Was heißt denn hier extrem?
Die CDU hat auf der konservativen Seite eine ganze Bandbreite an Themen nicht mehr oder anders besetzt. Fast alles wofür die CDU Ende der 90er stand, hat sich geändert (z.B. Wehrpflicht, Atomkraft, Anti-Mindestlohn, keine EU-Haftung, Begrenzung der Zuwanderung, kein Mindestlohn).
Diese Positionen die zum normalen politischen Spektrum gehören, werden nun zum Teil von der AfD besetzt, sind aber keine Extrempositionen.
Inhaltlich bin ich sonst aber ganz bei Dir.
Mal ehrlich, bei 80% dieser Forderungen sind, realistisch betrachtet, Märchen, die mit "politics" etwas zu tun haben, aber so gut wie nichts mit Policy. Das ist so ein "talking point", der, umso näher man ihn betrachet, umso unsinniger wird:
- Konservatismus ändert sich immer und "Ende der 90er" ist von Anfang an ein fragwürdiges Startdatum. Auch wenn das für die meisten hier (mich eingeschlossen) eher Zeitgeschichte ist, aber die Union war Ende der 1990er für ziemlich jeden ersichtlich am Ende eines Zyklus. Werte ändern sich nun mal und dass man nicht ewig mit den Werten der Kohl-Generation (zum Zeitpunkt der Ablösung alle zwischen Ende 50 und Ende 60) würde regieren können, war damals klar. Es ist für eine Partei wie die Union schon relativ schwer, NICHT das stärkste Wahlergebnis zu haben, aber 1998 und 2002 ist es zwei mal passiert. Ich will mit keinem Wort behaupten, dass die wirtschaftliche Situation dabei nicht eine größere Rolle spielte, aber es war eben auch klar, dass "Ende der 90er" dauerhaft nicht mehr tragfähig war.
- Die Union von "Ende der 90er" war selbst keineswegs die Union von 1976 oder 1980. Ich habe mal kurz durch die Wahlprogramme von damals geblättert und erstaunlich viele Themen wären 20 Jahre später (und sind heute) noch genauso aktuell und von denen ist die Union auch nicht abgerückt, aber es fallen auch Sätze wie "Stärkere Nutzung des heimischen Energieträgers Kohle", "Jede Tonne Kohle ist wertvoll", "missverstandene Emanzipation", "Die Stellung der Hausfrau und Mutter ist derjenigen der erwerbstätigen Frau gleichgestellt", "die einseitige Heraushebung der akademischen Bildung." Sowas findest du auch in der CDU "Ende der 90er" kaum noch, weil es sich bis dahin einfach erledigt hatte, damit zu werben. Die Union war bis vor ein paar Jahren zwar nie reaktionär, aber doch immer auch ein Bremsklotz bezüglich des gesellschaftlichen Wandels. Aber die Positionen, die man nicht durchhalten konnte oder wollte (weil sie unpopulär waren oder sich als nicht tragbar herausgestellt hatten), hat man irgendwann abgeräumt.
- Gleichzeitig verengst du "konservativ" auf genau die Themen, die die CDU abgeräumt hat, ohne zu sehen, dass Deutschland sich seit Ende der 90er wirtschaftlich deutlich verändert hat. Obwohl die Ungleichheit seit Mitte der 90er deutlich gewachsen und auch im Aufschwung nicht zurückgegangen ist, sind viele der Regelungen der Wirtschaftspolitik (häufig schon von Rot-Grün durchgesetzt), welche deutlich liberaler sind als noch zu Kohls Zeiten, nie zurückgenommen worden, obwohl die SPD das mittlerweile längst getan hätte, hätte man sie gelassen. Das ist eindeutig der Union zuzurechnen, wird aber so gut wie nie als konservativ honoriert.
- Bis auf die Flüchtlingskrise*, die tatsächlich ein drastischer Bruch mit der bisherigen Politiklinie der CDU war, sind alle diese Themen zweitrangig bis belanglos und hauptsächlich deshalb "konservativ", weil die Linken gegen sie sind, nicht weil sie inhärent viel mit konservativem Denken zu tun haben. Das kann man alleine daran gut sehen, dass in anderen, mit Deutschland gut vergleichbaren Ländern Konservative diese Probleme deutlich weniger stark als "konservativ" sehen, obwohl die zugrunde liegende Policy-Problematik nahezu identisch ist.
- Bis auf EU-Haftung✝ und Flüchtlinge geht keins dieser Themen groß über Symbolik hinaus: Der Mindestlohn war kein "Jobkiller", die Zukunft der Energieversorgung liegt (aus wirtschaftlich alleine hinreichenden Gründen) garantiert nicht in neuen Atomkraftwerken, das Land braucht die Wehrpflicht eindeutig nicht mehr und (auch wenn du es nicht genannt hast, aber weil es oft genannt wird nehme ich es dazu) die "Homoehe" schadet letztendlich niemandem und in einer Generation wird sie so normal sein wie der Gedanke, dass Vergewaltigung auch in der Ehe genauso wie außer der Ehe strafbar sein sollte, was die Union selbst in den späten 90ern (wenn auch widerwillig) konzedieren musste.
Ergo: Das politische Spektrum ändert sich. Hat es sich immer, wird es auch weiterhin. 20 Jahre sind nun mal eine lange Zeit und in 20 Jahren wird die Politik gesellschaftspolitisch liberaler sein als heute, genau wie sie heute liberaler ist als sie es vor 20 Jahren war. Das ist einfach der Lauf der Dinge. Merkels Union stand 2017 trotz Parteienzersplitterung und direkter Konkurrenz durch die AfD kaum schlechter da als zu ihrem Amtsantritt. Hätte sich Merkel bei manchen Themen nicht bewegt, wäre das vermutlich nicht der Fall gewesen (asymmetrische Demobilisierung etc.).
Im Grunde holt die Union mit gewissen Reibungsverlusten das Maximum für Leute wie dich raus: Bewegt sich nur so weit sie muss und bleibt so populär, dass sie immer an der Macht bleibt und dadurch ein Veto gegen das hat, was ihre Anhänger als "zu schnellen Fortschritt" sehen. Keiner weiß was 2023 sein wird, aber momentan sieht alles danach aus, als würde die Union auch dann noch den Kanzler (oder die Kanzlerin) stellen und dann wird es vier weitere Jahre nur so schnell gehen, wie die Union will, während die CDU unter Kohl nach einer vergleichbaren Zeit in die Opposition musste.
Was ich mich bei solchen Argumentationen wie deiner übrigens frage: Ihr könnt doch nicht wirklich glauben, dass die Welt aufhört sich zu drehen oder sich irgendwann einfach rückwärts dreht, oder? Wenn die Union sich nicht ändert verliert sie zwangsläufig in der Mitte. Vergleich mal die Ergebnisse der Union bei den Bundestagswahlen in Deutschlands Großstädten mit denen der Kommunalwahlen und du wirst feststellen, dass die Union sehr viel besser abschneidet als man vermuten würde.
*und da kann man dezidiert nicht einfach "Begrenzung der Zuwanderung" sagen, wie du es tust, denn ungefähr die Hälfte der "Zuwanderung" sind Leute, die über die Personenfreizügigkeit der EU kommen, die auch die damalige CDU immer unterstützt hat
✝und zur EU-Haftung nur mal Folgendes: Es ist das eine, zu sagen dass man das nie so machen würde, solange es nicht nötig ist, es ist eine ganz andere Sache, sich so zu entscheiden wenn man völlig unwägbaren Risiken gegenübersteht. Ich will nicht ausschließen, dass man mit gutem Grund ideologisch gegen die EU-Haftung sein kann, aber dass man sich mit der Pistole auf der Brust tatsächlich gegen sie entschieden hätte, wenn die Union von 2010 noch die Union von 1997 gewesen wäre, daran habe ich EXTREME Zweifel.