Der Andrang auf Lampedusa hat das jüngste Kartenhaus der deutschen Migrationspolitik fast schon wieder zum Einsturz gebracht. Versprochen worden war eine europäische Lösung, die alsbald alles besser machen werde. Davon ist nun nicht mehr viel zu sehen, auch wenn der geplante europäische Migrationspakt noch auf dem Papier steht.
Für Deutschland bedeutet das nicht nur, dass die Stimmung „Jetzt reicht es aber!“ um sich greift. Das Parteiensystem – das sieht Markus Söder nicht nur wegen der Bayern-Wahl sehr klar – erodiert weiter. Die AfD surft bequem auf dieser Rutschpartie, und die Aussichten, die Versäumnisse der Etablierten ausnutzen zu können, sind so gut, dass sich demnächst eine neue linkspopulistische Partei bilden könnte.
Dennoch findet in Deutschland nicht ein inhaltlicher Wettbewerb, sondern seit Jahren ein moralischer statt. Dass das ein falscher Weg war und ist, wird unter anderem daran deutlich, dass heute immerhin Lösungen akzeptiert werden, für die man vor wenigen Jahren noch als „Salonfaschist“ beschimpft wurde.
Herumdoktern an Symptomen
Dennoch besteht Migrationspolitik in Deutschland noch immer im Herumdoktern an Symptomen. Ob es der Streit um Grenzkontrollen ist, die wiederkehrende Ankündigung konsequenter Abschiebungen oder die jüngste atemberaubende Einsicht der Bundesinnenministerin, dass Schleuser kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben dürften: Migration ist ein geradezu heiliger Bezirk, dem sich Politiker nur in Demutshaltung nähern.
Nach zehn Jahren verhinderter und verschleppter Vorschläge, das Topthema der Bevölkerung angemessen in Angriff zu nehmen, ist aber wenigstens klar: Deutschland kann sehr wohl die Aufnahme illegaler Migranten drastisch reduzieren (ob mit oder ohne Obergrenze) und kann sehr wohl in der EU auf robusten Maßnahmen bestehen. Was vor Jahren für unmöglich erklärt wurde, ist möglich, stößt allerdings immer noch in Bund und Ländern auf Widerstand, der nicht rechtlichen oder politischen, sondern Fetischcharakter hat.
Währenddessen hat sich das Protestpotential gegen den migrationspolitischen Schlafwandel bis weit in das bürgerliche Milieu hinein vergrößert. Auch dagegen wird vornehmlich moralisch, nicht politisch argumentiert. Erst als die Stärke der AfD ein gewisses Maß überschritten hatte, keimte die Einsicht im linken Philistertum, es könne sich durchaus nicht nur um Nazis handeln, die in der AfD die einzige wirksame Opposition im Land sehen. Aber das hinderte die Kräfte links der CDU/CSU nicht, sich auch hier weiter an den Symptomen abzuarbeiten, anstatt zum Kern der Sache vorzudringen.
Destruktiv ist auch das Nichtstun
So kommt es, dass tagelang Empörung über eine Abstimmung im Erfurter Landtag über die Senkung der Grunderwerbsteuer geschürt wird, während zum Thema, das die AfD am Leben hält, nicht mehr als panischer Wahlkampf aufgeführt wird. Es ist richtig, wenn Söder von „destruktiver Demokratie“ spricht, die Populisten betreiben. Destruktiv ist es allerdings auch, darauf gar nicht oder selbstgerecht zu reagieren. Waren es nicht auch CDU und CSU, die bis vor einem halben Jahr noch die Sprachregelung hatten: Ach, das Thema Flüchtlinge und Migration sollte man nicht allzu sehr hochjazzen?
Nun sind alle maßgeblichen Parteien wieder Getriebene, so sehr, dass die Hoffnung um sich greift, eine Wagenknecht-Partei könne dem Höcke-Laden das Wasser abgraben. Auch das ist ein intellektuelles Ausweichmanöver, um politischer Initiative aus dem Wege zu gehen.
Friedrich Merz hat den Vorschlag des Bundeskanzlers für einen „Deutschlandpakt“ aufgegriffen und ihn auf die Migrationspolitik gemünzt. Das war nicht unbedingt die Absicht von Scholz, aber der Vorstoß von Merz zielt in die richtige Richtung. Denn eine Umkehr deutscher Migrationspolitik, die in der EU etliche Staaten vorgemacht haben und begrüßen würden, wird nur möglich sein, wenn sich im Bundestag eine breite Mehrheit bildet, unter Umständen auch, um das Grundgesetz zu ändern. Merz ergreift die Gelegenheit, um ins Werk setzen zu können, was sein Parlamentarischer Geschäftsführer Thorsten Frei vor Kurzem vorgeschlagen hat – eine Änderung des Asylrechts, die auch europarechtlich flankiert wird.
Diejenigen, die strikt dagegen sind, werden sich entscheiden müssen, was ihnen wichtiger ist: ihre Prinzipien, die nicht verwechselt werden sollten mit den Perspektiven der Mütter und Väter des Grundgesetzes, oder die Stabilität einer Demokratie, die für jene Generation Anfang und Ende ihrer Überlegungen war.
Nicht nur die AfD wird weiter wachsen, wenn die illegale Migration ein blinder Fleck deutscher Politik bleibt. Der populistische Ansatz, aus moralisch überhöhter Politik, die sich als Missionsarbeit versteht (neues Betätigungsfeld: die Klimapolitik), Honig zu saugen, wird um sich greifen. Nicht die Einwanderung, sondern diese Degeneration wird dazu führen, dass Deutschland nicht mehr wiederzuerkennen ist.