Wer sagt, dass ich das nicht tue? Es ist doch aber ganz offensichtlich schon letztes Mal bei dieser Diskussion klar geworden, dass wir einfach unterschiedlich darüber nachdenken. Du betrachtest die Wohlfahrtseffekte für Deutschland als Land, ich interessiere mich mehr für die Wohlfahrtseffekte für die Bevölkerung Deutschlands, Migranten eingeschlossen.
Was ich erst mal frappierend finde ist, dass hier massenhaft Leute (damit meine ich jetzt explizit nicht dich) glauben, mit ihrer Milchmädchen-Ökonomie sagen zu können, dass es in einem Streit, der bei den Development-Ökonomen SEHR lebhaft geführt wird, eine völlig offensichtlich richtige Antwort gibt, die sie erfühlen können. Hier stellvertretend für viele ein Artikel von
Michael Clemens über die Effekte der Aufhebung von Schranken für Einwanderer explizit mit niedrigem Qualifikationsprofil. Es ist alles andere als klar dass die Effekte negativ sind, auch wenn einige hier meinen das erspüren zu können.
Ich bin jetzt dazu gekommen das Paper zu lesen. Es deckt sich größtenteils mit meiner Intuition, dass Freizügigkeit ökonomisch grundsätzlich von Vorteil ist. Ich hatte das afair in der Vergangenheit schon angemerkt, weil es ein blinder Fleck in Bonins fiskalisch basierten Analysen ist. Der Vorteil der letzteren ist, dass man die Effekte wenigstens näherungsweise quantifizieren kann. Ich sehe nicht, wie das unter Einbezug ökonomischer Aspekte geht und wo das Bindeglied zwischen den beiden Betrachtungsweisen ist.
Die ökonomische Betrachtung, die das Paper liefert, berücksichtigt, soweit ich das überblicke, kaum oder gar nicht die enorme Externalität, dass wir in einem Sozialstaat haben, der jedem Einwohner Deutschlands weitgehend bedingungslos einen gewissen Lebensstandard garantiert, der von den Nettozahlern aufgebracht werden muss. Jeder Zuwanderer ist letztlich eine Wette darauf, dass er nicht nur irgendeinen ökonomischen Gewinn darstellt, sondern dass dieser Gewinn groß genug ist, damit er für den substantiellen Versicherungsanspruch gegen die Solidargemeinschaft eine äquivalente Prämie zahlen kann. Und gerade das scheint - laut Bonin - schon für den durchschnittlichen Zuwanderer nicht der Fall zu sein.
Darum steht für mich grundsätzlich weiterhin der Befund, dass wir den Spillover des ökonomischen Gewinns durch Zuwanderung auf die fiskalische Position des Staates entweder nicht gut genug messen können oder er nicht in dem Maße da ist, dass er die Bilanz (gewisser Formen) der Zuwanderung positiv macht.
Man beachte, dass sich die Diskussion eigentlich nicht um den durchschnittlichen Zuwanderer dreht. Die Bilanz "der Zuwanderer" nach Bonin umfasst eine große Menge solcher Zuwanderer, gegen die selbst migrationskonservative Zeitgenossen jenseits des ganz rechten Rands der Gesellschaft wohl kaum etwas einzuwenden haben. Für das Residuum der Gruppe, die in der öffentlichen Diskussion den wesentlichen Anstoß erregt, fällt die Bilanz deutlich schlechter aus.
An dieser Stelle sollte ich nochmal bemerken, dass das Paper für mich keine Gegenposition vertritt: Ich bin und war tatsächlich immer für niedrige Schranken für Migration, bin aber durchaus für hohe Schranken für Asyl. Für mich ist es a priori ein natürliches Recht jedes Meschen sich den Ort seines Lebens und Wirkens aussuchen zu dürfen. Die notwendigen Schranken, die wir diesem Recht auferlegen müssen, sollten sich eng durch Prinzipien der Staatsräson, des Gemeinwohls und höherer Güter wie des Sozialstaatsprinzips begründen, die wir imo unter einer grenzenlosen Zuwanderung nicht alle schützen können.
Ich finde es daher extrem ungerecht, dass wir einerseits weiterhin relativ hohe Hürden für Menschen aufbauen, die hierher kommen, leben und arbeiten wollen, andererseits aber für eine sehr willkürliche Teilmenge davon einen Freifahrtschein ausstellen.
Imo führt das extern zu falschen Anreizen und vermittelt intern der Bevölkerung ein falsches Bild davon, was Zuwanderung für uns ist und sein kann.
Aber: Selbst wenn wir davon ausgehen, dass es bewiesen wäre, dass es schon bewiesen wäre, dass der Effekt nicht positiv ist, wäre die Frage schon zu stellen, wodurch der negative Effekt zustande kommt und wie groß er eigentlich ist. Ich bin dafür, streng nach Einflüssen auf die angestammte Bevölkerung und Einflüsse auf Mittelwerte zu unterscheiden. Klar, wenn hier eine Menge Menschen mit geringem Qualifikationsprofil einwandern, dann wird unser Qualifikationsprofil im Schnitt negativer. Aber ob das bedeutet, dass die Leute mit mittlerem und hohem Qualifikationsprofil deshalb weniger von diesen positiveren Qualifikationsprofilen profitieren können, erscheint mir zumindest völlig unbelegt. Ich frage bei dieser Diskussion eigentlich IMMER nach, wie der Mechanismus sein soll, wie sich Migration negativ auf die Lebensqualität der angestammten Wohnbevölkerung auswirken soll und da wird es dann immer schwammig: Entweder wird von Effekten geredet, die auf der gesellschaftlichen Ebene völlig vernachlässigbar weil sehr selten sind (bspw. Gewaltkriminalität), oder von irgendwelche ominösen kulturellen Effekten (wie Heator es tut) oder es wird halt direkt eine total verquere Metrik angelegt, bspw. ein binnendeutschen Differenzprinzip nach Rawls, nach dem wir immer die Effekte von Migration auf die gesellschaftlich schlechtest gestellten in der angestammten Bevölkerung sehen müssen*. Dass es jetzt wirklich so schlimm ist, wenn der zukünftige Wohlstand Deutschlands (und der wird ja durchaus weiter wachsen, auch wenn man anhand der Rhetorik teilweise annehmen könnte, das Gegenteil sei der Fall) in 30 bis 50 statt um 100% nur um 95% wächst, während der des marginalen Einwanderers aus einem armen Land sich vervielfacht, erschließt sich mir jedenfalls überhaupt nicht. Und selbst das nimmt relativ negative Szenarien an, es gibt durchaus gute
Pilotprojekte mit denen man helfen kann, den Nutzen zu steigern. Was ich letztendlich sehe sind eher irgendwelche diffusen Befindlichkeiten und Ängste bzgl. einem vermeintlichen Niedergang, die es zu jeder Zeit gab und die halt immer auf die Sau projiziert werden, die aktuell durchs Dorf getrieben wird. Im Nachhinein stellt sich dann heraus: Kam alles anders. Exakt denselben Kram konnte man wie gesagt vor 30 Jahren über türkische Einwanderer sagen und heute geht niemand davon aus, dass die uns nennenswert unseren Wohlstand gekostet haben, eben weil aus der Sicht des Jahres 2021 klar ist, dass dem nicht der Fall ist.
Naja, im Grundsatz mache ich die Annahme, dass sich die Leistungen, die der Staat von seiner Bevölkerung erhält sich (wenigstens asymptotisch) äquivalent verhält zu den Leistungen des Staates an seine Bevölkerung. Wenn die Bevölkerung zunimmt und das Inkrement mehr Leistungen erhält, als es durch Prämien zur Verfügung stellt, dann muss der Verlust durch den Rest kompensiert werden. Mir ist bewusst, dass das nicht für alle Güter der Fall ist, weil manche per se frei sind und andere verschwindend geringe marginale Kosten haben. Aber näherungsweise halte ich diese Betrachtung für plausibel und quantitativ wird sie durch Bonins Analyse gestützt.
Wenn die Bilanz schon für Zuwanderer insgesamt negativ ist, dann sollte sie für die Gruppe der Türkischstämmigen nochmal deutlich schlechter aussehen, weil die afaik in den meisten Metriken für Integrationserfolg relativ schlecht abschneiden, insbesondere in den nachfolgenden Generationen. Gelindert wird das natürlich durch die Tatsache, dass die Generation der Einwanderer größtenteils als Arbeitsmigranten für die Industrie kam und nur unwesentlich durch Arbeitslosigkeit betroffen gewesen sein dürfte.
Das ist der primäre Mechanismus, über den Zuwanderung sich negativ auf die Lebensqualität der angestammten Bevölkerung auswirken kann: Sie macht den Sozialstaat teurer oder führt langfristig zu schlechteren Leistungen. Jenachdem, zu welcher Kompensation man politisch neigt, betrifft das dann eher die höheren sozialen Schichten (Nettozahler) oder die unteren (potentielle Leistungsempfänger) stärker.
Sekundäre Mechanismen sind notorisch schwer diskutierbar, weil sie sich schwer oder gar nicht quantifizieren lassen und naturgemäß sehr subjektiv sind. Ob man sie deshalb schon so ganz außer Acht lassen sollte, bezweifle ich. Afaik ist die Einstellung in weiten Teilen der Bevökerung gegenüber Nicht-EU-Zuwanderung eher skeptisch bis negativ und es liegt nahe, dass sich dieser Eindruck verstärkt, wenn man es auf bestimmte Gruppen, insbesondere aus dem islamischen Kuturkreis, zuspitzt. Imo steckt da durchaus mehr hinter als klassische Vorurteile. Ich lebe jetzt seit mehr als 15 Jahren in Berlin und muss gestehen, dass sich mein ehemals naiver Blick mittlerweile differenziert hat. Selbstverständlich ist für mich selbst und quasi jeden, dene ich kenne, die Erfahrung mit Menschen mit Migrationshintergrund stark überwiegend positiv - das sind aber größtenteils gewollte Kontakte innerhalb einer Akademikerbubble.
Aber unter fast allen Gruppen, mit denen ich im Alltag negative Erfahrungen mache, nehmen Zuwanderer eine überwältigende Mehrheit ein. Fast nichts davon ist für sich genommen der Rede wert - ein Großteil dieser Probleme sind imo eher ästhetischer Art. Trotzdem würde ich zumindest für mich konstatieren, dass das signifikant auf die Lebensqualität durchschlägt. Für Familien ist der kritische Punkt häufig überschritten, wenn die Kinder ins Grundschulalter kommen. Da wird man dann gefühlt gezwungen in eine doppelt so teure Wohnung in einem besseren Stadtteil zu ziehen oder löhnt zähneknirschend ein paar hundert Euro pro Monat für eine Privatschule, zu der man mit Auto oder U-Bahn fahren muss - der mittlere Anteil von Grundschulkindern nichtdeutscher Herkunftssprache hier in der Gegend liegt afaik bei über 90%.
Man kann durchaus diskutieren, wie viel dieser Probleme eingebildet, selbst auferlegt oder real und drückend ist, aber einfach wegwischen lässt sich das imo nicht. Ebenso lässt sich imo nicht der offensichtlich signifikante Anteil ignorieren, den Zuwanderung an diesen Problemen hat. Meinem Gefühl nach müsste auf der anderen Seite schon ein überwältigender wirtschaftlicher oder sonstwie gearteter Vorteil stehen, um diesen negativen Effekt zu kompensieren.
Um es auf den Punkt zu bringen: Für meine alltägliche Erfahrung ist es deutlich prägender, welcher Anteil unter den Asozialen, die ich treffe, einen Zuwanderungshintergrund hat, als welcher Anteil unter den Zuwanderern asozial ist, weil ersteres einen (naiven) Rückschluss darauf zulässt, dass ich von deutlich weniger Asozialen umgeben wäre, wenn (eine Teilmenge) der Zuwanderer nicht hier leben würde.
Und btw:
Dazu käme halt, dass die Einwanderer der Zukunft und ihre Kinder fast zwangsläufig ökonomisch attraktivere Voraussetzungen vorfinden, weil Arbeiter jeglichen Qualifikationsniveaus gebraucht werden.
Worin gründet sich diese Hypothese?
Klar ist das alles hoch spekulativ, aber der Eindruck, den ich aus halbwegs plausiblen Prognosen ziehe, ist eher der, dass wir tendentiell am Anfang eines Zeitalters beispielloser Automatisierung stehen und das dazu führen dürfte, dass sich der Arbeitsmarkt deutlich stärker polarisiert: einfache geistige Arbeit kann in Zukunft sehr effizient automatisiert werden. Was bleibt, sind einerseits komplexe und kreative Tätigkeiten, die tendentiell eine sehr hohe Qualifikation erfordern und andererseits ein ganzer Batzen unqualifizierter Arbeit, bei dem Automatisierung bis auf weiteres nicht effizient ist. Ob wir insgesamt eine signifikant steigende Arbeitslosigkeit erleben werden, ist afaik strittig. Ich persönlich neige dazu das zu bejahen, weil zunehmende Spezialisierung imo autoamtisch dazu führt, dass es einen größeren Mismatch zwischen den Berufswünschen und -eignungen der Arbeitnehmer und den erforderlichen Tätigkeiten gibt.
Interessanterweise erleben wir gerade eine Art historisches experimentum crucis: Auf der einen Seite stehen vorwiegende europäische Länder, die ihre demographische Lücke durch relativ viel Zuwanderung mit relativ hohem Anteil Geringqualifizierter schließen; auf der anderen Seite stehen haben wir ein paar asiatischen Länder, die den umgekehrten Weg gehen und sich auf die Qualität des Nachwuchses und die Verheißungen der Automatisierung verlassen.
Meine Wette geht eher dahin, dass sich mit letzterem Modell ein Staat nach meinen Vorstellungen leichter erhalten lässt. Der unschätzbare Vorteil dieser Strategie liegt imo vor allem darin, dass die Asiaten eine formidable Fallback-Option haben: Sie können, wenn es eng wird, sehr viel leichter ihren Arbeitsmarkt selektiv nach außen öffnen und begrenzte Zuwanderung in bestimmte Bereiche zulassen, als wir die Folgen der Armutsmigration zurückdrehen können.
[edit]
Ein Aspekt, den ich weiter oben vergessen hatte, den das Paper afaik gar nicht thematisiert, ist der Unterschied zwischen absolutem Lebensstandard - gemessen am Einkommen - und subjektiver Lebensqualität. Selbst wenn sich für Einwanderer aus der Mittelschicht eines Schwellenlandes das absolute Einkommen vervielfacht: Ein Batzen davon wird durch gesteigerte Lebenshaltungskosten aufgefressen und die relative Position innerhalb der Gesellschaft - die nach allem, was ich weiß, einen deutlichen Einfluss auf die Lebensqualität hat - wird sich in der Regel deutlich verschlechtern.
Die ökonomische Theorie kann das eintüten, indem sie eine rationale Entscheidung unterstellt. Nun wissen wir aber, dass gerade Migrationsentscheidungen beträchtlich durch Hoffnungen und auch falsche Erwartungen beeinflusst sind. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Zuwanderer ihre Perspektive im anvisierten Zielland gehörig überschätzen. Wenigstens dürfte es einem durchschnittlichen Einwanderungsaspiranten aus Afrika relativ schwer fallen eine halbwegs zutreffende Kosten-Nutzen-Analyse dafür aufzustellen, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen.
Daher erfüllen gewisse Beschränkungen der Zuwanderung imo auch den validen Zweck Zuwanderer vor sich selbst zu schützen.
Selbstverständlich gilt das nicht in jedem Fall. Fundamentale Beeinträchtigungen der Lebensqualität im Heimatland (Krieg, Klimakatastrophen usw.) machen eine genaue Kosten-Nutzen-Abwägung überflüssig. Aber afaik ist es ein durchaus etablierter Befund, dass diejenigen, die hierher kommen, mehrheitlich nicht aus den prekärsten Lebensbedingungen entfliehen, sondern, im Gegenteil, relativ zu den lokalen Verhältnissen eher überdurchschnittliche Voraussetzungen und Perspektiven haben.