genau zu bewerten – vom Verhindern zu schweigen.
Ist der „Heilige Krieg“, den Islamisten predigen, für diese Art von Einzeltäter damit eine austauschbare Parole?
Für jemanden, der bereits unter Wahnvorstellungen leidet, sind solche Aufrufe von Islamisten ebenso wie von Rechtsextremisten ein Brandbeschleuniger. Wenn man auf das Spektrum der Täter schaut, dann gibt es auf der einen Seite kalt kalkulierende Ideologen und auf der anderen den psychisch Kranken, der unter Wahnvorstellungen leidet. In der Mitte verorte ich Verschwörungstheoretiker, deren Ideen ja scheinbar rational sind, aber gleichzeitig oftmals auf Wahnvorstellungen basieren und diese verstärken können.
Die Biographien von Rechtsextremisten und Islamisten klaffen auseinander. Der Täter von Würzburg etwa floh aus einem Kriegsgebiet. Wie kommt es, dass Täter beider Gruppen ähnliche psychologische Probleme aufweisen?
Das ist eine relativ neue Entwicklung, weshalb ich darauf auch noch keine Antwort habe. Vor zehn, fünfzehn Jahren war unter Forschern Konsens, dass Terroristen psychologisch normal sind. Fest steht, dass heute die Menschen viel mehr Zeit im Internet verbringen. Ich glaube schon, dass labile und sozial isolierte Leute über gewisse Anfälligkeiten verfügen, die durch extremistische Propaganda dort sehr stark angesprochen werden.
Das sind also keine Leute mehr wie die, die für Al-Qaida vor 20 Jahren Flugzeuge in Wolkenkratzer steuerten.
Nein. Das sind Menschen, die von
Mohammed Atta und den Planern vom „11. September“ wohl aussortiert worden wären, wenn sie sich angeboten hätten.