Herr Dr. Çelik, in Thüringen, Sachsen und Brandenburg hat die AfD bei den Landtagswahlen gerade jeweils rund 30 Prozent der Stimmen geholt. Wie oft bekommen Sie als Oberarzt am Klinikum Darmstadt Jobangebote aus ostdeutschen Bundesländern?
Oft. In diesem Jahr waren es sechs. Fachärzte sind überall gefragt und können sich den Arbeitsort aussuchen. Ich persönlich möchte nicht in einer Umgebung leben und arbeiten, in der viele Menschen rechtsextrem wählen und Deutsche wie mich als „Passdeutsche“ betrachten, die nur aufgrund ihrer Qualifikation geduldet werden. Das reicht mir nicht. Ich weiß, dass die Mehrheit im Osten nicht so denkt und sich viele Menschen dagegenstemmen. Trotzdem ist es für mich mit den jüngsten Wahlergebnissen unvorstellbar geworden, in einem ostdeutschen Bundesland zu wohnen oder zu arbeiten.
Dabei werden dort dringend Ärzte gebraucht: In Görlitz in Sachsen hat kürzlich eine neue Hausarztpraxis aufgemacht. Von nachts um 4.45 Uhr an standen Leute an, am Morgen war die Schlange hundert Meter lang. Nur ein Bruchteil der Menschen hat am Ende einen dauerhaften Behandlungsplatz bekommen.
Im ländlichen Raum kommen viel mehr Menschen auf einen Arzt als in Großstädten, besonders benachteiligt sind die ostdeutschen Flächenländer. Zur Landflucht kommt auch die Abwanderung junger, qualifizierter Menschen in den Westen. Das Beispiel in Görlitz zeigt, wie sehr das Gesundheitssystem im Osten davon betroffen ist. In Kliniken wird diese Personallücke mit ausländischen Ärzten gefüllt. In Brandenburg sind 28 Prozent der Klinikärzte aus dem Ausland, bei einem Ausländeranteil in der Bevölkerung von 7,5 Prozent.
Möchten ausländische Ärzte denn unbedingt in diese Regionen?
Nein, sie bekommen in Westdeutschland oder in Großstädten einfach viel schwerer einen Job, weil ihnen Sprachkenntnisse und Erfahrung fehlen. In Hamburg liegt der Ausländeranteil bei 20 Prozent, aber nur rund sieben Prozent der Klinikärzte sind Ausländer. Großstädte sind bei deutschen Ärzten beliebt, der Arbeitsmarkt ist umkämpft. In
Ostdeutschland hat man mit der Approbation schon gute Jobchancen. Oft beginnen ausländische Ärzte im Osten, verbessern ihre Sprachkenntnisse, sammeln medizinische Erfahrung und bewerben sich dann im Westen. Der Wettbewerbsnachteil ostdeutscher Bundesländer bei Fachkräften wird sich nach den Wahlen verschärfen.
Müsste man als Arzt nicht sagen: Ich will Menschen helfen, egal welche Partei sie wählen?
Das muss man unbedingt sagen, und das steht auch nicht zur Debatte. Ich habe Patienten mit Hakenkreuztattoos, Querdenker-Aktivisten mit Covid und auch einen führenden AfD-Politiker behandelt. Das macht keinen Unterschied für die ärztliche Zuwendung. Nach dem Genfer Gelöbnis behandeln wir alle unsere Patienten gleich, unabhängig von Ethnie, Religion, politischer Überzeugung oder krimineller Vorgeschichte, denn jedes Leben hat den gleichen Wert. Hier geht es aber um die andere Richtung. Sehen mich meine Mitmenschen als gleichwertigen Mitbürger, oder dulden sie mich, solange ich nützlich bin? Ich kann mir glücklicherweise aussuchen, wo ich lebe und arbeite, und ich ziehe eine weltoffene Gesellschaft vor.
Kritiker der Migrationspolitik unterscheiden oft zwischen Fachkräften, die in Deutschland willkommen seien, und Flüchtlingen, die das für sie eher nicht sind. Ist es nicht beruhigend, wenn man auf der Seite der Fachkräfte ist?
Es ist völlig legitim, eine restriktivere und differenzierte Migrationspolitik zu fordern. Dafür muss man aber nicht rechtsextrem wählen. Die Grenze ist bei offenem Rassismus erreicht; ab diesem Punkt wird dieses Argument zur vorgeschobenen Schutzbehauptung. Denn nach Dienstschluss sehen alle Menschen gleich aus für jene, die ihnen allein aufgrund ihrer Abstammung unterschiedlichen Wert beimessen. Gerade die rechtsextremen Verbände der AfD in Ostdeutschland machen keinen Hehl aus ihrer Haltung, es werden offen millionenfache Abschiebungen besungen. Ich habe mich zuletzt viel zu diesem Thema öffentlich geäußert, und da gab es tausendfach Kommentare, die auch mich gerne abschieben wollen. Ich wehre mich gegen diese Diskursverschiebung. Es ist eine Anmaßung, dass einige sich erlauben, mir quasi zuzugestehen, ich könne ja als Fachkraft hierbleiben. Das offenbart auch, dass sie Deutsche mit Migrationsgeschichte als Bürger zweiter Klasse ansehen. Ich bin hier geboren und aufgewachsen und muss niemanden bitten, hierbleiben zu dürfen.
Macht Ihnen das auch Angst?
Selbstverständlich. Ich habe Sorge um unsere offene Gesellschaft, denn mittlerweile sind unsagbar menschenfeindliche Dinge sagbar geworden. Meine Sorge führt dazu, dass ich öffentlich darüber spreche. Wenn der Anführer der Identitären Bewegung, der gut mit Neonazigruppen vernetzt ist, auf der Plattform X mit meiner Abschiebung kokettiert, zeigt das deutlich die Lage. Doch im realen Leben erhalte ich viel Zuspruch.
Auch von anderen Ärzten?
Ja. Rechtsextremistisches, rassistisches, völkisches Gedankengut ist nicht vereinbar mit dem ärztlichen Beruf. In der AfD gibt es prägende Figuren, die biologistisch begründete Wertungen zwischen Menschen vornehmen, völkisch denken und den Nationalsozialismus verherrlichen. Zum Thema Menschenwürde und Diskriminierung können Ärzte nicht neutral sein. Das ist keine Parteipolitik. Ärztekammern und
Marburger Bund haben dazu eine deutliche Haltung und entsprechende Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Leider gibt es auch Ärzte, die in rechtsextremen Parteien aktiv sind, auch hier in Darmstadt. Dass ein Arzt in einer gesichert rechtsextremen Partei aktiv bleibt, ist für mich eine Schande für die Ärzteschaft. Das Wählerpotential für diese Parteien ist unter Ärzten laut einer vom Marburger Bund zitierten Studie erschreckend hoch. Wir müssen uns als Berufsstand klar dagegen positionieren, gerade angesichts der deutschen Geschichte und der Rolle der Medizin im Nationalsozialismus.
Warum führen die vielen ausländischen Ärzte in Ostdeutschland eigentlich nicht dazu, dass die Menschen ein positiveres Bild von Migranten bekommen?
Das würde ja voraussetzen, dass sie sich tatsächlich durch Erfahrungen im eigenen Leben radikalisieren. Aber mit der unmittelbaren Lebensrealität der Menschen hat das selten zu tun. Die AfD ist besonders dort erfolgreich, wo es wenige Migranten gibt. Trotzdem sehen viele Menschen die Migration als das größte Problem im Land. Dabei könnten wohl die wenigsten auf Nachfrage erklären, inwiefern die Migration ihr persönliches Leben schlechter macht. Gesundheitskrise und Lebenserhaltungskosten betreffen jeden, und trotzdem rangieren diese Sorgen weit hinter der Migration. Ich möchte die Probleme durch irreguläre Migration, Kriminalität und Islamismus nicht kleinreden. Wenn man sich nicht mehr sicher fühlt, ist auch das Gefühl ein Problem. Aber statistisch betrachtet ist Deutschland so sicher wie selten zuvor.
Sind Sie Mitglied einer Partei?
Ich bin mit 16 den Jusos beigetreten und seitdem SPD-Mitglied. Ich spreche hier aber als Arzt und nicht als Genosse.
Ein anderes Thema: Das Magazin „Stern“ hat kürzlich auf der Titelseite verkündet, „schockierende Missstände in Deutschlands berühmtester Klinik“, der Charité in Berlin, aufgedeckt zu haben. Sie haben auf X kommentiert, die beschriebenen Missstände seien nicht Charité-spezifisch, sondern in den meisten deutschen Kliniken ein Problem. Was meinten Sie da genau?
Ich habe den entsprechenden Bericht bei RTL gesehen und fand die Darstellung etwas effekthascherisch. Grobe Fehler und unglückliche Zustände wurden zu sehr durcheinandergeworfen. Wenn dort beispielsweise minutenlang gezeigt wird, wie Studenten im Praktischen Jahr versuchen, eine Naht zu lösen, wirkt das auf Außenstehende unglücklich. In einem Lehrkrankenhaus ist so etwas jedoch nicht unüblich. Viele gezeigte Missstände sind nicht auf die Charité beschränkt, sondern betreffen Kliniken in ganz Deutschland. Es gibt häufig nicht genug Ärzte auf chirurgischen Stationen, weil sie im OP stehen. Die Personalnot führt dazu, dass Ärzte oft an mehreren Orten gleichzeitig sein müssen und im Dienst allein für mehr als 100 Patienten zuständig sind. Das ist die Realität, die wir uns leisten. Am interessantesten fand ich die öffentliche Überraschung über die Lage; offenbar müssen wir noch offener auf Missstände hinweisen. Als jemand vom Fach konnte man über viele gezeigte Situationen eher nur müde lächeln, weil es leider Alltag in allen deutschen Kliniken ist. Die Aufmerksamkeit für das Thema begrüße ich aber ausdrücklich.
Kommen wir zum Schluss zur Lage in Ihrer Klinik. Wie ist die aktuell?
Die Atemwegserkrankungen sind seit Juli auf einem Plateau. Wir haben konstant Covid-Patienten, auch wenn es nicht sehr viele sind. Ungewöhnlich ist, dass das Patientenaufkommen ohne Auf und Ab so lange konstant bleibt. Eine weitere Besonderheit: Wir beobachten deutlich mehr Mykoplasmen-Pneumonien als in den vergangenen Jahren. Das sind atypische Lungenentzündungen, die vor allem jüngere Menschen betreffen. Der Verlauf ist eher einschleichend und zieht sich über Wochen, bis die Patienten bei uns landen. Der Anstieg könnte laut einer Studie mit abnehmender Herdenimmunität durch weniger Infektionen während der Pandemie zusammenhängen. Bei meinen Patienten trat es aber auch gehäuft kurz nach Covid-Infektionen auf. Das sind momentan Hypothesen. Einmal richtig erkannt, kann man das sehr gut antibiotisch behandeln. Abgesehen davon ist jetzt ein guter Zeitpunkt, Risikogruppen noch mal daran zu erinnern, die Covid- und Grippeschutzimpfungen aufzufrischen. Für ältere Menschen ist außerdem eine RSV-Impfung zu empfehlen, das zahlt die Kasse jetzt auch für über 75-Jährige und über 60-Jährige mit Risikofaktoren.