Schlemil: Ne, das ist albern. Hab mich schon bei der BuLi Eröffnung vor Fremdscham nicht eingekriegt. Hymne und Pathos zu jedem noch so kleinen Anlass ist mE absolut nicht "Deutsch", sondern lächerlich. Ich hiss doch auch keine Deutschlandflagge bevor ich mal ordentlich kacken gehe.
BabaUTZ: jo, so isses halt.
Mackia: Dann lass mal hören was die sachlichen Gründe sind und was Du mit "dieser Politik" genau meinst. Gerne darfst Du auch begründen warum das Gelaber von "Angst" falsch ist. Dass eine gewisse Angst vor Überfremdung und Identitätsverlust eine Rolle spielt scheint bei dem Namen "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" durchaus kein allzu großer Sprung zu sein. Ebenso kannst Du gerne begründen was dann sonst noch für das Wählen der AfD spricht, wenn schon nicht genau das Ebengenannte.
Gustavo: Nein, da stimme ich Dir nur sehr eingeschränkt zu. Ich lebe in einem Viertel in dem ethnisch Deutsche eher eine Gruppe von vielen sind, und ich kann Dir sagen ich wohne nicht in einem Viertel in dem hauptsächlich Akademiker wohnen. Mein Erleben ist, dass diese unterdrückte Wut vieler Bestandsdeutschen vor allem daher kommt, dass Sie das Gefühl haben, dass Sie sich nicht offen gegen Unverschämtheiten wehren können ohne sich zum Nazi-Pariah machen lassen zu müssen. (Oder alternativ mit Gewalt rechnen müssen.) Das sind so simple Sachen wie der Bentley vom Drogenlibanesen der einfach quer auf der Straße oder auf dem Gehweg steht aber kein Knöllchen bekommt. Das passiert immer wieder und führt dazu, dass der echte Durchschnittsmalocher einfach einen Hals bekommt wenn er Leute sieht die wie Naher/Mittlerer Osten aussehen. Nicht weil er fremdenfeindlich ist, sondern weil er/sie im täglichen Leben erlebt, dass sich eine laute Minderheit dieser Menschen benimmt wie Hulle, und dass genau nichts passiert. Dummerweise ergänzt sich das perfekt mit dem "typischen Wesen des Deutschen" der ein eher passiv aggressives Tierchen ist. Kaum einer dieser Menschen ist wirklich fremdenfeindlich im Nazi-Sinne, aber einer absoluten Mehrheit bis hinein in die Gruppen der Grünenwähler wäre es lieber wenn die Menschen die den gefühlten Wertekonsens offen ablehnen lieber heute als morgen vor die Tür gesetzt würden.
Vieles ist auch deswegen zynisch, weil es sich leicht sagen lässt wie das "repräsentative" Deutschland aussieht, wenn man in einem Szeneviertel in Leipzig oder Berlin wohnt, in dem eben keine ungebildeten Migranten oder andersfarbigen Deutschen leben. Ich bin über die Jahre häufig umgezogen und würde für mich in Anspruch nehmen einen guten Eindruck zu haben was es so gibt––inklusive der vollbesetzten Straßenbahn im Berufsverkehr in der man kein Deutsch hört. Das sind teilweise Viertel in denen die AfD recht gut abgeschnitten hat. Nicht so gut wie in Sachsen, aber über dem Bundesdurchschnitt.
Und nein, ich glaube nicht, dass eine Mehrheit ein ethnisch reines Deutschland anstrebt. Ich glaube auch nicht, dass man es irgendwem implizit zugesteht indem man ihre Ängste ersteinmal ernst nimmt. Identität und Kultur hat nichts mit Hautfarbe zu tun, und das wissen auch die meisten. Wenn aber von n-1 Parteien ein Diskurs über einen common ground vermieden wird und lieber whataboutism betrieben wird (Verteilungsdiskussionen, Rente, bla blub), dann ist es für die eine Partei die Identität zu ihrem einzigen Thema gemacht hat natürlich easy diejenigen abzugreifen für die das so wichtig ist, dass ihnen der ganze andere Quatsch im AfD Programm egal ist. Die Menge dieser Menschen scheint seit ~2013 von unter 5% auf 16% gewachsen zu sein, und ich denke das wäre vermeidbar gewesen.
Die Tatsache, dass ich seit Jugendzeiten zigfach gehört habe "Deutschland muss sterben. Auf sein Land kann man nicht stolz sein. (…)" von allen Seiten. Von den Konservativen kam vielleicht noch ein verdruckstes "Wir sind auf das Grundgesetz und die Wirtschaft und den Erfindergeist und vielleicht noch Goethe stolz" … aber das war's dann. Diese Tatsache bringt mich zu der Vermutung, dass der Mangel an Wertedebatte und gesellschaftlichem Common Ground von der Nachkriegszeit bis heute eine Art Versailles-Effekt auf einen relevanten Anteil der Bevölkerung hatte, was uns, wenn uns als Gesellschaft nicht mehr einfällt als nochmal 3 Jahre Gegendemos und Empörung über "die Nazis in <hier Stadt einfügen>", eine nationalistisch-rechtsradikale Partei mit vielleicht bis zu einem Drittel der BT-Sitze oder sogar mehr ins Haus steht. Und da hat man dann noch nicht mal berücksichtigt was der Flurschaden sein wird. Die AfD vertritt in der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialpolitik insgesamt rückwärtsgewandte und für die Integrität dieses Landes tatsächlich gefährliche Positionen. Da ist der angestrebte Euroaustritt fast noch das harmloseste.
Den Anteil der Großen Koalition in dem ganzen Problemkomplex sehe ich übrigens nicht als kausal an, sondern eher als Katalysator. Die Probleme gibt es seit 50+ Jahren, sie wurden nur stets von anderen Dingen überdeckt. Kalter Krieg, Wende, Agenda 2010, 9/11, Finanzkrise. Jetzt geht es uns gerade halt konjunkturell/ökonomisch seit ca. zehn Jahren extrem gut und es ist sonst nichts großes passiert, zusätzlich ist das Thema auch in anderen Ländern en vogue und es gibt keine anderen Themen die großartig ablenken.
Zsfg.: Was kann denn ein Grund sein die AfD zu wählen wenn nicht wegen der Überfremdungsangst? Egal ob man konservativ oder liberal oder whatever ist, man kann immer entweder CDU/CSU oder FDP wählen und bekommt grundlegend ähnliche Positionen die aber deutlich besser durchdacht sind und quasi immer mit Mandatsträgern/Kandidaten daherkommen die nicht aus dem Pool der früheren hinteren Plätze der NPD/REP-Listen kommen.