Manche resignieren, wie Sohrab Taheri-Sohi sagt, Sprecher des Bayerischen Roten Kreuzes: „Viele Einsatzkräfte nehmen es mittlerweile schon als gegeben hin, dass sie im Einsatz beleidigt oder sogar belästigt werden.“
Das ist das, was die Einsatzkräfte wahrnehmen. Daten sagen jedoch etwas anderes. Der Psychologe Mario Staller hat mit anderen Forschern Rettungskräfte im Rhein-Main-Gebiet über drei Jahre eine Art Einsatztagebuch führen lassen. Bei über 300.000 Einsätzen notierten sie knapp über zwanzig körperlich-gewalttätige Übergriffe. Jeder ist einer zu viel. Aber für eine weit verbreitete Verrohung sprechen die Daten nicht.
Nach einer Statistik des Bayerischen Roten Kreuzes, das im Freistaat 80 Prozent des gesamten Rettungsdienstes betreibt, meldeten Sanitäter im Jahr 2022 bei rund zwei Millionen Einsätzen nur 55 „Aggressionsereignisse“. Die Dunkelziffer, sagt Taheri-Sohi, liege aber sicher deutlich höher, weil viele kleine Vorfälle nicht gemeldet würden. Die meisten Übergriffe, vor allem Beleidigungen, Tritte oder Gewaltandrohung, gingen demnach von jungen männlichen Patienten zwischen 18 und 39 Jahren aus. Die Übergriffe fanden doppelt so oft in bürgerlichen Wohngegenden statt wie in Innenstädten oder sozial schwachen Gebieten. In den allermeisten Fällen standen die Randalierer unter dem Einfluss von Alkohol oder anderen Drogen. In rund einem Fünftel der Fälle hatten die Randalierer Migrationshintergrund. Das deckt sich etwa mit dem Anteil der Migranten an der Bevölkerung in Bayern insgesamt.
Und so scheint es auch in Berlin zu sein. Dort waren wegen der Silvester-Krawalle insgesamt 145 Tatverdächtige festgenommen worden, 100 davon waren Ausländer. Das hatte zu einer Debatte über Integration und Einwanderung geführt. Der Kriminologe Thomas Feltes bezweifelt aber, dass der Anteil an Ausländern überproportional ist. Er sagte der F.A.S.: „In Neukölln beträgt der Migrantenanteil vierzig Prozent, bei jungen Menschen dürfte er noch deutlich höher liegen, ich schätze 60 bis 70 Prozent. Dann relativieren sich die in den Medien und von der Polizei Berlin berichteten Zahlen doch erheblich.“ Es sei belegt, dass Kriminalität mit Alter, Geschlecht und sozialer Benachteiligung zusammenhänge, nicht mit dem Pass.
Wie verhält es sich also mit der Gewalt in der gesamten Gesellschaft? Nimmt sie zu, wie es sich für viele anfühlt? Der Kriminologe Christian Walburg verneint das. Das Gegenteil sei der Fall. In den letzten zwei Jahrzehnten sei die Gewaltkriminalität rückläufig gewesen. Das gelte gerade für Gewalt bei Jugendlichen und Heranwachsenden. Eine Brutalisierung gebe es nicht. „Das ist untersucht worden“, sagt Walburg, aber man habe nicht feststellen können, dass das, was jetzt noch an Gewalt passiere, insgesamt schwerwiegender oder brutaler sei als früher.
Das bedeutet nicht, dass es nicht immer wieder außergewöhnlich gewalttätige Ereignisse geben kann, wie etwa in Berlin zu Silvester. Aber das ist nicht neu. Walburg sagt, es habe „immer schon gelegentlich Jugendkrawalle gegeben, in ganz unterschiedlichen Kontexten, zuweilen sehr plötzlich, aber mit ganz ähnlichen Gewalteskalationsdynamiken aus Gruppen heraus.“ Etwa in früheren Silvesternächten, aber auch rund um Fußballspiele, im Coronasommer 2020 in Stuttgart, bei „Chaostagen“ 1995 in Hannover oder den pogromartigen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992.
Wahrnehmung und Forschung widersprechen sich also. Das gilt auch für die Gewalt gegenüber Polizisten. Das Bundeskriminalamt gibt zwar seit einigen Jahren eine Statistik heraus, aus der hervorzugehen scheint, dass es jedes Jahr schlimmer wird. Sie hat aber zwei entscheidende Mängel: Erstens werden Polizisten auch dann als Opfer gezählt, wenn sie selbst nicht verletzt wurden, zum Beispiel, weil schon der Versuch strafbar ist. Zweitens wird die Zahl der Straftaten nicht ins Verhältnis zu der Zahl der Einsätze gesetzt. Man kann daraus eigentlich nur eines sinnvoll ableiten: Polizisten geben häufiger eine Anzeige auf, weil sie Gewalt erfahren. Was aber Gewalt genau ist, das bestimmt die subjektive Wahrnehmung des Polizisten. In etwa der Hälfte dieser Fälle im Jahr 2021 leisteten Bürger Widerstand. Ein Drittel der Fälle waren tätliche Angriffe auf Polizisten, das kann etwa ein Stoß sein, ein Schubs oder schon eine zum Schlag erhobene Hand. Die Zahl der gefährlichen und schweren Körperverletzungen sank dagegen in den vergangenen Jahren leicht.
Der Kriminologe Rafael Behr, einst selbst Polizist, kam vor über zehn Jahren für die Hamburger Polizei zu dem Schluss, dass „die Gewalt im täglichen Dienst weder quantitativ noch qualitativ“ zunimmt. Er schreibt an anderer Stelle, er glaube den Polizisten, wenn sie sagten, dass ihr Dienst schwerer geworden sei als früher. Aber es sei eben nicht mehr Gewalt, sondern mehr Gewaltwahrnehmung oder Gewaltsensibilität.
Es geht darum, einen Spagat zu denken, die Großstadt Essen macht es vor. Auch hier wurden in der
Silvesternacht Feuerwehrleute und Polizisten mit Böllern angegriffen. Der Sprecher der Feuerwehr sagte der F.A.S., eine besondere Zunahme der Gewalt habe man in den letzten Jahren nicht gesehen. Trotzdem sei die letzte Silvesternacht „eine extreme Entwicklung, die wir so noch nicht erlebt haben“.