Es ist schon ein wenig eine Ironie der Geschichte, das ausgerechnet die Briten, die seinerzeit mit ihrem Gegenentwurf zur EWG grandios gescheitert sind und dann mehr als eine Dekade vergeblich versucht haben doch noch Mitglied zu werden, gerade und insbesondere, um ihren schwindenden politischen Einfluss in einer postimperialen Welt zu konsolidieren, jetzt die ersten sind die mit der Begründung man könne ja ohne die EU und auf sich selbst gestellt sowohl wirtschaftlich als auch politisch, in einer noch globalisierteren Welt mit deutlich stärkeren Rivalen als seinerzeit, viel mehr erreichen als zusammen mit der EU.
Schuld an der ganzen Misere sind natürlich einzig und alleine Cameron und seine Tories.
Cameron, der 2013 in einer Labour Stärkephase vollmundig das Referendum versprochen hat um sowohl den rechten Rand seiner Partei hinter sich zu vereinen als auch die Abwanderung von Wählern zu UKIP zu verhindern, nutzt dann nach erfolgreicher Wahl die Drohung mit dem Referendum um der EU eine weitere UK Extrawurst aus den Rippen zu leiern und nachdem er dann festgestellt hat, dass es so aussieht als könnte der Exit tatsächlich trotzdem stattfinden einen neuen Weltrekord in Geschwindigkeitszurückrudern aufgestellt hat.
Seine Brexit Tory Konkurrenten, Johnson, Gove und Co. die wenn man sich deren Rhetorik vor und nach dem Referendum anschaut alle ganz offensichtlich selbst nicht einmal im entferntesten damit gerechnet haben, dass der Brexit tatsächlich durchgeht und in den 48 stunden danach Cameron beim rückwärtsrudern mit doppelter Geschwindigkeit überholt haben, wollten da zweifelsohne den Brexit nutzen um sich zu profilieren um anschließend die starke Position in einen parteiinternen Machtkampf vor den nächsten Wahlen für sich zu entscheiden, selbstverständlich ohne tatsächlich aus der EU aussteigen zu müssen die als Sündenbock für die Wähler sowieso immer gern gesehen war.
Cameron hat es sich jetzt allerdings nicht nehmen lassen den prominenten Brexitern und Anwärtern auf den Thron in seiner Partei kräftig in die Suppe zu pissen. Durch die Weigerung den Exit selbst zu triggern bleiben die ganzen Konsequenzen dieser Scheiße jetzt nämlich genau an den Leuten hängen die den Menschen im Land vollkommen utopische Dinge versprochen haben: Exit und Neuverträge mit der EU, Common Market Access ohne Freizügigkeit, Beitragszahlungen etc., bessere Handelsverträge mit Drittländern, mehr Jobs, höhere Löhne, weniger Immigranten, weniger Steuern, all better, all better, all better, "wenn die Regierung nach dem Exit nur die richtigen Entscheidungen trifft". Achja, und das ganze wird natürlich alles bis 2020 erledigt, geregelt und überstanden sein.
Die müssen den Brexit selber triggern und alle Konsequenzen tragen. Die MP Position ist für diese Leute jetzt politischer Selbstmord. Gove redet offen von einer Art Norwegen-Deal für UK, "nur anders". Johnson weaselt sich Stück für Stück aus seinen vollmundigen Versprechungen raus während er simultan versucht trotzdem alles noch so darzustellen als könnte das UK der EU die Bedingungen diktieren.
Cameron und seine Tories haben zuerst aus parteipolitischem Kalkül und später wegen einem Parteiinternen Machtkampf das gesamte Königreich der Lächerlichkeit preisgegeben und jetzt sind alle zu feige die Verantwortung zu übernehmen oder wenigstens zu ihren pre-referendum Worten zu stehen.
Eine feigere Affenbande kann man sich kaum vorstellen. Mit solchen Leuten an der Spitze kann sich das UK wirklich auf die tolle Zeit nach der EU freuen.
Am ärgerlichsten ist das ganze selbstverständlich für die Wähler aus den ärmeren Schichten die vermutlich tatsächlich einige stichhaltige Anliegen haben und den Brexit fälschlicherweise als eine Abstimmung für eine bessere Zukunft für sich selbst verstanden haben anstatt für den innerparteilichen Pissingcontest der er tatsächlich war.
Ich meine da haben doch tatsächlich die Regionen mit Industrien die am aller meisten in andere EU Länder exportieren mit starker Mehrheit für einen Austritt gestimmt und erhoffen sich davon jetzt eine Verbesserung ihrer Situation. Das ganze dann noch unter einer weiter nach rechts gerückten Tory Regierung in einer wirtschaftlichen Stagnations- oder sogar Rezessionsphase... wo da historisch gesehen zuerst der Rotstift angesetzt wird sollte allgemein bekannt sein.
Da kann mir doch keiner erzählen, dass da auch nur ansatzweise eine Mehrheit der Leute - egal für welche Seite sie jetzt gestimmt haben - eine informierte Entscheidung gefällt haben.
Wie man eine solche komplexe und weitreichende Situation in einem Ja/Nein Referendum von der Tagesstimmung der Wählerschaft abhängig machen kann bleibt mir schleierhaft.
Ich meine ernsthaft... Wenn ich ein Medizinisches Problem habe, gehe ich nicht zur Wurstfachverkäuferin und wenn ich ein geiles Steak haben will gehe ich nicht zum Steuerberater.
Auch wenn das der aktuell so beliebten "Die da oben!!!" Narration widerspricht so sind nunmal was politische fragen von großer Tragweite angeht überraschender weise idr. Politiker (und deren Berater) die Experten für die Entscheidungsfindung.
Das heißt nicht, dass jeder Politker super gut über jedes einzige Thema informiert ist aber alleine schon aufgrund der Strukturen in einer repräsentativen Demokratie mit Expertengremien, Ausschüssen, Beratern etc. etc. wird da statistisch gesehen mit Sicherheit eine deutlich fundiertere Entscheidung getroffen werden als wenn man einfach random Leute von der Straße befragt. Weiß garnicht wie man da tatsächlich anderer Meinung sein kann. Ein demokratisch legitimiertes Expertengremium ist einer vom Bauchgefühl abhängigen Volksbefragung jederzeit vorzuziehen.
Die Wirtschaftlichen folgen des ganzen sind ja an sich nur die Spitze des Eisbergs.
Die Britischen Gerichten haben seit über 40 Jahren die eigenen Gesetze auf Anweisung des Parlamentes zugunsten von EU Richtlinien ausgelegt. Sollte also ein existierendes Gesetz EU Richtlinien widersprechen wurde das Gesetz so interpretiert, dass es den Richtlinien entspricht. Wenn diese Richtlinien jetzt wegfallen bzw. die Britischen Gerichte nicht mehr an diese Auslegung gebunden sind könnte sich quasi über Nacht die Rechtsprechung auf unzähligen gebieten vollkommen ändern.
Sollte es durch die Neuauslegung von alten Gesetzen dann zu Diskrepanzen mit alten Präzedenzfällen kommen muss sich wohl auch dann jedes mal das Oberste Gericht damit auseinandersetzen und eine finale Entscheidung treffen.
Ich bin jetzt alles andere als ein Experte auf dem Gebiet aber so habe ich das zumindest aus diversen Artikeln über das Thema raus gelesen. Vielleicht kann ja einer der Juristen hier der sich besser auskennt was genaueres drüber sagen.
Neben dem neuerlichem Schottischen Unabhängigkeitsbestrebens ist die Nord Irland frage doch ein wenig in den Hintergrund getreten obwohl das vermutlich die explosivere Situation ist. Wiedervereinigung mit Irland wird's imo nicht geben. Nord Irland ist dann aber der einzige teil des UK der tatsächlich eine Landesgrenze mit der EU hat. Das bedeutet natürlich Grenzkontrollen. Nutzt ja nichts was von Einwanderungskontrolle zu schwafeln wenn man einfach locker flockig von Irland über die grenze spazieren kann (wenn's denn soweit kommt). Auch dank der EU Freizügigkeit hat sich die Grenzsituation dort inzwischen aber so stark gewandelt, dass der Grenzstreifen quasi komplett durchmischt ist mit Nord Iren und Iren die leben wo sie lustig sind und wo's gerade am geschicktesten ist. Eine dicke Grenze mit Kontrollen ist da historisch gesehen extrem ungünstig und würde auch der positiven Entwicklung in dem Bereich komplett zuwider laufen. Teile des Karfreitagsabkommens basieren wohl auch auf EU recht, was damit dann passiert ist auch noch nicht so ganz klar.
Das ganze ist auf jeden Fall ein einziger großer Clusterfuck, keiner kann die Folgen so richtig abschätzen und die Leute die am stärksten für den Austritt geworben haben könnten kaum schneller zurück rudern. Um so mehr ich mir das Rumgedruckse von diesen Leuten anschaue desto eher denke ich das es letztendlich doch nicht zum Brexit kommen wird oder, dass sie sang und klanglos einen Norwegen Deal akzeptieren und das der Wählerschaft dann irgendwie noch als Erfolg verkaufen wollen.