Ich finde auch, dass es gut wäre, besser zu begründen, warum Deutschland extreme Maßnahmen ergreifen muss.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht wie du darauf kommst, dass Deutschland "extreme Maßnahmen" ergreifen würde. Deutschland ist in der EU beim CO2-Ausstoß in der Spitzengruppe und beim Ausbau der erneuerbaren Energien unter dem Durchschnitt. Es ist auch nicht etwa so, dass Deutsche pro Kopf besonders viel Energie verbrauchen würden. Die einzige "extreme Maßnahme", die in Deutschland wirklich passiert ist, war die Deindustrialisierung des Ostens*, aber die war ja keine gewählte Policy sondern schlichte ökonomische Notwendigkeit, weil die DDR-Industrie in einem vereinigten Land nicht mehr konkurrenzfähig war. Das Ziel der EU ist Klimaneutralität bis 2050, da liegt Deutschland mit 2045 auch nicht deutlich drunter (und, wenn man die eigentlich interessante Frage betrachtet, nämlich die Fläche unter der Kurve, vermutlich eher über den Zielen für andere Länder). Zwei der drei großen Reformen, um weniger CO2 auszustoßen, wurden nicht etwa auf Bundesebene beschlossen, sondern für die EU, nämlich Verbrennermotoren und Gebäudesanierung. Bei Verbrennern reden wir von einem Zulassungsverbot für Neuwagen mehr als 10 Jahre in der Zukunft und die Gebäuderichtlinien sind noch nicht mal fertig.
Die einzige größere Reform, die tatsächlich auf Bundesebene stattfindet, ist das Gebäudeenergiegesetz und da hat die Berichterstattung über das Gesetz so ziemlich jeden quantitativen Bezug verloren. Wir reden hier von einem Gesetz, dass nach so ziemlich jeder vernünftigen Rechnung auf Dauer den Besitzern der betroffenen Immobilien sogar noch Geld sparen wird. Das Wirtschaftsministerium veranschlagt neun Milliarden Erfüllungskosten pro Jahr für Bürger (bis 2028, danach fünf Milliarden pro Jahr) und etwa 2,6 Milliarden pro Jahr (sowohl bis 2028 als auch danach) für die Wirtschaft. Selbst wenn wir mal nur von dem Zeitrahmen bis 2028 ausgehen und damit rechnen, dass der Aufwand um 50% höher liegt, was unrealistisch hoch ist, wären das 17,75 Milliarden Euro im Jahr. Alleine mit dem Verzicht auf den Inflationsausgleich bei der Einkommenssteuer würde der Staat genug Mehreinnahmen generieren, um jeden seine Wärmepumpe zu 100% bezahlen zu können (nicht dass das wünschenswert wäre). So zu tun als wäre das irgendwie eine extreme Belastung für die deutsche Volkswirtschaft ist einfach VÖLLIGER Humbug.
*und, um dem Einwand gleich vorzugreifen: Nein, der Atomausstieg ist in dem Sinn keine extreme Maßnahme, weil er nicht die baseline einbezieht. Deutschland hatte (pro Kopf natürlich) selbst zur Hochzeit der deutschen Atomindustrie von den späten 1980ern bis Mitte der 00er-Jahre einen moderaten Energieverbrauch aus Atom (übrigens wie alle größeren Länder außer Frankreich), einfach weil es für seine Größe eine moderate Zahl an AKW hatte. Die einzigen Länder außer Frankreich, die dauerhaft deutlich mehr als 10% ihrer Primärenergie aus Atomkraft decken konnten, sind kleine Länder wie Schweden, die Schweiz, Belgien, Finnland und einige osteuropäische Länder [in denen allerdings auch meistens der Energieverbrauch niedriger ist im Vergleich zu Westeuropa]).
Imo braucht man gute Antworten für Fragen & Zweifel wie:
- "Die 1,5-2% machen doch nichts aus. Lass' uns unsere Resourcen lieber einsetzen, um uns selbst vor dem Klimwandel zu schützen."
- "Können wir mit den Milliarden, die wir investieren, nicht im Ausland mehr Co2-Ersparnis erreichen?"
- "Warum schalten wir nicht die Atomkraftwerke wieder an, wenn der Klimawandel die größte Gefahr ist & absolute Priorirität genießen sollte?"
- "Was können wir außenpolitisch tun, damit andere Länder mehr für Klimaschutz tun?"
Argumente wie "Deutschland sollte Role Model sein" sind dabei ja OK, aber du muss mehr Fleisch an den Argumentations-Knochen.
Das sind imho alles Argumente, die mit dem realen Diskurs in Deutschland ziemlich wenig zu tun haben. 1) wird so wie du es formuliert hast politisch extrem selten vorgetragen und ist meiner Einschätzung nach auch eher die neueste Argumentationslinie von Skeptikern (mir fällt eigentlich nur Bojanowski ein, der sowas in einer halbwegs ernstzunehmenden Zeitung als Linie vertreten würde) als ein ernstzunehmendes Argument. 2) ist eher ein interessantes Denkexperiment, das aber quantitativ ebenfalls niemand ernsthaft in Erwägung zieht. 3) ist, um mal ganz ehrlich zu sein, wohl eher dein persönliches hobby horse und im politischen Diskurs belanglos. Und 4) ist etwas, was noch ziemlich in den Kinderschuhen steckt und meines Wissens auch nicht alternativ, sondern komplementär zum deutschen respektive europäischen Klimaschutz argumentiert wird. Im Einzelnen
1. Die genauen Kosten für ein weniger betroffenes Land wie Deutschland sind auf die lange Sicht natürlich schwer einzuschätzen, weil da zu viele Parameter im Spiel sind, aber alleine aus Sicht der Internationalen Beziehungen ist klar, dass das verrückt wäre. Deutschland existiert ja nicht in einer Bubble: Warum sollten die anderen Staaten in Europa, die sich mühsam auf Reduktionen verständigt haben und selbst diese Anstrengungen unternehmen, ausgerechnet dem Land mit dem größten Handelsüberschuss und den höchsten CO2-Emissionen in Europa durchgehen lassen, dass es unilateral Trittbrett fährt? Damit würde man sich innerhalb der EU instant zu einem Aussätzigen machen. Das Argument "Deutschland sollte role model sein" nervt mich zwar, weil es praktisch so gut wie keine Evidenz dafür gibt, dass wirtschaftliche Entscheidungen in anderen Ländern nach solchen Mustern getroffen werden, aber zu glauben Deutschland existiert international völlig im luftleeren Raum schießt noch deutlich extremer auf der anderen Seite über. Der Konsens bzgl. Klimaschutz ist zwar international nicht so stark wie er sein sollte, aber für Deutschland als Nation zählt auch nicht die Welt, sondern die eigenen Partner. Mit so einer Einstellung kann man auf Verständnis bei den wichtigen Partnern maximal noch bei den US-Republikanern hoffen. Und auch Länder wie China und Indien, wo absehbar ein größerer Teil der Musik spielt und die viel mehr vom Klimawandel betroffen sein werden würden darauf wohl nicht sehr wohlwollend schauen.
2. In der ökonomischen Theorie ergibt sowas Sinn, aber es gibt keinen Grund zu glauben dass das in der echten Welt funktionieren würde. Es fehlt an so ziemlich allem: Politischer Wille (klappt ja schon bei slam dunks wie dem Schutz des Regenwalds kaum) auf Geberseite, quantitativ ausreichend große CO2-Budgets auf Nehmerseite, Überprüfbarkeit, Zeitrahmen. Man muss ja immer im Gedächtnis behalten, dass es sich dabei selbst im besten Fall nur um eine Umsortierung der Einsparungen handelt: Weil die ganze Welt CO2-neutral werden muss hieße das bloß, die eigenen Emissionseinsparungen ein bisschen nach hinten zu verschieben, nicht auf sie zu verzichten. Alles andere würde bedeuten, dass man auf irgendwelche Quantensprünge bei CCS hofft, die den Preis extrem stark nach unten treiben werden.
3. Sorry, aber diese Frage hast du selbst schon zig mal aufgebracht und sie wurde dir mittlerweile mehr als zur Genüge beantwortet: Weil sie quantitativ keinen nennenswerten Unterschied machen. Das hier jetzt nochmal als "darauf müssen bessere Antworten kommen"-Frage einzuwerfen ist imho extrem bad faith, weil niemand in Deutschland das vorschlägt. Selbst Union und FDP reden davon, drei Kraftwerke ein paar Jahre länger laufen zu lassen. Niemand (zumindest niemand, der im politischen Diskurs eine nennenswerte Stimme ist) redet davon, dass Atomkraftwerke in Deutschland noch einen nennenswerten Beitrag zur zukünftigen Energieversorgung leisten sollen und es gibt auch keine nennenswerte Nachfrage danach in der Bevölkerung.
4. Ist eine interessante und wichtige Frage, aber effektiv glaube ich nicht, dass sie eine nennenswerte Rolle spielen wird (und sie steht auch wie gesagt nicht im Gegensatz zu eigenen Anstrengungen). 50% der Emissionen kommen alleine von China, den USA und Indien. Diese Länder gegen ihren Willen zu Einsparungen zu zwingen ist schlicht wenig realistisch, aber zumindest bei China und den USA sieht man ja schon deutliche Anstrengungen. Indien ist in seiner Entwicklung noch nicht so weit, dass das eine primäre Erwägung ist, allerdings ist Indien auch von allen großen Ländern mit am meisten vom Klimawandel betroffen. Man kann sich letztendlich Gedanken über Klimaclubs etc. machen und ich finde das alles auch gut und richtig, aber das ersetzt weder eigene Anstrengungen noch wird das einen entscheidenden Unterschied machen.