Es gibt Geschichten, die man einfach erzählen muss, selbst wenn man selber darin vorkommt. Zum Beispiel diese: Samstagnachmittag auf dem
taz.lab. Unter dem Titel „Meine Damen und Herren, liebe N-Wörter und Innen“
diskutieren die Kolumnistin und Publizistin
Mely Kiyak, der
Titanic-Chefredakteur
Leo Fischer und die Autorin und Aktivistin
Sharon Otoo über Diskriminierung, Ästhetik und Sprache. Alle auf dem Podium wissen um den
Zusammenhang von Sprache und Herrschaft, niemand bestreitet das Fortleben von Rassismus. Dennoch kommt es kurz vor Schluss zum
Eklat.
Gut zwanzig Leute versuchen zu verhindern, dass der Moderator (ich) eine Passage aus einem historischen Dokument vorträgt. Die Gruppe beginnt einen Tumult, brüllt und wird von einem die Contenance nicht mehr ganz wahrenden Moderator (auch ich) niedergebrüllt („Geht bügeln!“). Schließlich verlässt die Gruppe den Raum. Sharon Otoo, mit der zuvor abgesprochen war, dass das inkriminierte Wort in Zitaten verwendet werden würde, geht ebenfalls.
Bei dem Text, mit dem der Moderator (wieder ich) den Ärger der vornehmlich studentischen Aktivisten auf sich zieht, handelt es sich um die berühmte
Rede von Martin Luther King aus dem Jahr 1963: „But one hundred years later the Negro still is not free.“ In der
Übersetzung der amerikanischen Botschaft: „Aber einhundert Jahre später ist der Neger immer noch nicht frei.“
Noch mal: Antirassistische Aktivisten wollen verhindern, dass aus einer Rede, dass aus
der Rede von Martin Luther King zitiert wird. Sie kreischen den Moderator (immer mich) an: „Sag das Wort nicht! Sag das Wort nicht!“
Schon zuvor halten sich einige dieser Aktivisten krampfhaft die Ohren zu, als der Moderator (also ich) aus einem saudummen Text von
Adorno vorliest sowie die umstrittene Passage aus Otfried Preußlers
Kinderbuch „Die kleine Hexe“, wobei das Wort „Negerlein“ fällt. Es ist dies ein zwangsneurotisches Verhalten, das man weniger bei aufgeklärten Menschen, Intellektuellen gar, vermuten würde und das an ganz andere Leute erinnert: An katholische
Nonnen, die versehentlich auf
Youporn gelandet sind („Weiche, Satan!“). Oder an
Hinterwäldler in Pakistan, die mit Schaum im Bart und Schuhen aus Autoreifen an den Füßen gegen Karikaturen protestieren („Death to Amerikka!“).
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