SZ: Herr Lahm, Sie könnten jetzt beim FC Barcelona spielen, haben aber im Frühjahr 2008 die Offerte ausgeschlagen und beim FC Bayern verlängert. Bereuen Sie die Entscheidung inzwischen?
Philipp Lahm: Bereuen mit Sicherheit nicht, weil ich immer noch der Meinung bin, dass hier bei Bayern etwas entstehen kann. Und warum soll ich gehen, wenn ich glaube, dass ich es hier haben kann, zu Hause, bei meinem Verein, bei dem ich groß geworden bin? Aber man muss die Lage natürlich kritisch analysieren.
SZ: Die Lage ist in der Tat seit dieser Woche kritisch: Es droht das vorzeitige Aus in der Champions League.
Lahm: Wenn man unsere Mannschaft mit anderen Topteams aus der Champions League vergleicht, dann sind diese eben auf sieben, acht Positionen strategisch erstklassig besetzt - und das fehlt uns. Wenn man sich mit Barcelona, mit Chelsea, mit Manchester United messen will - dann braucht man als FC Bayern eine Spielphilosophie. Das muss auch das Ziel des Vereins sein.
SZ: Massiv investiert hat der Verein ja in den vergangenen Jahren durchaus.
Lahm: Aber ich glaube, in der Vergangenheit lief das mit den Transfers nicht immer glücklich. Sicher lag es auch daran, dass wir in den letzten Jahren verschiedene Trainer mit verschiedenen Vorstellungen hatten. Aber man muss auch ganz klar feststellen: Vereine wie Manchester oder Barcelona geben ein System vor - und dann kauft man Personal für dieses System. Man holt gezielt Spieler - und dann steht die Mannschaft.
SZ: Und der FC Bayern?
Lahm: Wir haben zum Beispiel Arjen Robben geholt, weil er ein sehr guter, internationaler Spieler ist. Aber wir haben ihn nicht geholt, weil wir gesagt haben: Okay, wir spielen jetzt künftig im 4-3-3-System. So etwas gibt es bei uns nicht: Dass der Verein etwas vorgibt und alles darauf aufgebaut wird.
SZ: Ihnen fehlt bei Bayern eine Philosophie, eine fußballerische Identität?
Lahm: Ja, denn genau so muss es doch gehen: Man sagt, okay, wir spielen jetzt 4-3-3 in den nächsten Jahren, und dann überlege ich: Welche drei Spieler hole ich dafür im zentralen Mittelfeld? Die zwei offensiven haben wir mit Sicherheit mit Ribéry und Robben, und einen richtigen Stürmer, der vorne drin ist, haben wir auch. Sogar mehrere.
SZ: Woran hakt"s dann?
Lahm: Wir brauchen im Mittelfeld Spieler, die man aus der Abwehr immer anspielen kann. Das muss gar nicht jemand sein, der auch mal einen ausspielt, wie Xavi oder Iniesta beim FC Barcelona. Schauen Sie Chelsea an: Ein Frank Lampard, ein Michael Ballack, die spielen auch nicht wirklich einen aus - aber sie interpretieren so routiniert ihre Position, dass du sie immer anspielen kannst. Ich glaube einfach, unser größtes Problem liegt im Mittelfeld. Man macht uns ja den Vorwurf, dass wir zu viel hinten herum spielen . . .
SZ: . . . was der neue Trainer Louis van Gaal vorgibt, er verlangt Ballkontrolle.
Lahm: Ja, und das ist auch wichtig, aber jetzt müssen wir anfangen, mehr nach vorne spielen. Nur: Wen soll man denn anspielen? Wo ist jemand, der mal was bewegt, der den Ball zur Seite mitnimmt, nach vorne schaut und irgendwie den Ball durchsteckt, dass man nachrücken kann? Das passiert bei uns kaum.
SZ: Das berüchtigte Kreativloch im Zentrum des FC Bayern, das schon seit Jahren klafft.
Lahm: Und dann holt man zum Beispiel Anatoli Timoschtschuk, eine Art zweite Nummer sechs - aber dann spielt man nach Robbens Transfer plötzlich wieder nur mit einer Nummer sechs!
SZ: Demnach wäre der teure Timoschtschuk plötzlich überflüssig.
Lahm: Oder er spielt wirklich auf der Sechs und nicht rechts im Mittelfeld.
SZ: Mit anderen Worten: Die ständigen Ballstaffetten sind auch Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit?
Lahm: Wie gesagt, Ballbesitz ist sehr wichtig. Auch Barcelona hat sehr, sehr viel Ballbesitz - aber sie haben eben auch Spieler, die sagen: ,Okay, jetzt geht"s nach vorne." Das ist das, was uns fehlt. Ich sehe unsere Spiele der letzten Wochen und frage mich: Wer soll das denn machen bei uns? Und jetzt haben wir ja nur über eine Position geredet. In der Bundesliga reicht es vielleicht, wenn du dort gut besetzt bist. Aber international brauchst du eben mindestens acht Spieler, die auf ihrer Position ausgebildet sind, Sicherheit haben und damit konkurrenzfähig sind. Ich sehe diese acht Spieler bei uns nicht, und das liegt nicht an den Spielern, sondern an der fehlenden Philosophie über die letzten Jahre.
SZ: Ein anderes Thema wäre in diesem Zusammengang die zweite Außenverteidiger-Position neben Ihnen, sie ist im Grunde vakant, seitdem sich Willy Sagnol verletzte - 2007.
Lahm: Ja, es kam jetzt Edson Braafheid, Massimo Oddo wurde mal ausgeliehen, Marcell Jansen war kurz da, Christian Lell kam hoch und Andreas Görlitz aus Karlsruhe zurück. Doch es kam seitdem kein Spieler mehr, dem das Vertrauen ausgesprochen wurde oder der seine internationale Klasse bereits unter Beweis gestellt hat.
SZ: Sie spielen zurzeit auch deshalb auf rechts, weil es dort keine hochwertige Alternative gibt. Wollen Sie das wirklich, wie es sich zuletzt anhörte?
Lahm: Rechts oder links, darüber lasse ich mit mir diskutieren - man sollte sich nur mal auch für die nächsten Jahre festlegen, wo ich spielen soll. Ich traue mir zu, auf beiden Seiten den Anforderungen des FC Bayern mehr als zu genügen. Dass man bei 50 Spielen rechts oder links auch mal ein paar schlechte macht, ist ganz normal. Aber ob Philipp Lahm beim FC Bayern links oder rechts spielt, hat nichts mit der momentanen Situation zu tun.
SZ: Woran liegt es Ihrer Ansicht nach, dass die Elf so unrund aufgestellt ist? Gibt es ein Scouting-Problem, liegt es am Trainer, fehlt der Mut? Oder fehlt ein klassischer Sportdirektor, weil Uli Hoeneß diesen Bereich wegen der gewachsenen Aufgaben im wirtschaftlichen Bereich zwangsläufig nicht mehr allein abdecken kann?
Lahm: Nochmal: Der Verein muss sagen, wenn ein Trainer kommt: So spielen wir. Bei Barcelona kommt doch keiner mehr auf die Idee, dass sie 4-4-2 spielen. Der FC Barcelona ist 4-3-3 - das ist einfach so! Wir dagegen haben jetzt viele Spieler, für die es in einem 4-3-3, das unser Trainer gerne spielen möchte, gar keine Position mehr gibt. Zum Beispiel unsere Stürmer. Wir haben wirklich gute Stürmer - aber beim 4-3-3 sitzen zwei, drei immer auf der Bank. Wenn ich einen Mario Gomez kaufe, muss ich sagen: Okay, dann spielen wir mit zwei Spitzen. Und wir haben ja auch in der gesamten Vorbereitung nur 4-4-2 gespielt. Und dann kommt plötzlich Robben, ein toller Spieler, der zu uns passt - und der am liebsten im 4-3-3 spielt.
SZ: Fazit: Der FC Bayern muss anfangen, eine Mannschaft zu entwickeln?
Lahm: So ist es, das ist meine Meinung, ganz klar. Man darf Spieler nicht einfach kaufen, weil sie gut sind . . .
SZ: . . . oder weil sie mal zwei Tore gegen den FC Bayern schossen, eine beliebte Münchner Strategie.
Lahm: Genau, und nochmal das Beispiel FC Barcelona: Die hätten neben Ibrahimovic den Eto"o ja auch behalten können. Haben sie aber nicht, weil sie genau wussten: Bei uns spielen vorne Henry und Ibrahimovic, und ein Dritter von diesem Kaliber sorgt nur für Ärger, wenn einer immer auf der Bank sitzt.
SZ: Es gibt ja im Verein inzwischen einen neuen Sportdirektor, Christian Nerlinger, der demnächst Manager Hoeneß beerben soll. Was bedeutet dieser Machtwechsel - Hoeneß soll an Stelle von Franz Beckenbauer Präsident des Vereins werden - für den FC Bayern?
Lahm: Ich bin überzeugt, dass Christian ein guter Mann ist, der die Situation richtig einschätzt. Er wächst mit dieser Aufgabe, und er kann die Philosophie vorgeben. Und ich glaube, jetzt, mit diesem Trainer, wäre das ein guter Zeitpunkt, sich grundsätzlich auf eine neue Vorgehensweise festzulegen. Die Spieler sind sich bei Christian Nerlinger relativ einig, wir haben viel mit ihm geredet. Wenn er wirklich diese klassische Sportdirektorenstelle ausfüllen würde, wäre das gut. Die Frage wird sein, wie seine Position vom Vorstand gesehen wird.
SZ: Schon jetzt muss sich der Vorstand mit Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß positionieren - wegen des drohenden Aus in der Champions League steht der neue Trainer bereits heftig in der Kritik. Ist Louis van Gaal angesichts der beschriebenen Strukturprobleme überhaupt verantwortlich für die Krise?
Lahm: Ich glaube schon, dass wir auch mit diesem Kader besser spielen müssen. Deshalb liegt es in erster Linie an den Spielern, um das hier mal klar zu sagen. Der Trainer mag zwei kritisierte Transfers getätigt haben, aber ansonsten hat er schon einen guten Blick dafür, was fehlt. Seine Experimente und die unterschiedlichen Aufstellungen zeigen doch, dass auch er noch auf der Suche ist. Mir gefällt aber, wie viel Wert er auf Taktik legt. Er ist einfach ein Lehrer, den ich so noch nicht hatte. Ich glaube schon, dass wir jetzt den Trainer haben, der den Bau einer Mannschaft hinbekommen kann.
SZ: Es heißt, er verunsichere die Spieler mit seiner rauen Art.
Lahm: Er ist sicher ein ganz anderer Trainer als diejenigen, die bisher hier waren. Er legt sehr viel Wert auf Disziplin, auf Genauigkeit, und er ist sicher auch manchmal schwierig im Umgang für viele Spieler. Aber er ist bestimmt kein Unmensch, er verlangt keine Undinge von uns. Es braucht noch Zeit, aber ich bin der Überzeugung, dass er ein guter Trainer ist. Sicher, er ist eigen, aber er ist auch ein Mann, der herzlich ist - auch wenn man das vielleicht nicht so mitkriegt. Wir führen ja einige Gespräche, und ich mag ihn als Typ. Aber ich weiß auch, dass viele mit dieser Art nicht zurechtkommen.
SZ: Haben die Spieler Angst vor ihm?
Lahm: Viele haben noch so eine Mischung aus Respekt und Angst. Und auch ich finde, dass ein Trainer nicht mit jedem Spieler gleich umgehen sollte, doch auch das lernt er gerade. Aber wir machen jetzt zum Beispiel nach jedem Spiel eine Analyse: Was haben wir gut gemacht, was nicht? Manche Spieler kommen damit nicht zurecht, dass sie vor der ganzen Mannschaft kritisiert werden: Warum spielst du diesen Pass? Warum hast du jene Entscheidung getroffen? Dabei finde ich das gut und ganz normal.
SZ: Solche Analysen müssten Sie doch noch aus der letzten Saison kennen, von Jürgen Klinsmann.
Lahm: Nein, da gab es so etwas nicht, da wurde nicht mal drüber gesprochen. Deswegen ist das jetzt auch eine große Umstellung. Und viele sagen sich vielleicht auch: Okay, lieber spiele ich jetzt einen Rückpass, bevor ich morgen wieder vor der ganzen Mannschaft für einen Fehlpass kritisiert werde. Was wir jetzt haben, ist das absolute Gegenteil von dem, was wir letztes Jahr hatten. Aber wenn ich selbst kritisiert werde und im Video sehe: Die Flanke hätte früher oder weiter nach vorne geschlagen werden müssen - dann muss ich sagen, ja, der Trainer hat recht! Der Trainer, das sagt er uns auch immer, kritisiert doch nur, damit es der Spieler besser machen kann. Und wir wollen doch besser werden! Alles muss besser werden.
SZ: Haben Sie die Sorge, dass der Trainer, für den Sie sich hier offensiv aussprechen, nach einer Niederlage am Samstag gegen Schalke keine Zeit mehr erhält?
Lahm: Klar ist, dass man bei Bayern Erfolg haben muss, das weiß auch der Trainer. Und in der Champions League schaut"s jetzt eng aus, im Pokal sind wir im Viertelfinale, und in der Liga sind die nächsten Spiele sicher mitentscheidend, ob wir vielleicht doch bald ganz vorne stehen oder eben nicht. Aber ich denke, dass wir trotz der bisherigen Ergebnisse auf dem richtigen Weg sind mit diesem Trainer. Im Vergleich zum letzten Jahr habe ich Hoffnung, weil ich Struktur erkennen kann. Man sieht eine Handschrift. Trotzdem muss sich natürlich einiges ändern.